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Ein Reaktor für das Militär

Interview mit dem Atomexperten Célio Bermann über das brasilianische Atomprogramm und deutsche Hermesbürgschaften

Bislang gibt es in Brasilien zwei Atomkraftwerke, die Reaktoren Angra 1 und Angra 2, 150 Kilometer westlich der Metropole Rio de Janeiro am Atlantik gelegen. Der vom US-Unternehmen Westinghouse gelieferte Reaktor Angra 1 war wegen großer technischer Probleme nur wenige Wochen in Betrieb und liegt seit 1994 still, der von Siemens/KWU gelieferte Reaktor Angra 2 ist seit 1990 am Netz. Im 1975 abgeschlossenen Atomvertrag zwischen der brasilianischen Militärdiktatur und der sozialliberalen Bundesregierung war der Verkauf von zwei KWU-Reaktoren an Brasilien vereinbart worden – allerdings wurde der 1984 begonnene Bau von Angra 3 wegen der damaligen Schuldenprobleme Brasiliens und ökologischer Bedenken 1986 gestoppt. Nun möchte die Regierung Rousseff das AKW doch noch fertigbauen, und Siemens/KWU hat zur Absicherung des Geschäfts eine neue Hermesbürgschaft bei der Bundesregierung beantragt. Zu den Hintergründen des Sinneswandels der brasilianischen Regierung und zur Bedeutung einer Hermesbürgschaft bei der Realisierung des Baus befragte Felix Werdermann den brasilianischen Atomexperten Célio Bermann. Bermann ist Professor am Institut für Elektrotechnik und Energie an der Universität von São Paulo und forscht für den Nationalrat für wissenschaftliche und technologische Entwicklung (CNPq), der dem brasilianischen Wissenschaftsministerium unterstellt ist.

Felix Werdermann

Die deutsche Bundesregierung will auch nach dem Atomausstieg an der staatlichen Bürgschaft für einen AKW-Bau in Brasilien festhalten. Passt das zusammen, Herr Bermann?

 Paradoxerweise schon. Wir haben eine sehr merkwürdige Situation: In Deutschland gibt es eine Industrie, die Atomkraftwerke bauen kann; aber es fehlt der Markt dafür. Der heimische Markt wird deshalb durch andere Länder ersetzt...

 ... zum Beispiel Brasilien.

 Dazu muss man den geschichtlichen Hintergrund kennen: 1975 – während der Militärdiktatur – hat Brasilien ein Abkommen zur nuklearen Zusammenarbeit unterzeichnet. Es sieht vor, dass mit deutscher Hilfe acht neue Reaktoren gebaut werden – einer davon ist Angra 3.

Der Vertrag ist über 35 Jahre alt.

 Schon im Jahr 1984 wurde angefangen, Angra 3 zu bauen. Zwei Jahre später wurde der Bau aber schon wieder gestoppt, weil das Geld fehlte. Dann lag das Projekt 25 Jahre lang auf Eis. Während dieser Zeit wurden Baumaterialien einfach im Hafen von Rotterdam gelagert. Wir wissen nicht, in welchem Zustand sie jetzt sind, das ist ein großes Risiko.

Warum will die brasilianische Regierung dann an dem AKW-Projekt festhalten?

 Das Militär will einen neuen Reaktor, um als Atommacht auf internationaler Ebene mehr Gewicht zu haben. Das wird aber nicht offen ausgesprochen. Es gibt bereits ein Programm mit dem Ziel, einen Reaktor in einem U-Boot zu haben. Wenn ein Land aber ein Atomprogramm hat, ohne kommerzielle Reaktoren zu betreiben, kriegt das einen faden Beigeschmack. Deswegen ist es für die Regierung wichtig, die Atomkraft auch zivil zu nutzen. Die Welt soll den Eindruck haben, dass es um die Stromgewinnung geht. In Wirklichkeit ist das Ganze ein Theaterspiel.

Haben die Regierungspolitiker in Brasilien nicht aus der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima gelernt?

 Nein, sie haben die Probleme verharmlost und geleugnet. Der Wissenschaftsminister etwa hat drei Tage nach dem 11. März erklärt, es sei bloß ein Störfall gewesen, kein Unfall. Später wurde immer argumentiert, in Brasilien gebe es keine solchen Erdbeben und Tsunamis wie in Japan. In den Medien sind nur Atomlobbyisten zu Wort gekommen. Sie durften erklären, was dort passiert und wie Brasilien mit Unfällen umgehen würde. Für Kritiker – von Nichtregierungsorganisationen oder auch Akademiker – war in den Nachrichten kein Platz.

In der Region um das Atomkraftwerk Angra 3 kann es sehr wohl zu Erdbeben kommen – ist das ein Problem?

 Erdbeben sind nicht so ein großes Problem wie die Erdrutsche. Angra 3 ist von Bergen umgeben. Wenn es dort stark regnet, kann herabstürzendes Gestein gefährlich werden. Die geografische Lage erschwert außerdem die Evakuierung im Falle einer Katastrophe. Es gibt einen Plan für die Umgebung in einem Abstand von weniger als 15 Kilometern. Die Internationale Atomenergieorganisation IAEO fordert nun aber, die Evakuierungszone auf einen Radius von 30 Kilometern auszuweiten. Dann wäre auch die Stadt Angra mit 200 000 EinwohnerInnen betroffen. Ein solcher Plan existiert aber nicht. Zumindest wurde er noch nie getestet.

Wäre es denn möglich, 200 000 Menschen rechtzeitig zu evakuieren?

 Nein, das denke ich nicht. Es gibt nur eine Straße, die zu anderen Städten führt. Und diese Straße kann nicht verbreitert werden, weil sie genau zwischen den Bergen und dem Meer liegt.

 Wenn ein Evakuierungsplan fehlt – hat das Konsequenzen?

 Nach Medienberichten soll ein solcher Plan Bedingung für die deutsche Hermesbürgschaft sein. Aber ob es um eine 15- oder 30-Kilometerzone geht, ist unklar.

 Was passiert, wenn Deutschland die Hermesbürgschaft nicht vergibt?

 Das würde das Ende für Angra 3 bedeuten. Die brasilianische Regierung wird vielleicht weiterhin versuchen, das Projekt zu realisieren. Aber es wird sehr schwierig sein, andere Investoren zu finden. Schließlich wurde schon angefangen, das AKW zu bauen – ungefähr zehn Prozent sind bereits fertig – und nur die deutsche Industrie hat genau die Ausrüstung, die nötig ist, um die Anlage fertigzustellen.

 Wie teuer wird der AKW-Bau?

 Die Kosten werden derzeit auf 7,5 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Wenn man das auf die installierte Kapazität herunterrechnet, ist das fast doppelt so viel wie der Durchschnittswert bei anderen Kraftwerken. Anscheinend fehlt der deutschen Regierung diese Information. Bei diesen Kosten wird es sehr schwer sein, den Strom zu verkaufen und den Kredit zurückzuzahlen. Dann würden die deutschen Steuerzahler für die Kosten aufkommen.

 Wenn die Bundesregierung von der Bürgschaft abrückt, verschlechtert das die guten Beziehungen zwischen Deutschland und Brasilien?

 Ich denke, die brasilianische Regierung akzeptiert, wenn Deutschland aus der Atomkraft aussteigen will – gerade nach Fukushima.

 Aber es geht um die brasilianische Energiepolitik. Ist es in Ordnung, wenn die von Deutschland bestimmt wird? 

Das Bild stimmt nicht, wenn man sagt: Brasilien hat sich für Atomkraft entschieden und nun will Deutschland da reinreden. Schließlich geht auch die brasilianische Atompolitik auf das Abkommen von 1975 zurück. Zur Situation heute ist zu bedenken, dass die Mehrheit der Brasilianer gegen Atomkraft ist. Kurz nach Fuku­shima wurde eine Umfrage gemacht: 54 Prozent sind gegen die Nutzung von Atomkraft, um Strom herzustellen. Das Problem: Unsere Energiepolitik ist sehr autokratisch, es gibt keine öffentlichen Anhörungen, keine Debatte.

 Kann Deutschland nach der Grundsatzzusage von der Bürgschaft überhaupt noch abrücken?

 Ich denke, wenn die Erneuerbaren-Branche in Deutschland nach Bürgschaften fragt, kann die Bundesregierung eher sagen: Wir müssen auch auf verschiedene Anfragen reagieren und wir haben uns nun für eine andere Bürgschaft entschieden. Nur mit der Unterstützung der deutschen Industrie kann die Regierung eine andere Richtung vorgeben. Für die Industrie wäre es nützlicher und profitabler, wenn eine Kreditbürgschaft für erneuerbare Energien vergeben würde. Damit könnten genauso Arbeitsplätze gesichert werden und damit käme deutsche Technologie auf die Märkte der aufstrebenden Schwellenländer.

 Wie sieht es denn mit den erneuerbaren Energien in Brasilien aus? Reichen sie aus, um die Atomkraft zu ersetzen?

 Neue Reaktoren sind jedenfalls nicht nötig. Derzeit hat Atomkraft einen Anteil von 1,8 Prozent am brasilianischen Strommix. Das ist nicht viel. Wir haben andere Energiequellen wie Wasserkraft, die momentan über 70 Prozent der Elektrizitätsgewinnung ausmacht. Außerdem hat die Windkraft ein enormes Potential, es wird auf etwa 143 000 Megawatt geschätzt. Momentan beträgt die installierte Leistung nur 1000 Megawatt. Auch die Stromgewinnung durch Biomasse könnte ausgebaut werden. Uns fehlt aber die Technologie, um Pressrückstände vom Zuckerrohr effizient zu verbrennen. Hier könnte die deutsche Industrie helfen. Wir brauchen die Zusammenarbeit, aber nicht, um ein Atomkraftwerk zu Ende zu bauen.

Das Gespräch führte Felix Werdermann. Es ist zuerst am 27. September in der Onlineausgabe des „Freitag“ erschienen.