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Zwei Heimaten sind weniger als eine

Interview mit dem deutsch-argentinischen Schriftsteller Robert Schopflocher (*1923)

Wie der frühere US-Außenminister Henry Kissinger und die deutsch-südafrikanische Publizistin, Autorin und Anti-Apartheid-Kämpferin Ruth Weiß wurde Robert Schopflocher 1923 als Kind jüdischer Eltern in Fürth geboren. Und ebenso wie Kissinger und Weiß hat er den NS-Terror nur überlebt, weil seine Familie Deutschland rechtzeitig verlassen konnte. Die Schopflochers fanden in Argentinien Zuflucht, wo Robert Landwirtschaft studierte und später als Kaufmann tätig war. Doch seine Liebe galt immer der Kunst, zunächst der Malerei und Graphik, später der Literatur. Ab 1980 veröffentlichte er in Argentinien Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Während manche emigrierte AutorInnen irgendwann beginnen, nicht mehr in ihrer Muttersprache, sondern in der Sprache des Exillands zu schreiben, war es bei Roberto Schopflocher umgekehrt. Er verfasste seine ersten Bücher auf Spanisch und begann erst 1995, auf Deutsch zu schreiben. Gert Eisenbürger unterhielt sich mit ihm über sein Leben und Schreiben in zwei Sprachen und Welten.

Gert Eisenbürger

Herr Schopflocher, Sie wurden 1923 als Kind jüdischer Eltern in Fürth geboren. Wie hat die Machtübernahme der Nationalsozialisten Ihr Leben verändert?

Die Veränderungen erfolgten nicht schlagartig. Schon vor 1933 waren wir kleinen Buben den antisemitischen Nadelstichen ausgesetzt. Ich erinnere mich an Inschriften an Brückenbogen: „Deutschland erwache, Jude verkrache“ oder große Plakate, auf denen zu Naziveranstaltungen eingeladen wurde mit der Bemerkung: „Juden und Hunden Eintritt verboten.“ 1933 wurde ich gerade mit der Volksschule fertig und kam ins humanistische Gymnasium. Das musste ich allerdings schon wenige Monate später wegen des Arierparagraphen wieder verlassen: Jüdische Kinder, deren Eltern keine Frontsoldaten gewesen waren, wurden von der Schule gewiesen. Mein Vater hatte sich beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Argentinien befunden. Mein Großvater hatte ihn ins Ausland geschickt, um die spanische Sprache und das Land kennen zu lernen. Als mein Vater vom Kriegsausbruch in Europa hörte, wollte er das Vaterland retten. Er meldete sich beim deutschen Konsulat, um nach Deutschland zurückzukehren und Soldat zu werden. Er wurde aber von den Engländern gefangen genommen und kam in englische Kriegsgefangenschaft. Das nützte mir aber nichts: Weil er nicht an der Front war, musste ich die Schule verlassen.

Ich hatte das Glück, die vier Jahre bis zur Auswanderung 1937 in das Jüdische Landschulheim Herlingen bei Ulm zu kommen. Das war im nationalsozialistischen Deutschland eine Insel, wo wir jüdisches und allgemeines Bildungsgut in uns aufnahmen. Somit wurde ich den Anfeindungen weitgehend entzogen. Natürlich hörten wir die hysterischen Reden von Hitler. Wir wussten schon, was los war, auch wenn wir uns natürlich nicht vorstellen konnten, was nach der Reichspogromnacht alles geschehen würde.
1936 ging mein Vater wieder nach Argentinien, 1937 folgten ihm meine Mutter mit meinem jüngeren Bruder und mir. Mein Vater hatte dort eine Anstellung gefunden und konnte dadurch die Familie ernähren. In Buenos Aires besuchte ich noch eineinhalb Jahre die antifaschistische deutsche Pestalozzi-Schule. In die gingen später auch meine Söhne und gehen jetzt auch meine Enkel. Zu meinen Lehrern gehörte dort zum Beispiel der frühere sozialistische Reichstagsabgeordnete Dr. August Siemsen. Das heißt, uns wurde da ein gewisses Weltbild nahe gebracht.

Danach meinte allerdings mein Vater, ich müsste mich zum Landwirt ausbilden, weil er der Ansicht war, dass die Zukunft Argentiniens in der Landwirtschaft läge. Wobei er allerdings leider übersah, dass er nicht das notwendige Kleingeld hatte, um seinem Sohn später ein Gut zu kaufen. Ich war zunächst ein Jahr Eleve in einer Obstplantage in Nordpatagonien, wo ich nicht sehr glücklich war. Danach kam ich nach Córdoba im Zentrum Argentiniens und studierte vier Jahre Landwirtschaft. Als ich mein Studium abgeschlossen hatte, wurde ich Agronom und später Verwalter jüdischer Agrarsiedlungen, die Baron Hirsch im 19. Jahrhundert in Argentinien gegründet hatte, um russische Juden der Knute des Zaren zu entreißen und ihnen in Übersee in einem demokratischen Land eine gesunde Lebensbasis zu geben. Diese Siedlungen der Jewish Colonisation Association gab es in mehreren Provinzen. Ich kam nach Entre Ríos. Ich habe dort sehr viel gelernt, nicht nur in landwirtschaftlicher Hinsicht, sondern ich kam erstmals mit dem in Kontakt, was meine Eltern etwas abschätzig als Ostjudentum bezeichneten. Ich lernte sehr warmherzige und sehr gebildete Menschen kennen, die mich mein ganzes weiteres Leben begleiteten und vor allem in dem Buch „Wie Reb Froike die Welt rettete“ zum Ausdruck kommen. Überhaupt spiegeln sich meine ganzen Lebensstationen in meinen Romanen und Erzählungen.

Als 1951 unser erster Sohn geboren wurde, hatte das Landleben für uns ein Ende, und wir zogen nach Buenos Aires. Mein Vater war dort als Importkaufmann tätig. Ich trat in sein Geschäft ein und übernahm nach seinem Tod die Leitung, bis ich es wiederum meinem Sohn übergab. Ich musste meine kaufmännische Tätigkeit ausüben, weil wir ja von irgendetwas leben mussten, aber großen Spaß hat es mir nicht gemacht. Nebenbei widmete ich mich der Kunst: Ich malte und vor allem machte ich Holzschnitte, die auch auf größeren Ausstellungen gezeigt wurden. Zu schreiben begann ich erst relativ spät: 1980 veröffentlichte ich mein erstes spanischsprachiges Buch. Es enthielt zehn Erzählungen, illustriert von zehn Holzschnitten. Ohne dass ich mir das vorgenommen hätte, sah ich plötzlich, dass meine erste große Liebe, nämlich die Literatur, meine wirkliche Berufung war. Schlagartig legte ich das Schneideisen und den Pinsel beiseite und widmete mich ganz dem Schreiben.

Ich muss vorausschicken, dass ich Jahre zuvor, um etwas Geld zu verdienen, einen Haufen Fachbücher geschrieben hatte, unter anderem ein Buch über Hühnerzucht. Das wurde sogar ein Bestseller. Das wurde so gut verkauft – um die 50 000 Exemplare – dass es sogar die Hühner gelesen haben müssen. Ich wünschte meinen jetzigen Büchern einen ebensolchen Erfolg.

Zum belletristischen Schreiben kam ich erst 1980. Inzwischen habe ich in Argentinien auf Spanisch vier Bücher mit Erzählungen und zwei Romane veröffentlicht und ein Theaterstück geschrieben, das in Buenos Aires aufgeführt wurde. Erst 1995, also schon im fortgeschrittenen Alter, begann ich deutsch zu schreiben.

Was war der Anlass für diesen Sprachwechsel?

Als ich einige Erzählungen für eine deutsche Ausgabe übertrug – ich habe sie nicht übersetzt, sondern nacherzählt und mir die Freiheit genommen, manche Dinge wegzulassen und andere einzuflechten – spürte ich, dass sich unter der spanischen Schicht meine deutsche Muttersprache, die ich natürlich nie verlernt habe, regte. Ich fühle mich beim Schreiben im Deutschen dann doch wesentlich wohler als im Spanischen. Wenn ich spanisch schreibe, merkt man nicht, dass ich Ausländer bin. Ich habe sogar mehrere Preise für meine spanischsprachigen Erzählungen bekommen, zwei von der Schriftstellervereinigung und einmal sogar – worauf ich besonders stolz bin – den Dritten Literaturpreis der Stadt Buenos Aires, der nur alle zwei Jahre verliehen wird. Ich glaube, ich war der erste im Ausland geborene Autor, der ihn bekommen hat.

Aber trotzdem fühle ich mich im Deutschen irgendwie sicherer, auch wenn ich schon sehr lange nicht mehr im deutschsprachigen Raum lebe. Aber erstens haben wir zu Hause immer deutsch gesprochen, zweitens habe ich immer deutsche Bücher gelesen, drittens führe ich deutsche Korrespondenz, und viertens waren wir immer wieder in Deutschland und haben dort viele Freundschaften, Verwandte und Beziehungen. Es gibt allerdings die Einschränkung, dass sich das Deutsch in Deutschland anders weiterentwickelt hat als das Deutsch, das wir in Argentinien sprechen. Es geht nicht um neue Wörter, dass man heute in der Umgangssprache Wörter wie „geil“ oder „cool“ benutzt, das kann man erlernen. Aber es gibt schon Probleme des Niveaus. Wenn Sie heute Ihre Frau als Gattin oder Gemahlin bezeichnen, werden Sie belächelt, Thomas Mann konnte sich das noch leisten. Dafür gibt es aber das Lektorat, da werden diese Dinge ausgeglichen.

Sie erwähnten eben, die deutschen Übertragungen der Erzählungen, die Sie zunächst auf Spanisch geschrieben hatten, seien keine Übersetzungen, sondern eher Nacherzählungen. Der deutsch und elsässisch schreibende Straßburger Schriftsteller André Weckmann schrieb einmal, wenn er eine seiner Erzählungen oder einen seiner Romane ins Französische übertrage, würden das ganz andere Texte. Die Geschichten seien zwar die gleichen, aber er würde sie einem deutsch lesenden Publikum anders erzählen als einem französisch lesenden. Was erzählen Sie deutschen LeserInnen anders als argentinischen?

Sehr oft sind die Gedankenassoziationen verschieden. Wenn ich einem deutschen Publikum das Landschaftsbild der Pampa oder des Urwalds im Norden Argentiniens nahe bringen will, muss ich schon etwas tiefer greifen als beim argentinischen. Die Argentinier, selbst wenn sie in der Stadt leben, wissen, wovon ich spreche, wenn ich von einem einsamen Ombú (Baumart) in der Pampa rede. Das Gleiche, wenn das politische Geschehen in meine Geschichte einfließt, da muss ich das deutschen Lesern anders darstellen als argentinischen. Das zum einen. Zum anderen gibt es natürlich die Zeitspanne und meine eigene Evolution zwischen der spanischen Urfassung und der deutschen Nacherzählung. Da sind mitunter zehn oder fünfzehn Jahre vergangen. Natürlich habe ich mich in dieser Zeit verändert. Wenn ich meine älteren Texte dann lese, finde ich manchmal Sätze oder Absätze, die den Lauf der Erzählung eher aufhalten, die werfe ich dann mitleidlos 'raus. Es gibt also verschiedene Gründe, die mich dazu bringen, die deutsche Nacherzählung anders zu gestalten als die ursprüngliche spanischsprachige Version.

Wie ist es Ihnen gelungen, deutsche Verlage für Ihre Bücher zu finden? Das ist ja für viele AutorInnen sehr schwierig. Haben Sie das von Argentinien aus gemacht, oder haben Sie in Deutschland Leute, die die notwendigen Kontakte haben?

Das waren teilweise glückliche Zufälle. Ich bin hier befreundet mit Siegfried Lenz, über den ich vor vielen Jahren geschrieben hatte, als ich in Argentinien mehrere Artikel zur deutschen Literatur veröffentlicht hatte. Als ich später mal nach Hamburg kam, besuchte ich ihn, und aus diesem Gespräch entwickelte sich eine wirkliche Freundschaft. Immer wenn wir nach Deutschland kommen, besuchen wir ihn und seine Frau, rufen uns gelegentlich an. Er half mir dann ein bisschen, und daraus entwickelte sich eine Kette, bis ich zum Wallstein-Verlag kam. Dann wurde ich sozusagen von Suhrkamp „entdeckt“, ohne dass ich da selbst etwas dazu getan hätte.

Ich beschäftige mich schon seit längerem mit der Literatur von nach Lateinamerika emigrierten deutschen und österreichischen AutorInnen. Die meisten der in der Emigration entstandenen Texte stehen in der Tradition der engagierten deutschsprachigen Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre, auch wenn sie häufig südamerikanische Themen aufgreifen. Bei Ihren Erzählungen habe ich den Eindruck, dass sie auch stilistisch sehr viel lateinamerikanischer sind, teilweise – besonders was Ihren Humor angeht – auch von der jiddischsprachigen Literatur Osteuropas geprägt sind. Sehen Sie sich selber eher als deutschen oder als argentinischen Autor?

Ich sage immer, dass ich zwei Heimaten habe, die so genannte Wahlheimat – obwohl die Wahl nicht so ganz frei war – und die Kindheitsheimat, wo eben mein Kinderwagen rollte. Dass zwei Heimaten weniger als eine sind, empfinde ich manchmal schmerzlich, weil ich mich zwischen zwei Stühlen sehe. Die Argentinier halten mich für einen alemán cuadrado, für fürchterlich deutsch, während die Deutschen immer meinen, ich sei ein Südamerikaner. Von der literarischen Warte aus betrachtet empfinde ich mich eher als einen deutschen Schriftsteller mit lateinamerikanischer Erfahrung. Ich wuchs mit der deutschen Literatur auf, habe in meiner Jugend viele Klassiker gelesen, da blieb sicher einiges haften.

Haben Sie, als Sie begannen, Ihre literarischen Texte auf Deutsch zu verfassen, aufgehört, auf Spanisch zu schreiben?

Literatur schreibe ich nicht mehr auf Spanisch, ich verfasse gelegentlich einen Artikel oder einen Essay für argentinische Zeitungen. Ich empfinde mich inzwischen wirklich als deutschen Schriftsteller. Deswegen sind mir auch Lesungen hier sehr wichtig, um mit dem deutschen Publikum in Kontakt zu treten. Die Leute reagieren ja und fragen nach. Wenn man schon 12 000 Kilometer entfernt in einer anderen Sprachheimat lebt, benötigt man diesen Kontakt.

Sie stammen aus Fürth. Da gab es aus Ihrer Generation zwei jüdische Flüchtlinge, die international sehr bekannt wurden, Henry Kissinger und Ruth Weiß. Kennen Sie die aus Ihrer Zeit in Fürth?

Sie sind beide mein Jahrgang. Wir sind uns aber nicht begegnet, wir müssen immer aneinander vorbeigesegelt sein. Kissinger ging sogar in meine Schule, aber wenn er nicht von Heinz Kissinger zu Henry Kissinger avanciert wäre, hätte ich wahrscheinlich nie von ihm Notiz genommen. Ich weiß heute, wer er ist, ich bezweifle aber, dass er weiß, wer ich bin (lacht). Mit Ruth Weiß habe ich korrespondiert, die weiß, wer ich bin. Ich habe auch ein Buch von ihr besprochen, das mir sehr gefallen hat

Das Gespräch führte Gert Eisenbürger im Sommer 2003.