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Dem Unsagbaren Form geben

Alicia Kozameh (*1953) verbindet experimentelle Formen und politisches Engagement
Erna Pfeiffer

Wer schon mal versucht hat, unter Wasser zu gehen, weiß, dass ein Fortkommen schwierig und lähmend ist – ein Alptraum. Wer aber versucht, unter Wasser Luft zu holen, braucht ein Sauerstoffgerät oder zumindest einen Schnorchel. Literatur ist für die argentinische Exilautorin Alicia Kozameh (*1953) so ein Gerät, mit dem sie es zuwege bringt, auch unter schwierigsten Bedingungen sich selbst oder anderen Luft zu verschaffen, um nicht zu ersticken. Oder, um eine andere körperbetonte Metapher zu gebrauchen: Unverdauliches schreibend zu verarbeiten, statt es schreiend herauszukotzen. Dem Unsagbaren Form zu geben, diese Trans-Formation ist Kozamehs Markenzeichen. Wenn sie auch gekonnt mit Worten Ping-Pong spielt, so ist dies doch niemals Selbstzweck, sondern jeder Schlag sitzt, wenn es auch manchmal ein Schlag ins Gesicht (der Täter) ist. Sie spielt sich frei, indem sie dichterisch Trauerarbeit leistet, individuelle wie kollektive Traumata verarbeitet. Sei es die Erfahrung als politische Gefangene der argentinischen Militärdiktatur (ein Hauptthema in Kozamehs Romanen wie Erzählungen), sei es die autobiographisch geprägte und prägende Geschichte einer symbiotischen Beziehung zur behinderten, spastisch gelähmten Schwester.

Um die früh Verstorbene symbolisch wieder zu erwecken, entstand 1989 der Roman „Straußenbeine“, der kurioserweise zuerst in deutscher Übersetzung erschien, bevor schließlich 2003 die spanische Fassung in Argentinien herauskam. Das Verschüttete/Verdrängte der frühen Kindheit aus sich herauszubekommen, war nicht leicht, nahezu unmöglich, und so griff die Autorin zu einem unkonventionellen Mittel: In Hypnose-Sitzungen konnte sie sich Zugang zu frühkindlichen Erinnerungen verschaffen, gegen die sie sich auf bewusster Ebene gesperrt hatte, die ihr aber wichtig waren, um nicht ihrer neugeborenen Tochter gegenüber vom Wiederholungsdrang geplagt zu werden und sie wie eine „Behinderte“ überzubehüten. Das ständige Hin und Her zwischen Erinnerung und Vergessen, Damals und Heute, spiegelt sich auch in der sprachlichen und literarischen Struktur dieses ungewöhnlichen Romans. Aus drei unterschiedlichen Perspektiven wird aufgerollt, was eigentlich jenseits des Zugänglichen lag: eine kindliche Ich-Erzählerin, die zunächst auch denkt/spricht wie ein Kind, jedoch im Laufe des Textes zur Erwachsenen heranreift; der männliche Spielgefährte Jorge, der einen relativ unzuverlässigen Spiegel in Du-Form abgibt, und der „defiziente Code“ der sprachlich und körperlich Behinderten Mariana, die zugleich auch eine allegorische Figur für das vom „marianischen Komplex“ in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkte Weibliche abgibt bzw. für das ausgebeutete, am wirtschaftlichen und politischen Fortkommen gehinderte argentinische Volk.

Denn unpolitisch geht es im Werk von Alicia Kozameh nirgends zu, auch wenn sie scheinbar mit Konzepten von Privatheit spielt, wie etwa im (bisher noch nicht ins Deutsche übersetzten) Roman Basse danse (Niedriger Tanz) über ein siamesisches Zwillingspaar, das buchstäblich ans Haus gefesselt und untrennbar aneinandergekettet lebt, obwohl es ganz unterschiedliche Interessen vertritt, der eine als homosexueller „Softie“ und Intellektueller, der andere als heterosexueller, aggressiver Selbstbehaupter und Egomane. Als „feindliche Brüder“ verkörpern beide in ihrer Hassliebe letztlich eine starke Metapher für die Gespaltenheit der Menschheit zur Jahrtausendwende.

Ebenfalls noch nicht ins Deutsche übersetzt sind der Gedichtband Mano en vuelo (Hand im Flug, 2009), der thematisch vom Irakkrieg inspiriert wurde, sowie das gattungsmäßig kaum einzuordnende 259 saltos, uno inmortal (2001/2006), zwischen Essay, Autobiographie und poetischer Prosa angesiedelt, ein – wie im Titel angedeutet – sprunghaft angeordnetes Werk über das Exil, eine Art literarischer Salto „immortale“ in Erinnerung an diejenigen Compañeros, denen es im Gegensatz zu Alicia Kozameh nicht vergönnt war, real zu überleben, die aber symbolisch in ihrem Werk fortleben. Sprunghaftigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang sowohl das Nicht-Kontinuierliche formaler Textgestaltung als auch die Zerrissenheit des entwurzelten Menschen, in diesem speziellen Fall der aus ihrem gewohnten Umfeld, aus ihrem politisch-sozialen Kontext herausgerissenen Exilantin. Sind es Rösselsprünge, Akrobatenstücke, ein Hüpfspiel in der Manier von Rayuela1, mit denen Kozameh sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Los Angeles und Argentinien, Schweigen und Lachen hin- und her bewegt? Mit ihrem Landsmann Julio Cortázar, der die Himmel–und–Hölle–Technik in die Literatur gebracht hat, hat Kozameh sicherlich das Faible für experimentelle Verfahren und gleichzeitiges politisches Engagement gemeinsam. Denn ihre Texte sind keine zweckfrei-formalen Spielereien im leeren Raum postmoderner Beliebigkeit, sondern Form ist bei ihr stets an Inhalt, Aussage rückgebunden.

Besonders bekannt wurde Kozameh nicht nur in Argentinien, sondern auch in ihrem Exilland USA mit ihrem emblematischen Roman „Schritte unter Wasser“, der ihr allerdings auch (durchaus ernst gemeinte und ernst zu nehmende) Drohungen der Militärs in Argentinien eintrug, weswegen sie nach einem kurzen Rückkehrversuch 1988 ihr Land endgültig in Richtung Kalifornien verließ. In experimenteller Form von losen narrativen Fragmenten, Briefen und Dialogen, Texten, die auch als Einzelerzählungen bestehen könnten, mit wechselnder Perspektive (einmal in Ich-Form, einmal in dritter Person, einmal in direkter dialogischer Rede), in manchen Ausgaben auch mit Illustrationen, die eine dokumentarische Funktion nahelegen und somit den Fiktionalitätspakt mit den LeserInnen in Frage stellen, werden hier Erfahrungen weiblicher politischer Gefangener während der Zeit der argentinischen Militärdiktatur und die schwierige Rückkehr in ein „Leben danach“ aufgearbeitet: tastende „Schritte unter Wasser“, die ohne die Hilfe der Literatur wohl nicht zu bewältigen wären.

  • 1. Titel eines Romans von Julio Cortázar