Als die römischen Plebejer gegen die römischen Patrizier in den Streik traten, erzählte ihnen der Patrizier Agrippa, daß der patrizische Wanst die plebejischen Glieder des Staatskörpers mit Nahrung versehe. Agrippa blieb den Beweis dafür schuldig, wie jemand die Glieder eines Mannes mit Nahrung versieht, indem er den Wanst eines anderen füllt.“
Dieser Beweis steht immer noch aus. Aber das Märchen, das Menenius Agrippa 494 v.u.Z. dem Volk von Rom erzählte, das es satt hatte, seinen Herrschaften zu dienen, hat sich hartnäckig gehalten. „Standort Deutschland“ heißt seine aktuelle Version für den Teil der Welt, in dem wir leben.
Sie geht in etwa so: Weniger abhängig Beschäftigte sollen für weniger Geld mehr arbeiten, und mehr Arbeitslose sollen für weniger Einkommen mehr kaufen, damit weniger Firmen mehr Profite haben. Das soll dann für alle nützlich sein, weil ja bei allen ein „Mehr“ zu verzeichnen ist; obendrein soll es auch noch gerecht sein, schließlich gibt es ja auch bei allen ein „Weniger“!
Für die „3.Welt“ hat das Märchen meistens die Fassung des „Trickle-down-Effekts“. Danach muß der reiche Teil der Gesellschaft so sehr gemästet werden, daß er seinen Reichtum gar nicht mehr zusammenhalten kann, dann wird sein Überfluß nach unten fließen. Wie groß dieser Fluß sein muß, daß er ganz unten auch nur als Tropfen ankommt, darüber schweigen sich die MärchenerzählerInnen aus.
Ein Blick in die Wirklichkeit zeigt: Der Fluß fließt bergauf! Seit spätestens Anfang der 80er Jahre erleben wir eine gigantische Umverteilung von unten nach oben. Die armen Länder gerieten in die „Schuldenfalle“, in den Industrieländern spitzte sich die Staatsverschuldung zu, und in den sich selbst als sozialistisch begreifenden Ländern beschleunigte sich der ökonomische Zusammenbruch. Die VerliererInnen dieser Entwicklung werden obendrein auch noch verhöhnt, indem davon die Rede ist, daß Leistung sich wieder lohnen müsse.
So offenkundig der verlogene, ideologische Charakter dieser ganzen Veranstaltung auch ist, so schwer fällt gegenwärtig trotzdem die Kritik. Es scheint, als stehe der Kapitalismus als die einzig mögliche Entwicklung da: Die vorher schon geschwächte Linke ist seit dem Zusammenbruch Osteuropas weitgehend gelähmt, systemoppositionelle Strömungen sind fast bedeutungslos geworden, sozialdemokratische oder sozialistische Organisationen präsentieren sich als die besseren Interessenvertreterinnen der Wirtschaft, (ehemalige) Befreiungsbewegungen betonen ihre Verpflichtung auf die Marktwirtschaft.
Vor genau 30 Jahren sagte der damalige BRD-Wirtschaftsminister Kurt Schmücker: „Die Gesellschaftspolitik gibt kein Recht, etwas gutzuheißen, was wirtschaftspolitisch unvertretbar ist.“ Das war damals heiß umstritten; SPD, Gewerkschaften, große Teile der Kirchen, die unabhängige Linke sowieso, aber auch Teile der CDU sahen das ganz anders. Heute gilt ein solcher Satz als Allgemeinplatz wie der von der Kuh, die mensch nicht schlachten dürfe, solle sie denn gemolken werden.
Selbst wenn das so wäre: Was sollte jemand hindern, einen größeren Schluck von der Milch zu verlangen? Schon der Autor unseres Eingangszitats (ein gewisser Karl Marx in seiner Schrift „Lohn, Preis und Profit“ von 1865) fuhr seinerzeit fort: „Die Schüssel, woraus die Arbeiter („die Armen“ müßten wir heute sagen und dabei ganz besonders an die armen Frauen denken – d. Red.) essen, ist mit dem ganzen Produkt der nationalen („internationalen“ – d.Red) Arbeit gefüllt ... und ... wenn irgendetwas die Arbeiter hindert, mehr aus der Schüssel herauszuholen, ist es weder die Enge der Schüssel noch die Dürftigkeit ihres Inhalts ..., sondern einzig und allein die Kleinheit ihrer Löffel.“
Die augenblicklichen Kräfteverhältnisse lassen es unmöglich erscheinen, heute eine neue Schüssel zu erfinden oder eine ganz andere Art und Weise durchzusetzen, wie sie gefüllt wird. Aber die Verhältnisse sind geworden und nicht vom Himmel gefallen; sie können wieder verändert werden. Wir wollen mit dieser Ausgabe der ila und der damit beginnenden Serie zu ökonomischen Fragen dazu beitragen. Damit der Kapitalismus wieder kritisierbar wird und der Kampf um größere Löffel erfolgreich geführt werden kann!
P.S.: Die ila wird auch 1996 mit 10 Ausgaben erscheinen. Allerdings müssen wir die Abopreise um jeweils 10,- DM anheben (weitere Infos S. 64). Ab 1996 gelten folgende Preise:
– 70,- Normalabo
– 60,- ermäßigtes Abo (einkommensschwache Gruppen)
– 85,- Förderabo
– 85,- Institutionenabo
Das Einzelheft wird ab der nächsten Ausgabe (Februar ’96) 8,- DM kosten.