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Man hat die Bevölkerung von Cochabamba verraten

Bolivien 24 Jahre nach dem Wasserkrieg

Der sogenannte Wasserkrieg in Cochabamba im Jahr 2000 war ein Wendepunkt der Privatisierungspolitik und weltweites Fanal. Nach Jahren der Vorherrschaft neoliberaler Doktrinen gelang es sozialen Organisationen, die lokale Versorgung aus den Händen eines internationalen Konzerns in die kommunale Selbstverwaltung zurückzuholen. Doch die Probleme waren damit noch nicht gelöst. Eine Bilanz nach 24 Jahren.

Peter Strack

Am Nachmittag des 11. April 2000 sah man Zehntausende auf dem überfüllten Hauptplatz von Cochabamba erleichtert und begeistert die traditionelle Cueca tanzen. Gerade hatte Oscar Olivera, Sprecher der „Coordinadora del Agua“, des Bündnisses sozialer Organisationen gegen die Wasserprivatisierung, verkündet, dass die Regierung den Vertrag mit dem multinationalen Bechtelkonzern auflöst. Die Erschöpfung von Wochen des Ausnahmezustandes einer komplett blockierten Innenstadt in Cochabamba schien verflogen. Es hatte massive Polizeieinsätze, Barrikadenkämpfe und sogar einen Toten durch einen Scharfschützen des Militärs in Zivil gegeben, bis die Soldaten sich weigerten, ihre Kaserne zu verlassen. Sprecher des Protestes waren während Verhandlungen verhaftet worden, andere waren in den Untergrund gegangen. Selbst alte Frauen hatten trotz der von Tränengas und dem Geruch brennender Reifen getränkten Luft in den Straßenschluchten die Protestierenden mit Wasser versorgt. „Der Wasserkrieg hat die Geschichte unseres Landes verändert“, sagt Olivera, der frühere Gewerkschafter. „Wenn wir das Wasser nicht aus den Händen transnationaler Unternehmen für die Menschen zurückgewonnen hätten, hätten wir keinen Präsidenten wie Evo Morales und keine neue Verfassung bekommen. Die Menschen hätten auch nicht von unten gemeinsame eigene Ziele formuliert, die dann bis 2006 die Richtung vorgegeben haben, als Evo Morales zum Präsidenten gewählt wurde“, ist Olivera überzeugt. Es sei damals um mehr als nur das Wasser gegangen, um einen „Kampf für die Demokratie, die Beteiligung der Menschen an Entscheidungen, die für ihr Leben relevant sind“. Tatsächlich führte der Wasserkrieg zu einem grundlegenden sozialen Wandel in Bolivien. Zu der Geschichte gehörten aber auch die Mobilisierungen der indigenen Tieflandvölker für ihr Territorium seit den 1990er-Jahren oder der „Gaskrieg“ in El Alto im Jahre 2003.

Ein Abgeordneter informiert und die Bevölkerung organisiert sich

In die Öffentlichkeit gebracht hatte das Thema der Wasserversorgung von Cochabamba zunächst Gonzalo Maldonado Rojas. Der ist als Mitglied des Verbands der pensionierten Ingenieure von Cochabamba auch heute noch aktiv. Damals, 1999, war er Parlamentarier. Als in Cochabamba der Bau des Staudamms Misicuni auf der Tagesordnung stand, horchte er auf, denn Maldonado hatte schon seine Erfahrungen mit dem ineffizienten Wasserbetrieb SEMAPA gemacht: „1997 verfügte SEMAPA nur über 300 Liter Wasser pro Sekunde. Ich war selbst eine Zeitlang Direktor und habe mit fünf Bohrungen dafür gesorgt, dass wenigstens diese 300 zur Verfügung standen. Als dann der Vertrag mit Aguas de Tunari geschlossen wurde, habe ich mir die Unterlagen besorgt. Ich wollte wissen, ob die Probleme wirklich gelöst werden könnten.“ Zu Aguas de Tunari gehörten International Water, damals zu 50 Prozent in Händen der Bechtel Corporation, außerdem hatten George Soros und ICE Agua y Energía des Cochabambiner Bankiers Julio León Prado Anteile am Unternehmen. Hinzu kamen ein spanisches Unternehmen (Abengoa) und zwei Bauunternehmen aus La Paz. Doch das Finanzkonstrukt Aguas de Tunari war nicht geplant, um eigenes Kapital einzubringen. Laut Unterlagen sollten die nötigen Investitionen für die Erneuerung und Erweiterung des Leitungssystems mit Gebührenerhöhungen finanziert werden. „Aguas de Tunari sollte laut Vertrag auch alle Wasserquellen von Cochabamba kontrollieren, einschließlich die der Wasserkooperativen“, sagt Maldonado. Die Nachbarschafts­organisa­tionen, die mit eigenen Mitteln Brunnen gebohrt hatten, wurden hellhörig. Auch die Bewässerungsbauern fragten sich, warum sie künftig an ein ausländisches Unternehmen Abgaben zahlen sollten für Kanalsysteme, die sie selbst errichtet hatten. „Im März 2000 schlug ich eine Volksbefragung vor“, erinnert sich Maldonado. „Denn man zweifelte die Legitimität der Coordinadora an. Wir ließen 100 000 Stimmzettel drucken. 50 000 Stimmzettel wurden ausgefüllt. Von den Abstimmenden entschieden sich 99 Prozent gegen Aguas de Tunari und gegen die Erhöhung der Wassertarife. So haben wir Ende März der Regierung ein Ultimatum von zwei Wochen gestellt: Der Vertrag sollte geändert werden, Aguas de Tunari sollte sich zurückziehen Die Regierung lehnte ab. Die Stadt wurde eine Woche lang blockiert. Die Regierung drohte mit der Intervention des Militärs. Ich wollte verhandeln“, so Maldonado.

Der städtische Wasserbetrieb wurde wiederhergestellt – ein Fehler?

„Aber politisch war in der Coordinadora del Agua eigentlich alles schon organisiert. In den Büros der Fabrikarbeiter­gewerkschaft sah ich (den späteren Vizepräsidenten) Alvaro García Linera und einen Aktivisten aus San Francisco, Tom Cruise, der das Ganze schon ‚Guerra del Agua‘ (Wasserkrieg) getauft hatte. Es war die Geburtsstunde des Populismus, die Saat für die späteren Veränderungen. Der Bürgermeister brachte ein Dekret ein, mit dem SEMAPA wieder in städtische Verwaltung rückgeführt werden sollte. Es war ein Fehler der Coordinadora, dieses Dekret zu akzeptieren. Es hat sich gezeigt, dass es besser gewesen wäre, den Betrieb unabhängig von der Stadtverwaltung neu zu organisieren“, ist Maldonado überzeugt.

Denn auch SEMAPA habe die Gebühren in der Zwischenzeit um mehr als 50 Prozent erhöht, für Geringverbraucher*innen um 25 Prozent. „Dabei werden 57 Prozent des Wasserverbrauchs gar nicht in Rechnung gestellt. Denn mindestens 40 Prozent gehen in dem maroden Leitungsnetz verloren. Nur in einem Stadtteil von Cochabamba wurden die Leitungen erneuert. Und von den 80000 Anschlüssen funktionieren nur bei einem Viertel die Wasserzähler richtig. 8000 Anschlüsse haben überhaupt keinen Wasserzähler, und dazu kommen etwa 800 klandestine Anschlüsse“, so Maldonado, der die Ineffizienz des Wasserbetriebs dafür verantwortlich macht.

Fehlende Anschlüsse und marode Leitungen sind bis heute ein Problem

„In der Südzone von Cochabamba leben noch heute fünfköpfige Familien mit Zugang zu gerade einmal 40 Litern Wasser pro Tag. Und das kommt häufig noch mit Tankwagen. Die Familien müssen sich teilweise Wasser von Nachbarn leihen, um es ihnen später zurückzugeben. Und die Schulen von Cochabamba bekommen im Durchschnitt nur einen halben Liter pro Tag und Kind“, weiß Aktivist Oscar Olivera. Und Maldonado sagt: „Es ist schwer zu verstehen, warum auch im Zentrum in manchen Vierteln das Wasser nicht 24 Stunden am Tag fließt. Selbst Bewohner*innen von Hochhäusern kaufen Wasser zu, weil es nicht reicht. Da wird nicht richtig geplant. Mit 15 unterschiedlichen Bürgermeistern hat es an die 20 verschiedene Geschäftsführer von SEMAPA gegeben, die jeweils ihre eigenen Leute dort platziert haben. 400 Beschäftigte würden reichen, aber es sind 600.“ Darunter ist auch der inzwischen legendäre „Banderas“, der für eines der bekanntesten Bilder des Wasserkriegs sorgte: darauf ist er eine bolivianische Fahne schwenkend auf einer der Barrikaden zu sehen.

„Kein Wunder, dass Geld für Investitionen fehlt“, kritisiert Maldonado. So sei das Leitungsnetz kaum ausgebaut worden, obwohl die Bevölkerung in der Zwischenzeit von 450 000 auf über 800000 Personen angestiegen sei. „Heute hat ein geringerer Anteil der Bevölkerung Wasseranschluss als damals.“

Die fehlenden Anschlüsse scheinen derzeit ein größeres Problem zu sein als der Wassermangel, dem man damals in der wirtschaftsliberalen Logik mit der Bepreisung und damit einer Rationalisierung des Konsums begegnen wollte. Die andere Großmaßnahme war ein Staudammbau in Misicuni in den Bergen über Cochabamba. Der immerhin wurde, auch ohne Bechtel, von den regionalen und lokalen Behörden gebaut. „Von den 3000 Litern pro Sekunde bei der bisherigen ersten Ausbaustufe“, erklärt Maldonado, „sollten 1000 für Bewässerungslandwirtschaft und 2000 für Trinkwasser sein. 2014 haben wir von der damaligen Ministerin gefordert, die nötigen Zufuhrkanäle in die Stadt zu bauen.“ Doch von den vier damals von der Regierung versprochenen Kanälen sei bislang erst einer fertig, nämlich der in die Südstadt von Cochabamba, zwei seien noch gar nicht begonnen. So fließen derzeit zwar 2000 Liter Wasser von Misicuni in Turbinen für die Stromproduktion, aber davon würden nur 600 Liter für die Wasserversorgung der Bevölkerung von Cochabamba weitergeleitet. Der Rest lande in den Flüssen, erklärt Maldonado.

Oscar Olivera hat die Gelder, die er für sein Engagement 2001 beim Goldman Umweltpreis erhalten hat, vor allem für den Ausbau gemeindebasierter Wasserversorgung in der Südzone von Cochabamba eingesetzt. Dass viele Bewohner*innen dort eine positive Bilanz ziehen, kann er verstehen. Früher mussten sie an den Tankwagen einen US-Dollar für 100 Liter zahlen. Jetzt bezahlen sie für die zehnfache Menge, einen Kubikmeter des Wassers, das Misicuni in die Leitungen speist, etwas weniger als einen halben US-Dollar. Doch auch das sei noch willkürlich und überteuert.

Der Ingenieur Maldonado bestätigt das: „Laut unseren Berechnungen der Kostenstruktur dürfte der Kubikmeter Wasser bei SEMAPA nicht mehr als zwei Bolivianos kosten“, also etwa 14 US-Cent. Mit Olivera ist er sich auch darin einig, dass die derzeitigen Versuche der bolivianischen Regierung, die gesamte Wasserversorgung in die Verantwortung kommunaler Betriebe zu übergeben, eine falsche Strategie ist. Zumal die selbstverwalteten, gemeinschaftlichen Komitees das Wasser noch viel günstiger anbieten, im Viertel von Oscar Olivera zu einem Zehntel des Preises von SEMAPA. Die Eigenleistungen und Umlagen für die Bohrungen und Leitungen sind dabei allerdings nicht eingerechnet.

Basisorganisationen werden ausgeschaltet

Für Oscar Olivera ist aber auch die politische Seite wichtig: „Etwa 15 Jahre haben wir gearbeitet und die Vereinigung gemeinschaftlicher Wasserversorgungssysteme Asicasur gegründet. Wir wollten zeigen, dass diese Wasserkomitees in den Vierteln der Südstadt gegenüber der staatlichen die bessere und transparentere Form der Wasserversorgung sind. Dort gibt es keinen Eigentümer des Wassers und die Nachbarschaft sorgt für soziale Gerechtigkeit bei der Verteilung. Asicasur war über die Wasserkomitees sehr einflussreich. Aber dann ließen sich die Sprecher*innen von der MAS überzeugen, dass sie sich besser mit der Regierung verbünden, um Beratung und Unterstützung für neue Leitungen oder die Verbesserung der Wasserqualität zu bekommen.“ Olivera räumt durchaus ein, dass die Wasserversorgung eine Staatsaufgabe ist, zumal wenn die bolivianische Regierung bei der UNO durchgesetzt hat, dass der Zugang zu Wasser zum Menschenrecht erklärt wurde. Doch er wehrt sich gegen Vereinnahmung, denn die selbstorganisierten Wasserkomitees seien „Instrumente der Volksmacht, in denen auch Themen wie Gesundheit oder Wirtschaft diskutiert werden. Heute gibt es Asicasur nicht mehr und die Munizipien schaffen zusammen mit dem Zentralstaat die städtischen Wasserbetriebe. Das, was Bechtel im Jahr 2000 versucht hat, nämlich die Basiswassersysteme auszuschalten, das betreibt heute der Staat. Denn Wasser mobilisiert die Menschen. Aber bei einem städtischen Betrieb wird das Wasser in der Verantwortung der Techniker, häufig auch der Gewerkschafter und Politiker, liegen, die den Betrieb kontrollieren. Deshalb stellen wir nach 24 Jahren fest: Heute hat die Regierung der MAS eine ähnliche Politik etabliert wie die, gegen die sich die Bevölkerung im Jahr 2000 gewehrt hat.“ Maldonado fügt an: „Man hat die Bevölkerung von Cochabamba verraten.“ Kein Wunder, dass sich von den Bewässerungsbauern und Nachbarschaftsorganisationen wieder Protest regt gegen den Versuch, ein Monopol der städtischen Unternehmen für die Wasserversorgung zu schaffen.