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Transgenerationale Erinnerungen

Die Gewalt der Diktatur in Chile ist Jahrzehnte später noch präsent

Das ganze Jahr 2023 wurde in Chile an den 50. Jahrestag des Militärputsches vom 11. September 1973 erinnert. Der Putsch machte nicht nur die Zukunft von Präsident Allende und der Regierung der Unidad Popular zunichte, sondern auch die von sehr vielen Chilen*innen. Die zivil-militärische Diktatur dauerte formell 17 Jahre (vom 11. September 1973 bis zum 11. März 1990). Ihr Erbe dauert über ökonomische, politische und rechtliche Strukturen, die größtenteils bis heute in Kraft sind, weiter an. Auf nachfolgende Generationen haben sich aber nicht nur die Traumata der Diktatur übertragen, sondern auch die Erfahrungen von Kämpfen und Widerstand.

Ximena Goecke

Der unvermeidliche Lauf der Zeit hat den Schwerpunkt des Interesses an der Diktaturzeit verschoben. In den ersten Jahren standen der Widerstand, die Solidarität und das Anprangern der Diktatur und ihrer Menschenrechtsverbrechen im Vordergrund. Nach 1990 wurde die Erinnerung allmählich komplexer. In den 1990er-Jahren ging es vor allem um die Erinnerung an das gewaltsame Verschwindenlassen, die politischen Hinrichtungen, die sogenannten „emblematischen Fälle“ sowie um die Freilegung von Massengräbern und die Bewahrung einiger der bekanntesten geheimen Haftanstalten. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts setzte dann die Phase des Gedenkens an politische Gefangenschaft und Folter ein und das Territorium wurde markiert, indem zahlreiche Gedenkstätten, Mahnmale und Gedenktafeln errichtet wurden.1 In den 2010er-Jahren kam als Institution das „Museum der Erinnerung und Menschenrechte“ hinzu.

Nichts von alledem kann allein der Regierungspolitik zugeschrieben werden. Vor allem Menschenrechtsgruppen und soziale Bewegungen trieben beharrlich das Fortbestehen der Erinnerung in Chile voran und widersetzten sich den Bemühungen von politischen und institutionellen Akteuren, einen „Schlussstrich“ zu ziehen. Die Aktionen der Zivilgesellschaft haben im letzten Jahrzehnt interessante Wendungen genommen, vor allem im Zusammenspiel mit den neuen sozialen Bewegungen im Land. Spezifische Erinnerungen von Kindern, Frauen und sexuell diversen Menschen an die Diktatur konnten miteinbezogen werden – und sogar die der Angehörigen von Täter*innen.

In den letzten Jahren standen junge Menschen an der Spitze der sozialen Bewegungen. Seit dem Jahr 2000 übernahmen sie zunehmend die Verantwortung für verschiedene Menschenrechtsorganisationen und definierten den Kampf für Menschenrechte im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Diktatur neu. Die Erforschung der transgenerationalen Erinnerung folgt also nicht nur einem therapeutischen Interesse, sondern ist auch ein Mittel, die Organisationsweise, das politische Handeln und die kulturelle Repräsentation der jungen Generationen zu verstehen, die nun zunehmend den Ton angeben.

So gibt es heute in Chile nicht nur einen Wandel bei den traditionellen Menschenrechtsorganisationen, sondern auch neue Gruppierungen wie HIJOS (Kinder von in der Diktatur Verfolgten), Hijos del Exilio (Kinder des Exils) oder Historias Desobedientes („Ungehorsame Geschichten“, Kinder oder Verwandte von Täter*innen) sind präsent. Neue Verbindungen zu Bewegungen entstehen, die vor allem von jüngeren Generationen angeführt werden: etwa die feministische Bewegung, die die historische Erinnerung in ihr Aktionsprogramm aufgenommen hat und die Kontinuität der politisch motivierten sexuellen Gewalt anprangert. In einigen Städten haben sich Gruppen von Menschen gebildet, die als Minderjährige selbst Opfer von repressiver Gewalt während der Diktatur waren und auf unterschiedliche Art und Weise gefoltert oder misshandelt wurden (einschließlich Kinder unter fünf Jahren, die mit ihren Familien verhaftet wurden).

Zum einen wiederholen sich die Entwicklungszyklen der gesellschaftlichen Erinnerung in Chile, die gekennzeichnet sind durch den „Typus der familiären politischen Gewalterfahrung“. Im öffentlichen Raum treten zunächst die Kinder der Verschwundenen, der aus politischen Gründen Hingerichteten oder der emblematischen Fälle als Akteure auf, dann die der politischen Gefangenen sowie die erst in jüngerer Zeit konzeptionell erfassten Kinder des Exils. Andererseits sind Teile der jüngeren Generationen präsent, die wir grob in zwei Gruppen unterteilen können: Die einen haben die Diktatur erlebt und haben persönliche Erfahrungen und Erinnerungen daran, während die anderen, die ab der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre geboren wurden, keine „eigenen“ Erinnerungen an diese Zeit haben.

Die Verfechter*innen der Straflosigkeit hofften, mit dem Tod der damaligen Akteure werde der Druck für die Durchsetzung von Wahrheit und Gerechtigkeit nachlassen. Die älteren Generationen der Kinder sahen sich in der Pflicht, das Engagement für Erinnerung und Gerechtigkeit zu übernehmen, wobei sie dazu neigten, die politischen Gruppierungen und die aktivistische Praxis früherer Generationen (hauptsächlich der Mütter und Großmütter) zu reproduzieren.

Gegenwärtig gibt es eine Annäherung an den Prozess der gesellschaftlichen Erinnerung, der auch mit den Veränderungen im politischen Gefüge Chiles, insbesondere mit der Studierenden- und der feministischen Bewegung zusammenhängt. Die „Pflicht zur Erinnerung“ überträgt sich auf verschiedene Teile der Jugend: Einerseits sind sie sich der Kontinuität von politischer Gewalt und Unterdrückung bewusst und andererseits wollen sie die Erinnerung an die Kämpfe und den Willen zur sozialen Veränderung wiederbeleben.

Dieses Phänomen ist wichtig, um den Kämpfen um Erinnerung eine neue Bedeutung zu geben. Es ist auch bedeutsam für eine Gesellschaft, die ihre Politik erneuern muss und sich in der Entstehungsphase einer neuen Verfassung sowie neuer Formen der politischen Repräsentation befindet. Der gegenwärtige politische Rahmen scheint offensichtlich nicht den Interessen der neuen Generationen zu entsprechen. Die alten Werte und die Art, Politik zu machen, stimmen offenbar nicht mit den heutigen gesellschaftlichen Erwartungen und dem Wunsch nach Partizipation und Transparenz überein.

Die ersten Studien, die sich mit den jüngeren Generationen und der Übertragung von Erinnerungen befassten, kamen aus der Psychologie und Psychiatrie. Sie beschäftigten sich mit der sogenannten „Transgenerationalen Traumatisierung“, um zu verstehen, wie die neuen Generationen von den Erzählungen und den Gewaltsituationen betroffen sind, die die Familie aufgrund von Verschwindenlassen, Hinrichtungen oder politischer Gefangenschaft ihrer direkten Verwandten erlebte.

Familienmitglieder, die Folter, Exil oder den Verlust von Verwandten erlitten, oder Eltern, die ihre Kinder allein aufziehen mussten, sind offensichtlich schwer betroffen, da ihre affektive und materielle Lebenswelt und Familienökonomie gewaltsam zerstört wurde. Aber auch bei ihren Kindern, die während oder nach der Diktatur geboren wurden, lassen sich Schädigungen nachweisen, die auf langanhaltende traumatische Situationen in der Familie zurückzuführen sind: zum Beispiel tief verwurzeltes Misstrauen, Depressionen, Ängste, Phobien, Wut, Schlaflosigkeit und Albträume sowie Suchtverhalten. Einige Studien weisen auf eine höhere Selbstmordrate in diesen Generationen hin und auf eine mögliche Psychosomatisierung, die sich durch überdurchschnittliches Auftreten von Krankheiten wie Krebs ausdrückt.

Die Übertragung zwischen den Generationen lässt sich jedoch nicht allein auf die Traumata reduzieren. Die betroffenen Familien haben alternative Formen der Zuneigung und Loyalität weitergegeben und entwickelt – aufgrund der politischen Familienkulturen und als Kompensation für die Auswirkungen, die die Repression auf ihr soziales Umfeld hatte. Mit Mitgliedern aus ihren Organisationen sowie ihren Verwandten bildeten sie eine Art stellvertretende Großfamilie, mit starken Werten und Organisationsvorstellungen, die sowohl beim Überleben oder beim Kampf hilfreich waren als auch bei der Entwicklung von Identität und Zukunftsperspektiven.

Die Ablösung der Generationen und ihr Dialog untereinander haben Auswirkungen auf die politischen Aktionsformen und die soziale Organisierung im heutigen Chile. Heute, 50 Jahre nach dem Putsch, sind Künstler*innen der jüngeren Generationen sehr präsent, die die Erinnerung nicht nur pflegen, sondern auch problematisieren. Dokumentar- und Spielfilme, Literatur für Erwachsene und Kinder, Lieder, Performances und Theater sowie grafische und bildende Kunst sorgen heute dafür, dass viele Perspektiven und Bedeutungen wiederhergestellt und neu interpretiert werden. Das trägt dazu bei, die Erinnerung an das Geschehene nicht zu vergessen, was auch eine wichtige Rolle für die Schaffung einer neuen politischen Kultur spielt.

50 Jahre nach dem Militärputsch in Chile zeigt das Engagement der Kinder und Enkelkinder für die Erinnerung sowohl die Tiefe der Schäden, die durch die Diktatur verursacht wurden, als auch die Früchte des Widerstands und der Beharrlichkeit im Kampf gegen die Straflosigkeit. Ihre Kunstwerke spiegeln die Notwendigkeit wider, das politische Projekt des sozialen Wandels neu anzugehen – mit neuen Bedeutungen und unter Infragestellung der alten politischen Strukturen.

Ximena Goecke ist Historikerin, kommt aus Chile und lebt zurzeit in Brandenburg. • Übersetzung: Alix Arnold