ila

Eine Versöhnung, die vielleicht niemals kommen wird

20 Jahre nach dem Abschlussbericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission

Im Juni 2001, nach dem Sturz der Diktatur von Alberto Fujimori, setzte die Übergangs­regierung von Valentín Paniagua eine Wahrheits­kommission ein, um die Verbrechen und Menschen­rechts­verletzungen aufzuklären, die während des internen bewaffneten Konflikts in Peru zwischen 1980 und 2000 begangen wurden. Den Konflikt hatte Sendero Luminoso inmitten des demokratischen Übergangs nach zwölf Jahren Militärherrschaft in der Andenprovinz Ayacucho begonnen. Sendero Luminoso war eine Gruppe mit einer kruden Ideologie, zu der neben marxistisch-leninistischen und maoistischen Versatzstücken auch der so genannte „Gonzalo-Gedanke“ gehörte, eine Idee ihres Anführers Abimael Guzmán, der einen (sekten­ähnlichen) Kult um seine eigene Person pflegte. Sowohl vonseiten Sendero Luminosos als auch des sie bekämpfenden Militärs gab es schwere Menschenrechtsverletzungen an der bäuerlich-indigenen Zivilbevölkerung.

Carolina Garay Doig

Kurz nach der Einsetzung der Wahrheitskommission übernahm am 28. Juli 2001 Alejandro Toledo1 die Präsidentschaft des Landes und fügte ihrem Namen das Wort „Versöhnung“ hinzu. So wurde sie zur „Comisión de la Verdad y Reconciliación“, CVR (Wahrheits- und Versöhnungs­kommission). Ihr gehörten zwölf Mitglieder an, die verschiedene politische und institutionelle Richtungen (zivile, militärische und religiöse) vertraten, jedoch überwiegend der politischen Linken angehörten. Die Kommission sammelte mehr als 16 000 Zeug*innenaussagen und organisierte öffentliche Anhörungen. Diese wurden im Fernsehen übertragen, damit das Land die Stimmen der Opfer und/oder ihrer Angehörigen und die Berichte über die extreme Gewalt, die sie erlitten hatten, hören konnte. Nach zwei Jahren intensiver Arbeit legte die CVR am 28. August 2003 ihren Abschlussbericht (Informe Final) vor, ein Bericht, der weit davon entfernt ist, uns als Gesellschaft zu versöhnen, denn er offenbart das tiefe Missverständnis zwischen den Peruaner*innen, das bis heute anhält.

Eines der aufschlussreichsten Ergebnisse war die Bestimmung der Zahl der Todesopfer. In der kollektiven Erinnerung herrschte die Vorstellung vor, dass es um die 20 000 waren; die CVR kam jedoch zu dem Schluss, dass wahrscheinlich 69 280 Menschen infolge des Konflikts ihr Leben verloren, die häufig traumatisierten Opfer von Entführungen, willkürlicher Verhaftung, Zwangsrekrutierung, Folter, Vergewaltigung und anderen Verbrechen nicht mitgezählt. Das ist eine überwältigende Zahl, die nach den Worten von Kommissionspräsident Salomon Lerner einen doppelten Skandal darstellt. Zum einen, weil sie zeigt, dass die Morde und das gewaltsame Verschwindenlassen „massiv“ waren, und zum anderen, weil sie die tiefe Gleichgültigkeit und Trägheit der Gesellschaft zeigt. Hinzu kommt die Unfähigkeit derjenigen, die diese Tragödie hätten verhindern können und das nicht getan haben.

Wie war dies möglich? Vor allem, weil die Opfer als weit „entfernt“ wahrgenommen wurden, nicht nur aufgrund der geografischen Distanz, sondern vor allem aufgrund ihres kulturellen, ethnischen, sozialen und wirtschaftlichen Hintergrunds. Dem Abschlussbericht zufolge lebten 79 Prozent aller Opfer des Konflikts in ländlichen Gebieten, waren arm, Kleinbauern und Analphabet*innen. Davon sprachen 75 Prozent Quechua oder eine andere indigene Sprache als Muttersprache. Tatsächlich bekam Lima den Terror und die Grausamkeit von Sendero Luminoso erst 1992 zu spüren, als eine Autobombe in Miraflores, einem Viertel der Oberschicht, explodierte und 25 Menschen tötete und weitere 155 verletzte. Kurioserweise wurde zwei Monate später der Anführer Abimael Guzmán verhaftet. Er hielt sich in einem Haus in Surquillo, einem Barrio der Hauptstadt, versteckt, dessen Fassade eine Tanzschule für Mädchen war.

Angesichts der enormen Zahl nicht wahrgenommener Opfer veröffentlichte das Kollektiv „Memoria y Violencia“ (Erinnerung und Gewalt), das sich aus jungen ehemaligen CVR-Mitarbeiter*innen zusammensetzt, an zahlreichen Orten die tatsächliche Zahl der Opfer. Zu diesem Zweck brachten sie an Bussen, Haltestellen, Kiosken, Bars und anderen öffentlichen Orten Aufkleber mit der Aufschrift „69280“ an. An symbolträchtigen Tagen und Orten intervenierten sie auf den Straßen Limas. So besuchte das Kollektiv, begleitet von Musiker*innen und Tänzer*innen und einem großen Transparent mit der Zahl der Opfer, am 1. November – dem Tag, den die Katholik*innen als Allerheiligen begehen und an dem sie die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen besuchen – die wichtigsten Friedhöfe der Hauptstadt, um der Toten des bewaffneten Konflikts zu gedenken.

Eine weitere wichtige Schlussfolgerung der CVR bezieht sich auf die Verantwortlichkeiten in diesem Konflikt. In Bericht heißt es, dass Sendero Luminoso für 54 Prozent der Todesopfer verantwortlich ist, gefolgt von staatlichen Akteur*innen mit 37 Prozent, paramilitärische Gruppen und Selbstverteidigungskomitees, die sich aus vom Militär aufgebauten bewaffneten Milizen aus ländlichen Gebieten zusammensetzen, eingeschlossen. Daher können ihre Verbrechen nicht als isolierte Taten betrachtet werden, sondern als systematische Praktiken. Ein Beweis dafür sind zum Beispiel die blutigen Massaker in Putis (1984) und Accomarca (1985), bei denen das Militär 123 beziehungsweise 69 Bauern und Bäuerinnen ermordete. Unter den Opfern waren auch Kinder und Säuglinge. Das Movimiento Revolucionario Túpac Amaru (MRTA), eine weitere bewaffnete Gruppe, war für 1,6 Prozent der Todesopfer verantwortlich. Es gibt eine Gruppe von Opfern, deren Täter nicht identifiziert werden konnte.

Die Veröffentlichung des Berichts hat keineswegs zu einer Versöhnung geführt, sondern die Spaltung des Landes offensichtlich gemacht. Konservative Teile der Politik, des Militärs und der Gesellschaft lehnten die Arbeit der CVR grundlegend ab, bis hin zur Leugnung der von der Kommission aufgedeckten Verbrechen, vor allem die, die den Sicherheitskräften zur Last gelegt werden.

Am 28. August 2023 ist der Abschlussbericht der CVR zwanzig Jahre alt geworden und das Land ist noch immer gespalten. Die Ablehnung der Ergebnisse und Empfehlungen der CVR hat dazu geführt, dass Straflosigkeit und Ungerechtigkeit vorherrschen und bestimmte Fälle, in die Angehörige der staatlichen Streitkräfte verwickelt waren, nicht strafrechtlich verfolgt wurden. Die Hauptstrategie der Sektoren, die den Bericht ablehnen, besteht darin, „terruqueo“ zu praktizieren, das heißt jemanden als „Terroristen“ zu beschuldigen, weil er unter anderem mit der von der CVR vertretenen Version des Konflikts übereinstimmt. Terruqueo ist eine schändliche Praxis, die die Opfer des Konflikts selbst stigmatisiert hat und sogar dazu benutzt wurde, diejenigen zu disqualifizieren, die Ende 2022 und Anfang 2023 gegen die Regierung von Dina Boluarte protestiert haben. Die Polizei ging mit der Logik, es mit „Terroristen“ zu tun zu haben, brutal gegen die Demonstrant*innen vor. 61 Menschen wurden getötet, 49 von ihnen durch Schusswunden, Granulat oder Tränengasbomben. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um junge Menschen zwischen 18 und 32 Jahren, aber auch mehrere Schulkinder waren darunter. Paradoxerweise stammten all diese Opfer der Boluarte-Regierung aus den südlichen Regionen des Landes, genau dort, wo der bewaffnete Konflikt vorrangig stattfand.

Diese Verleugnungen gefährden auch einige der von der CVR vorgeschlagenen symbolischen Empfehlungen, wie zum Beispiel die Skulptur „El ojo que llora“ – eine Plastik aus Steinen und Kieseln, auf denen die Namen der Opfer eingraviert sind. Seit ihrer Einweihung anlässlich des zweiten Jahrestages des Abschlussberichts wurde dieses Mahnmal mehrfach von Anhängern des ehemaligen Diktators Fujimori mutwillig zerstört. Fujimori wurde 2007 von Chile an Peru ausgeliefert. Er verbüßt derzeit eine 25-jährige Haftstrafe, weil er für die Verbrechen in Barrios Altos 1991 (Ermordung von 15 Menschen) und La Cantuta 1992 (Ermordung von neun Studierenden und einem Universitätsprofessor) sowie für weitere schwere Verbrechen verantwortlich gemacht wird. Ein Fall, der noch nicht vor Gericht gebracht wurde, sind die Zwangssterilisationen von mehr als 250 000 armen Frauen und in geringerem Maße auch Männern, die zwischen 1996 und 1998 im Rahmen seiner Politik der „Geburtenkontrolle“ und „Armutsbekämpfung“ durchgeführt wurden.

Wie die Skulptur „El Ojo que llora“ ist auch der „Ort der Erinnerung, der Toleranz und der sozialen Inklusion“ (Lugar de la Memoria, la Tolerancia y la Inclusión Social, LUM) seit seiner Einweihung im Jahr 2015 ständigen Angriffen ausgesetzt. Seine Einrichtung war ein weiterer Vorschlag aus dem Abschlussbericht der CVR, um einen Ort zu schaffen, wo die Zeit des bewaffneten Konflikts dargestellt und reflektiert werden soll. Ermöglicht wurde diese Initiative durch die finanzielle Unterstützung der deutschen Regierung. Der Schriftsteller Mario Vargas Llosa musste jedoch vermitteln, damit die angebotene Finanzierung von Präsident Alan García2 akzeptiert wurde. Warum diese Ablehnung? Weil in Garcías erster Amtsperiode (1985-1990) mehrere Verbrechen geduldet wurden, darunter das Massaker an mehr als 200 Gefangenen, die von der CVR dokumentiert wurden. Die Häftlinge, die beschuldigt wurden, Sendero Luminoso anzugehören, wurden getötet, obwohl sie sich bereits ergeben hatten, nachdem sie einen Aufstand im Gefängnis El Frontón provoziert hatten.

Mehr als sieben Jahre nach seiner Eröffnung schwankt das LUM noch immer zwischen Lob und Verleumdungen. Letztere haben zur Entlassung eines der Direktoren und zur Zensur einiger Ausstellungen geführt.

Konservative und ultrarechte Kongressabgeordnete und Politiker*innen haben sich in öffentlichen Reden häufig für die Schließung des Museums ausgesprochen. Dieses Ansinnen ging vorübergehend in Erfüllung, als die Stadtverwaltung von Miraflores im April 2023 das Museum schloss, weil das Gebäude nicht über ein technisches Sicherheitszertifikat verfüge, ein Zertifikat, das nur neun der 56 Museen des Landes besitzen. Nie zuvor wurde ein Museum aus diesem Grund geschlossen. Erst kürzlich, nach einem starken Protest von Opferverbänden, Künstler*innen, Intellektuellen und Aktivist*innen (national und international), öffnete das LUM wieder seine Türen. Trotzdem wird sein Standort immer infrage gestellt: Miraflores, ein wohlhabendes Viertel, weit entfernt von der Herkunft der meisten Opfer.

Im Bildungsbereich hat der CVR-Bericht keinen Eingang in die Klassenzimmer gefunden. Ein Kapitel über den bewaffneten Konflikt ist in den Lehrplänen und Unterrichtsinhalten nicht enthalten. Die Auseinandersetzung mit diesem Kapitel unserer Geschichte ist eine Aufgabe, die viele Lehrer*innen lieber nicht übernehmen. Das hängt auch damit zusammen, dass während des Konfliktes die Lehrer*innengewerkschaft SUTEP von Maoist*innen kontrolliert wurde, denen man vorwarf, mit Sendero Luminoso zu sympathisieren. Daher ruft jede Erwähnung dieser subversiven Gruppe Argwohn, Angst und Misstrauen hervor und stößt auf den Widerstand der Eltern. Das LUM und die (von der CVR produzierte) Yuyanapaq-Fotoausstellung sind jedoch zu Orten geworden, die häufig von Schüler*innen und Studierenden besucht werden, die sich über den Konflikt informieren wollen.

Trotz dieses Interesses haben die meisten jungen Menschen keine grundlegenden Informationen über den Konflikt. Eine vom Institut für Peruanische Studien (Instituto de Estudios Peruanos, IEP) im September 2021 durchgeführte Umfrage zeigt, dass gerade junge Menschen am wenigsten über Abimael Guzmán wissen. Zu dieser Zeit starb der Anführer des Sendero Luminoso eines natürlichen Todes in seiner Zelle, in der er eine doppelte lebenslange Haftstrafe verbüßte. Er starb einen Tag vor dem 29. Jahrestag seiner Festnahme. Nach einer heftigen, aber politisierten öffentlichen Kontroverse wurde ein Gesetz verabschiedet, das es dem Staat erlaubte, seinen Leichnam einzuäschern und seine Asche an einem unbekannten Ort zu verstreuen. Sein Grab sollte nicht zu einem Ort der Verehrung werden.

Im August dieses Jahres veröffentlichte das IEP eine weitere Umfrage, aus der hervorging, dass eine überwältigende Mehrheit, nämlich von 61 Prozent der Peruaner*innen, nicht weiß, was die CVR war, und daher auch den Abschlussbericht nicht kennt. Dabei wurde er als ein Dokument veröffentlicht, das kritisch diskutiert werden sollte, ohne die Absicht, die einzige Version des Konflikts zu sein. Sobald er jedoch bekannt wurde, löste er einen Kampf der Erinnerungen an den Konflikt aus. Das zeigt, wie schwierig die Bewältigung unserer schmerzhaften und gewalttätigen Vergangenheit ist.

Viele der Eltern der mehr als 20 000 Verschwundenen sind zwischenzeitlich verstorben. Die Leichen ihrer Kinder oder Enkel wurden noch immer nicht geborgen und würdig bestattet. Für viele Angehörige der Opfer war es deshalb auch schwierig, zu sehen, dass die Mitglieder von Sendero Luminoso und MRTA freigelassen wurden, auch wenn sie mehr als 25 Jahre in Haft gewesen waren.

Aber noch schwieriger ist es für uns, die Verantwortung für die strukturelle Ursache des Konflikts zu übernehmen: die enorme Ungleichheit zwischen Peruaner*innen. Wenn wir also die Idee einer unvoreingenommenen Lektüre des Berichts verwerfen (ein kleiner Schritt für den Beginn eines längeren Prozesses), werden nicht nur die Justiz, die Gedenkstätten und die Bildungseinrichtungen in Mitleidenschaft gezogen. Die versprochene Versöhnung wird wahrscheinlich nicht stattfinden.

  • 1. Seit April 2023 befindet sich Toledo in peruanischer Untersuchungshaft. Ihm wird wegen Korruptionsdelikten in seiner Regierungszeit (2001-2006) der Prozess gemacht.
  • 2. 2021 beging García Selbstmord, als die Polizei bei ihm zu Hause eintraf, um ihn wegen Korruptionsdelikten aus seiner zweiten Regierungszeit (2006-2011) zu verhaften.

Carolina Garay Doig ist Anthropologin und Mitglied der ila-Redaktion. Übersetzung: Inga Triebel