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Venezuela

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Editorial

Der Sturz des venezolanischen Chavismus wäre für die lateinamerikanische Linke schlimmer als der Zusammenbruch der Sowjetunion, meint der uruguayische Autor Raúl Zibechi. Zweifellos würde sich die Krise vieler linker Bewegungen, bei weitem nicht nur solcher, die noch immer in Nibelungentreue an ihre Unterstützung für das Maduro-Regime festhalten, weiter vertiefen. Aber was kann aktuell in Venezuela überhaupt noch schlimmer werden? Was muss die venezolanische Bevölkerung noch alles erleiden? Eine katastrophale Versorgungskrise, zusammenbrechende Infrastruktur, eine repressive Politik, die sich nur noch mittels militärischer Unterstützung und der Verteilung von Lebensmittelpaketen an der Macht halten kann, zwei politische Lager, die sich starrköpfig gegenüberstehen, ein Massenexodus von arbeitsfähigen Menschen, fast alle Länder der „westlichen“ Welt vereint gegen die eigene Regierung, US-Sanktionen, eine horrende Auslandsverschuldung. Unser Autor Simon Ernst schreibt, in Venezuela gingen die Gläubiger davon aus, „dass eine volle Rückzahlung der Schulden auch auf längere Sicht ausgeschlossen sein wird“. Deshalb sei der schon seit längerem dräuende Kampf um einen Regime Change „zu einer Schlacht um die Gläubigerpriorität zwischen den Großmächten eskaliert“.

Die Zeiten der chavistischen Erdöl-Bonanza und Großzügigkeit scheinen Lichtjahre zurückzuliegen. Wer erinnert sich noch daran, dass Hugo Chávez einst mit großer Geste verkündete, die Heizkosten der marginalisierten Bevölkerung in der New Yorker Bronx zu subventionieren? Er war ein Meister der Symbolpolitik und schaffte es damit, die Massen für sich zu begeistern. Vor allem aber verdankte er seine Popularität einem externen, schwer zu beeinflussenden Faktor: den hohen Erdölpreisen in den Nullerjahren.

Das ist alles längst passé. Das bolivarianische Projekt ist seines politischen Kerns beraubt. Die einst verkündete Partizipation der Bevölkerung in „selbstverwalteten Fabriken“, Comunas und Kooperativen, die von Anfang an unter dem Problem litt, dass sie von oben dekretiert wurde, ist mittlerweile auf die Beteiligung der chavistischen (meist weiblichen) Basis beim Verteilen der Lebensmittelbeihilfen zusammengeschrumpft.

Was gibt es noch zu verteidigen am Chavismus? Natürlich gilt es, eine militärische Intervention zu verhindern. Und selbstverständlich war auch der chavistische Ansatz, breitere Schichten vom Rohstoffreichtum des Landes profitieren zu lassen – und nicht nur die ewig gleichen Eliten, internationalen Unternehmen und Anleger*innen –, unbedingt zu unterstützen. Aber davon ist nun angesichts der katastrophalen Lage im Land wenig übriggeblieben.

Einige werden jetzt vielleicht aufschreien: Aber die Sanktionen! Ja und nein. Der Imperialismus ist NICHT an allem schuld. Die venezolanische Krise ist zu einem guten Teil hausgemacht. Die Geldmittel, die sich die chavistischen ebenso wie die traditionellen Eliten durch Wechselkursgeschäfte (ermöglicht durch eine desaströse Geldpolitik der Regierung!) angeeignet und außer Landes gebracht haben, übersteigen die Verluste durch die Sanktionen um ein Vielfaches.

Ein Sturz des venezolanischen Regimes würde der Rechten in Lateinamerika noch mehr Auftrieb geben, die schon jetzt hämisch auf Venezuela verweist, um damit linke politische Projekte insgesamt zu diskreditieren. Und ein interner Krieg in Venezuela könnte sich über die Grenze nach Kolumbien ausdehnen. Die beiden Länder sind bereits seit Jahren unheilvoll miteinander verbunden, was das Kommen und Gehen bewaffneter Gruppen, deren mafiöse Geschäfte und damit einhergehende Unsicherheit und Gewalt im Grenzgebiet betrifft.

Vor allem, und das sei allen Freund*innen eines Regime Change gesagt: Wenn die venezolanische Opposition das Ruder an sich reißt, wäre für die venezolanische Bevölkerung nichts gewonnen. Alte Eliten und internationale Investoren würden in die Hände klatschen. Endlich wären die Chavistas von den Futtertrögen verdrängt! Eine Überwindung des seit 100 Jahren herrschenden Wirtschaftsmodells, das einzig auf Rohstoffausbeutung und -export setzt, wäre dabei mitnichten vorgesehen.

Im Juli wurde bekannt, dass das Weiße Haus eine „Venezuela Affairs Unit“ (VAU) einzurichten plant. Diese Einheit soll aus der US-Botschaft in Bogotá operieren und zielt auf einen „Wechsel“ in Venezuela. Die VAU soll die „Demokratie und verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherstellen. Ihr Partner dafür: der selbsternannte „Interimspräsident“ Juan Guaidó, der im Gegenzug 41 Millionen US-Dollar dafür erhalten soll. Geld, das übrigens die Entwicklungsbehörde USAID aus ihrem Programm für Guatemala und Honduras entnommen hat, berichtete die Los Angeles Times. Angesichts solcher immer wieder neuer Finten und Tricks ist das Beharrungsvermögen von Maduro und Co. fast schon wieder bewundernswert. Dennoch wünschen wir der venezolanischen Bevölkerung einen anderen Ausweg aus der Krise. Bevor die letzten gegangen sind.

Inhaltsübersicht

Schwerpunkt

4  Die Rohstoffparty ist vorbei [1]
Erdöl und Entwicklung in Venezuela
von Stefan Peters

8  Die „Arbeiterregierung” Maduro
Abgründe zwischen Anspruch und Wirklichkeit
von Basuca

13  Profiteure der Katastrophe
Die zwei Seiten des Erdölbooms: Rendite und Verschuldung
von Simon Ernst

15  Cuidadoras universales – Frauen garantieren das Überleben [2]
Venezolanerinnen in der bolivarianischen Revolution und der aktuellen Krise
von Alba Carosio

18  Vom Rutschen in den freien Fall [3]
Kapitalflucht und Sanktionen schubsen kräftig mit
von Manuel Sutherland

23  Die Krise hat uns neue Erfahrungen gebracht [4]
Krisenalltag in Venezuela: zwischen Individualismus und solidarischer Bewältigung
von Alix Arnold

26  Kaum Debatten über die Ursachen
Interview mit dem Autor und Bewegungsforscher Raúl Zibechi zum Umgang der lateinamerikanischen Linken mit der Krise in Venezuela
von Britt Weyde

28  Theater zwischen Frieden und Krise [5]
Interview mit Utz Ebertz über die Situation an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze und das „Teatro por la Paz“
von Britt Weyde

30  Extraktivismus ohne Ende
Das Bergbauprojekt „Arco Minero del Orinoco“ soll Einkommenseinbußen im Erdölsektor kompensieren
von Diana Maitta

32  Vom Aus- zum Einwanderungsland
Die wechselhaften Beziehungen zwischen der Dominikanischen Republik und Venezuela
von Hans-Ulrich Dillmann

34  Es gibt keine Graustufen
Ein Venezolaner in der Kölner Diaspora erzählt
von Britt Weyde

36  Kleineres und größeres Übel
Die russische Opposition und Venezuela
von Ewgeniy Kasakow

Berichte & Hintergründe

38  Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt
Das überraschend deutliche Ergebnis der argentinischen Vorwahlen
von Roberto Frankenthal

40  Erfolg für den „Pakt der Korrupten“
Der Ultrarechte Alejandro Giammattei ist Guatemalas neuer Präsident
von Michael Mörth

42  Gemeinsam haben wir es getan
Das Ende der CICIG und die ungewisse Zukunft Guatemalas
von Eva Kalny

44  Wie lange noch hält Brasilien das aus?
Die politische Kultur des größten Landes Südamerikas verhindert (noch) eine breite soziale Mobilisierung
von Viviane de Santana Paulo

46  Perus Nationalfeiertag endet mit Paukenschlag
Präsident Vizcarra möchte Neuwahlen durchsetzen
von Andreas Baumgart

49  Wer schweigt, macht sich zum Komplizen
Ein Fall von sexuellem Missbrauch bei den bolivianischen Pfadfindern
von Peter Strack

50  Man muss den Kindern vertrauen
Die bolivianische Rechtsanwältin Alejandra Camara über sexuelle Gewalt und die Justiz
von Peter Strack

51  Die Embera warten noch auf den Frieden
Kolumbiens indigene Gemeinden im Kreuzfeuer: Die Beispiele Puerto Indio und La Loma
von Amaury Luna

53  Ein Freiwilligendienst der anderen Art
Wolfgang Meiers Erinnerungen an seine Zeit bei der FSLN-Guerilla in Nicaragua
von Gert Eisenbürger

Kulturszene

56  Es gibt eine Magie
Wie eine dominikanisch-haitianische Künstler*innenbewegung nationalistische Diskurse aufbricht
von Denise Schaffrinski

59  Rechts und links gegen links und rechts
Der Bürgerkrieg in Costa Rica 1948
von Klaus Jetz

62  Notizen aus der Bewegung, Impressum

Titelbild: Im Flughafen von Caracas, Foto: David Gussen


Quell-URL: https://www.ila-web.de/node/8538

Links:
[1] https://www.ila-web.de/ausgaben/428/die-rohstoffparty-ist-vorbei
[2] https://www.ila-web.de/ausgaben/428/cuidadoras-universales-%E2%80%93-frauen-garantieren-das-%C3%BCberleben
[3] https://www.ila-web.de/ausgaben/428/vom-rutschen-in-den-freien-fall
[4] https://www.ila-web.de/ausgaben/428/die-krise-hat-uns-neue-erfahrungen-gebracht
[5] https://www.ila-web.de/ausgaben/428/theater-zwischen-frieden-und-krise