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Die Rohstoffparty ist vorbei

Erdöl und Entwicklung in Venezuela

Venezuela lebt seit einem knappen Jahrhundert vom Erdölexport. Der Beginn des Erdölzeitalters in den 20er-Jahren transformierte das verarmte Agrarland an der Peripherie der Peripherie bald in ein prosperierendes Rohstoffland, ermöglichte ein hohes Wirtschaftswachstum und eine beschleunigte Urbanisierung einschließlich der Verbreitung eines konsumorientierten Lebensstils. Dies wurde bald von beachtlichen sozialen Entwicklungserfolgen und ab 1958 zudem durch die Stabilisierung einer liberal-repräsentativen Demokratie ergänzt. Spätestens in den 60er-Jahren galt das Land als entwicklungspolitisches Erfolgsmodell und der Ölboom der 70er-Jahre schien sämtliche Grenzen zu pulverisieren. Angesichts der ölinduzierten Verbesserungen waren nicht wenige der Meinung, dass Gott Venezolaner sein müsse. Venezuela ist aber auch ein Beispiel für die Krisenanfälligkeit rohstoffbasierter Entwicklungsmodelle und wird immer wieder als Beispiel für die Theorie des Rohstofffluchs herangezogen.

Stefan Peters

Tatsächlich haben sich in Venezuela wiederholt die Fallstricke der einseitigen Ausrichtung auf den Rohstoffexport gezeigt. So schlitterte das Land mit dem Einbruch der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt zu Beginn der 80er-Jahre in eine tiefe Wirtschaftskrise, die bald zur sozialen Krise wurde und mit einem deutlichen Anstieg von Armut, extremer Armut, Arbeitslosigkeit und informeller Beschäftigung sowie sozialer Ungleichheit und (Gewalt-)Kriminalität einherging. Die Entwicklungserfolge der Vergangenheit fielen innerhalb kürzester Zeit wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Damit fehlte auch der Kitt, der die venezolanische Demokratie lange Zeit stabilisiert hatte. Neoliberale Reformmaßnahmen führten im Februar 1989 zu einem Volksaufstand, dem „Caracazo“, der blutig niedergeschlagen wurde und mindestens 400 Tote forderte. Zwei Putschversuche im Jahr 1992 verdeutlichten die politische Instabilität des Landes. Das von Korruptionsskandalen erschütterte politische System implodierte und ebnete den Weg für den Erfolg des politischen Außenseiters Hugo Chávez bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1998. Kurz: Die Bolivarianische Revolution entstand auf dem Scherbenhaufen der IV. Republik (1958-1998). Doch Geschichte wiederholt sich in Venezuela. Die heutige Krise trifft das Land zweifellos sehr viel härter, doch ihre strukturellen Ursachen sind ähnlich. Mehr noch, das heutige Venezuela kann ebenso wie der Aufstieg und Fall der Bolivarianischen Revolution ohne eine grundlegende Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Erdölabhängigkeit nicht adäquat verstanden werden.

Venezuela ist eine Rentengesellschaft par excellence. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sind jeweils durch die lange Geschichte der Durchspülung mit Renteneinnahmen aus dem Erdölexport geprägt. Renten werden dabei als Einnahmen definiert, denen keine Arbeits- oder Investitionsleistungen seitens des Empfängers gegenüberstehen und diesem folglich zur freien Verfügung stehen. Die Rentenverteilung erfolgt deswegen nicht primär auf Grundlage ökonomischer Kriterien, sondern nach politischen und sozialen Motiven. Indem sich der venezolanische Staat bald einen Großteil der Renteneinnahmen aneignen konnte, wurde er zum zentralen Verteilungs- und Entwicklungsagenten. Die finanzielle Beinfreiheit des Staates folgte dabei dem Takt der Rohstoffpreise, während Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zur Musik der staatlichen Rentendistribution tanzten. Ökonomischer Erfolg und soziale Aufstiegsmöglichkeiten hingen jeweils maßgeblich vom Zugang zu den Kanälen der staatlichen Rentenverteilung ab. Der Staat kann wiederum bei der Entscheidung über die Verwendung der Renteneinnahmen politische oder soziale Kriterien gegenüber ökonomischen Erwägungen priorisieren. Dies ermöglicht die Gewährung gezielter Be- und Vergünstigungen ebenso wie den Ausschluss bestimmter Personen(gruppen) von der staatlichen Rentenverteilung. Der Staat bringt so über die Rentenverteilung regelmäßig Gewinner*innen und Verlierer*innen hervor.

Schon in den 20er-Jahren zeigte sich die Veränderungskraft der Erdölrente in aller Deutlichkeit. Alternative Wirtschaftszweige wurden vom Erdöl geradezu weggeschwemmt. So läutete der Aufstieg des Erdöls in den 20er-Jahren das schnelle Ende des Agrarexportsektors ein. Venezuela litt an der sogenannten Holländischen Krankheit. Der Erdölexport setzte die Landeswährung unter Aufwertungsdruck, verbilligte damit Importe und verteuerte die Exporte. Die Landwirtschaft wurde so zum ersten Opfer des Erdölbooms und konnte sich hiervon bis heute nicht erholen. Die einseitige Abhängigkeit von der Erdölwirtschaft wurde bereits früh als entwicklungspolitische Achillesferse erkannt. Im Jahr 1936 schrieb der venezolanische Intellektuelle Arturo Uslar Prieti einen bis heute vielzitierten Artikel mit dem programmatischen Titel Sembrar el Petróleo („Das Erdöl säen“). Seither haben Regierungen unterschiedlicher politischer Couleur, unter Rückgriff auf sehr verschiedene und teils konträre Entwicklungsstrategien, immer wieder versucht, die Diversifizierung der Wirtschaftsstruktur zu fördern. Tatsächlich konnten gerade in den Boomphasen der 50er- und 70er-Jahre durch ein starkes finanzielles Engagement des Staates beachtliche industrielle Kapazitäten aufgebaut werden. Mittelfristig blieben die Ergebnisse der Diversifizierungsstrategien jedoch stets ernüchternd. Die Industrie hing stets am Tropf des Rohstoffexports beziehungsweise der staatlichen Subventionen und erlangte nie internationale Konkurrenzfähigkeit. Einerseits ächzte die Industrie unter der strukturellen Überbewertung der Landeswährung, andererseits gelang es nicht, die dringend benötigten Produktivitätssteigerungen zu erreichen. Im Ergebnis konnte die Industrie auf diese Art und Weise nicht zu einem alternativen wirtschaftlichen Standbein jenseits der Erdölwirtschaft werden. Bei Einbruch der Erdölpreise wurde die Fragilität der industriellen Entwicklung deutlich und das Ende der staatlichen Protegierung bedeutete in vielen Fällen das schnelle Aus für die Industrieproduktion. Im Ergebnis bleibt die venezolanische Wirtschaftsstruktur einseitig auf die Erdölökonomie sowie den Handel und einen wenig produktiven Dienstleistungssektor fokussiert.

Die Renteneinnahmen aus dem Erdölexport prägen aber nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik und die Gesellschaft. Der Zugriff auf die Renteneinnahmen stabilisierte bis zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene Diktaturen und ermöglichte ab 1958 über die Finanzierung des Elitenpaktes von Punto Fijo die Etablierung der liberaldemokratischen Demokratie. De facto brachte der Erdölexport dem Land aber nicht nur politische Stabilität, sondern auch beachtliche soziale Entwicklungserfolge. Dies übertrug sich für breite Teile der Bevölkerung in eine kollektive Aufwärtsmobilität, einschließlich eines besseren Zugangs zu Bildung, Gesundheit sowie eines höheren Konsumniveaus. Die sozialen Entwicklungserfolge beruhten allerdings auf der ungleichen Verteilung der Renteneinnahmen durch den Staat. Sie umfassten die direkte Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Energie und Treibstoff sowie die indirekte Subventionierung des Konsums mittels der Überbewertung der Währung. Hinzu kamen die Schaffung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst, die Unterbesteuerung der Bevölkerung sowie vielfältige Möglichkeiten der legalen und illegalen Bereicherung durch die Vergabe von Aufträgen auf der Basis von sozialen Beziehungen oder der politischen Nähe zur Regierung. Während bei der staatlichen Rentenverteilung für die Bewohner*innen der ländlichen Gebiete und der urbanen Armenviertel allenfalls die Brotkrumen der Erdölbonanza abfielen, profitierten formell beschäftigte Arbeiter*innen, die Mittelschicht und die Eliten überproportional stark. Caracas entwickelte sich zu einer der teuersten Städte der Welt und die venezolanische Mittel- und Oberschicht wurde zunehmend bekannt für ihren ausgeprägten Hang zum Luxuskonsum sowie für ihre Vorliebe, ihre Petrodollar auf Bankkonten in den USA oder Europa zu sichern.

Die venezolanische Bevölkerung beschränkte sich jedoch keineswegs auf die Rolle der passiven Rentenempfänger*innen. Im Gegenteil: Aus der Beteiligung an der Rentenverteilung erwuchsen quasi-naturalisierte Rechte auf einen Anteil am Rohstoffreichtum, die im Zweifel auch massiv eingefordert werden. Die Aufrechterhaltung extrem hoher Subventionen für Benzin sollten deshalb nicht einfach kopfschüttelnd als Politikfehler betrachtet, sondern eher als Ausdruck dafür analysiert werden, wie die Bevölkerung einen Teil des Erdölreichtums einklagt. In der Konsequenz gibt es also nicht nur vom Staat, sondern auch von breiten Teilen der Bevölkerung handfeste Interessen an der Fortführung des Entwicklungsmodells Erdölexport.

Die Bolivarianische Revolution in Venezuela entstand auf dem Scherbenhaufen der IV. Republik (1958-1998). Hugo Chávez gewann die Präsidentschaft mit dem Versprechen, tiefgreifende Veränderungen umzusetzen. Tatsächlich bedeutete der Beginn seiner Präsidentschaft eine wichtige Zäsur für die Geschichte Venezuelas und Lateinamerikas. Chávez stellte sich gegen die Fundamente des Neoliberalismus und der liberalen Demokratie, läutete damit in Lateinamerika das „Ende des Endes der Geschichte“ ein und machte bald auch den Sozialismusbegriff wieder salonfähig. Doch vor allem gelang es der Regierung Chávez gegen heftige Widerstände der alten Eliten, die auch vor einem Putschversuch nicht zurückschreckten, die Kontrolle über die Einnahmen des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA zu erlangen. Damit war die Grundlage gelegt, um vor dem Hintergrund steigender Weltmarktpreise für das Hauptexportprodukt des Landes die finanziellen Mittel für tiefgreifende Reformen zu haben. Auf dieser Basis gelangen dem Chavismus mit dem Rückenwind kräftig steigender Rohstoffpreise ab 2003 nicht nur vielbeachtete soziale Entwicklungserfolge, sondern auch die Wirtschaft erreichte hohe Wachstumsraten. Der venezolanische Sozialismus boomte.

Heute ist der Glanz der Boomjahre (2004-2013) längst verblasst. In den letzten Monaten und Jahren ist Venezuela gar zur Chiffre einer gescheiterten Revolution geworden. Die Wirtschaft des Landes befindet sich seit mindestens 2015 in einer schweren Rezession, die mit einer Hyperinflation einhergeht. Gleichzeitig ist die soziale Situation katastrophal. Die Armut erreicht ein Rekordniveau und die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten sowie alltäglichen Konsumprodukten kann nicht sichergestellt werden. Gerade viele junge Venezolaner*innen wandern auf der Suche nach Arbeit, Einkommen und einer besseren Zukunft für sich und ihre Familien in die Nachbarländer aus. Laut Angaben des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge und der Internationalen Organisation für Migration haben mehr als vier Millionen Venezolaner*innen das Land verlassen.1 Hinzu kommt eine schwere politische Krise im Land. Der Machtkampf zwischen Präsident Nicolás Maduro und dem selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaidó wird von beiden Seiten mit harten Bandagen und unter Missachtung demokratischer Mindeststandards geführt. Kurz, Venezuela befindet sich in einer heftigen Dauerkrise, deren Ende weiterhin nicht in Sicht ist.

Die Gründe für den Niedergang der Bolivarianischen Revolution finden sich dabei weder im politischen Tagesgeschehen noch bei populären Erklärungen, die entweder einen Wirtschaftskrieg imperialistischer Mächte und ihrer lokalen Verbündeten ausmachen oder die Krise mit dem unweigerlichen Scheitern wirtschaftlicher und sozialer Transformationsprozesse erklären wollen. Vielmehr braucht es eine Analyse der materiellen Grundlagen der Bolivarianischen Revolution. Diese haben sich während des kurzen „Goldenen Zeitalters des Chavismus“ nicht grundsätzlich verändert.Während die wortgewaltige Rhetorik einen Prozess des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus suggerierte, fanden sich mit Blick auf die materielle Grundlage der Bolivarianischen Revolution mit der extremen Erdölabhängigkeit ebenso wie auf die Logik staatlicher Herrschaft erstaunliche Parallelen zur Vergangenheit. Die Bolivarianische Revolution zeigte folglich eine beachtliche Portion Kontinuität im durchaus vorhandenen Wandel.

Erstens gab es keinen Bruch mit dem rohstoffbasierten Entwicklungsmodell. Zwar schrieb sich Chávez, ähnlich wie seine Vorgänger in den vergangenen Jahrzehnten, auf die Fahnen, das Erdöl zu säen und mittels einer Diversifizierung der Wirtschafts- und Exportstruktur die Krisenanfälligkeit zu verringern und „Entwicklung“ zu ernten. Tatsächlich wurden beachtliche Ressourcen für die Förderung der Landwirtschaft, der kommunalen Wirtschaft und der Industrie in die Hand genommen. Die Ergebnisse blieben allerdings ernüchternd. Die Rohstoffabhängigkeit des Landes erreichte während des Chavismus einen historischen Höchststand, der Großteil der Lebensmittel und Konsumgüter musste importiert werden. Die Versorgungskrise hat nicht zuletzt hier ihren Ursprung. Es fehlt an Devisen für die Bezahlung der benötigten Importe.

Die Gründe für das Scheitern der Diversifizierungsstrategie lagen einerseits in der politisch gewollten Überbewertung der Währung. Dieses süße Gift ermöglichte die Konsumausweitung der Bevölkerung, unterminierte aber gleichzeitig die Konkurrenzfähigkeit der venezolanischen Landwirtschaft und Industrie. Importe waren schlicht einfacher und günstiger als die Produktion im Land. Dass die Regierung von Chávez dennoch die Überbewertung aufrecht erhielt, erklärt sich andererseits auch mit dem Misstrauen gegenüber den heimischen Unternehmern, die sich im Machtkampf 2002/2003 größtenteils auf die Seite der oppositionellen Putschisten schlugen. Demgegenüber versprach die Förderung des Imports im Boom nicht nur eine schnelle und deutliche Verbesserung der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Konsumgütern und Luxusprodukten, sondern ermöglichte der Regierung über die Verteilung von vergünstigen Dollar für den Import auch die gezielte Förderung und Begünstigung politischer Verbündeter.

Zweitens widmete sich auch die Bolivarianische Revolution vornehmlich der Verteilung der Renteneinnahmen. Dies bedeutete, im Boom die Verteilung des lange Zeit wachsenden Kuchens der Erdöleinnahmen neu zu justieren, was spürbare soziale Entwicklungserfolge für die sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen auf dem Land und in den urbanen Armenvierteln bedeutete. Gleichzeitig profitierten auch die Mittel- und Oberschicht sowie in- und ausländische Unternehmen von der Rohstoffparty. Während sich die Konsummöglichkeiten der armen Bevölkerung dank subventionierter Lebensmittel, Energie- und Transportpreise, erweiterter Sozialleistungen und Beschäftigungsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst sowie der überbewerteten Währung ausweiteten, genossen Mittel- und Oberschicht die Annehmlichkeiten des Lebens im Erdöl-Sozialismus. Benzin war praktisch kostenlos und spritschluckende Straßenkreuzer waren günstig zu erwerben. Auslandsreisen wurden ebenso wie viele Luxusgüter mit billigen Dollars subventioniert, eine höhere steuerliche Belastung hoher Einkommen und Vermögen wurde nicht in Angriff genommen. Und wer Zugang zu den Schaltstellen der Macht hatte, konnte schnell und weitgehend risikolos ein Vermögen anhäufen. Angesichts des revolutionären Anspruchs des Chavismus überrascht es hierbei, dass auch große multinationale Konzerne wie General Motors, Toyota, Procter & Gamble, aber auch deutsche Firmen wie Bayer oder Lufthansa im Boom dank des Zugangs zu vergünstigten Dollars im venezolanischen Petro-Sozialismus exzellente Geschäftsmöglichkeiten vorfanden. Bis zum Eintritt der Krise war der Chavismus also trotz sozialistischer Rhetorik und einiger Verstaatlichungen also keineswegs ein Schreckgespenst des internationalen Kapitals.2

Drittens entfernte sich die Bolivarianische Revolution angesichts ausbleibender Erfolge bald vom Anspruch, das Entwicklungsmodell zu verändern. Die Segel wurden in Richtung Forcierung der Rohstoffausbeutung gesetzt. Dass die Erdölproduktion dennoch sukzessive sinkt und heute nur noch etwa ein Drittel des Fördervolumens der Hochphase des Chavismus erreicht, ist gleichzeitig Ausdruck und Triebkraft der schweren Krise. Aktuell sucht die Regierung weitgehend erfolglos über die Ausbeutung mineralischer Bodenschätze im Bergbaubogen (Arco Minero) im Süden des Landes den massiven Einbruch der Erdöleinnahmen zu kompensieren (siehe Artikel auf S. 28), während breite Teile der Bevölkerung zunehmend auf Rücküberweisungen von ausgewanderten Familienangehörigen angewiesen sind. Eine alternative wirtschaftliche Grundlage für das Land ist hingegen nicht in Sicht und wird weder von der Regierung noch von der Opposition ernsthaft angestrebt. Venezuela hat die größten Erdölreserven der Welt sowie üppige Lagerstätten weiterer Bodenschätze, weshalb sich die relevanten politischen Kräfte des Landes an den Rentismus klammern und damit an ein ebenso lukratives wie krisenanfälliges Entwicklungsmodell.

Viertens hatten die Bestrebungen zum Aufbau einer „partizipativen und protagonistischen Demokratie“ von Beginn an mit schweren Konstruktionsfehlern zu kämpfen. So hatten die vielbeachteten Kommunalräte kaum eigene Finanzierungsquellen und hingen von der zentralen Mittelzuteilung und damit zunehmend vom guten Willen der Regierung ab. Kritische Stimmen oder gar offene Opposition zur Regierung konnten dann schnell mit finanziellem Liebesentzug bestraft werden. Auch die breite Unterstützung der Regierung bei Demonstrationen hatte oft eher den Charakter von Mobilisierungen und sollte nicht mit Partizipation verwechselt werden. Zentrale Knackpunkte hierfür waren die „Akkumulation der Macht“3 durch die Regierung, damit verbunden die Fokussierung auf die Exekutive, hier insbesondere die Rolle des Präsidenten, sowie die zunehmende Isolierung gegenüber Widerspruch auch aus den eigenen Reihen. In der Krise wurden die autoritären Tendenzen sukzessive stärker, die bereits vorher feststellbare Militarisierung der Politik weiter ausgebaut und demokratische Mindeststandards auf dem Altar des Machterhaltes geopfert. Dennoch kann die Repression den angesichts der langanhaltenden und äußerst heftigen Krise überraschenden Machterhalt der Regierung alleine nicht erklären. Vielmehr profitiert Präsident Maduro von der Schwäche der Opposition; gleichzeitig entlarvt er die Einschätzung vieler Analysten, die den venezolanischen Präsidenten gerne als tumben, ungeschickten beziehungsweise unfähigen Politiker darstellen, als veritable Fehleinschätzung. Als sich die politische Situation während der ersten Jahreshälfte 2019 zuspitzte, erwies sich Maduro vielmehr als geschickter und nervenstarker Machtpolitiker, dessen bester Schachzug der Verzicht auf die naheliegende Verhaftung seines Widersachers Guaidó war.

Die Krise hat vielschichtige Ursachen. Diese umfassen politische Fehler der chavistischen Regierung, die groteske Korruption sowie verbreitetes Missmanagement. Ebenfalls muss die Bedeutung der Sanktionen für die Verschärfung der wirtschaftlichen und sozialen Krise benannt werden. Schließlich hat die rechtswidrige Anerkennung Guaidós durch die USA, viele europäische Staaten einschließlich Deutschlands sowie eine Reihe konservativer Regierungen Lateinamerikas zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Sich allein auf diese Faktoren oder lediglich den personalisierten Machtkampf zwischen Maduro und Guaidó zu fokussieren, birgt jedoch die Gefahr, die tieferliegenden strukturellen Ursachen der venezolanischen Tragödie aus dem Blick zu verlieren und den Weg zu politischen Alternativen für die kurzfristige Krisenbearbeitung sowie eine mittel- und langfristige Strategie zur Überwindung der hartnäckigen Probleme des Landes zu behindern. Die Prägekraft der Tiefenströmungen einer Rentengesellschaft verdeutlicht, dass die Debatte über die Zukunft in Venezuela nicht Namen und Köpfe, sondern Sachthemen in den Vordergrund rücken muss. Dabei gilt es zunächst, kurzfristige Antworten auf die fatale Reduzierung der Fördermenge der venezolanischen Erdölwirtschaft zu finden, die grassierende Armut zu verringern, die Gewaltbereitschaft in der politischen Auseinandersetzung einzudämmen sowie den Einfluss der Militärs auf Politik und Wirtschaft zurückzudrängen. Doch vor allem müssen langfristige Strategien gesucht werden, um Alternativen zur rohstoffbasierten Entwicklung und zur nachhaltigen Reduzierung der sozialen Ungleichheiten zu schaffen. Schließlich lässt die aktuelle Krise keinen Zweifel daran, dass der Erdölexport auch in Zukunft keine Basis für stabile Entwicklungserfolge liefern wird.

Stefan Peters ist Professor für Friedensforschung in Gießen und Direktor des Instituto Colombo-Alemán para la Paz (CAPAZ) in Bogotá. Er hat die Bücher „Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela: Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution von Hugo Chávez“ (Stuttgart: Schmetterling, 2019) sowie „Rentengesellschaften: Der lateinamerikanische (Neo-)Extraktivismus in transregionalem Vergleich“ (Baden-Baden: Nomos, 2019) veröffentlicht.