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Experiment Selbstverwaltung

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Editorial

Menschen schließen sich zusammen und gründen gemeinsam Betriebe, um zu überleben, um gut zu leben oder um ihren Utopien ein Stück näher zu kommen – in Lateinamerika wie auf der ganzen Welt. Das können übernommene Industriebetriebe sein wie Fliesen-, Textil- oder Reifenfabriken, aber auch landwirtschaftliche oder handwerkliche Kooperativen. Selbstverwaltete Produktions- und Konsumgenossenschaften für landwirtschaftliche Produkte stellen einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Ernährungssouveränität dar. Andere wichtige Lebensbereiche, in denen Grundversorgung oft besser kooperativ läuft als staatlich oder privatwirtschaftlich organisiert – wenn dies überhaupt geschieht –, sind Gesundheits- und Bildungswesen sowie das Wohnen. Häufig sind Kooperativen in gesamtgesellschaftlichen Krisen- oder Umbruchzeiten entstanden, bestes Beispiel sind die zahlreichen fábricas recuperadas in Argentinien ab 2001/2002.

Ein ähnlicher Prozess vollzieht sich zurzeit in Griechenland. Kooperativen mit ihrem Grundprinzip der gegenseitigen und kollektiven Hilfe haben eine soziale Schutzfunktion. So weist z.B. der uruguayische Dachverband der Wohnungsbaugenossenschaften FUCVAM darauf hin, dass das Gemeinschaftseigentum an Wohnungen vor deren Verlust in Krisenzeiten schützt.

Auch in Konflikt- und Katastrophengebieten haben sich Kooperativen immer wieder als hilfreich beim Wiederaufbau erwiesen – in der Hinsicht haben wir ein positives Beispiel aus Haiti im vorliegenden Schwerpunkt; in einem anderen Beitrag zum selben Land wird das Spannungsverhältnis zwischen internationaler „Hilfe“ und Selbstorganisierung kritisch unter die Lupe genommen.

Die Bedeutung von Genossenschaften für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung war denn auch Anlass für die Vereinten Nationen, 2012 als das „Internationale Jahr der Genossenschaften“ auszurufen, im Zuge dessen mehr „Bewusstsein“ über Kooperativen geschaffen werden sollte. Dabei ist der Genossenschaftsgedanke alles andere als neu; in Deutschland trat z.B. im Jahr 1889 das Genossenschaftsgesetz in Kraft. Der Ansatz hat sich seitdem halten können. Ähnlich wie manche Klassiker, von denen einer schon 1864 über Kooperativen schrieb: „Der Wert dieser großen Experimente kann nicht überschätzt werden. Durch die Tat, statt durch Argumente, bewiesen sie, daß Produktion auf großer Stufenleiter (…) vorgehen kann ohne die Existenz einer Klasse von Meistern (masters), die eine Klasse von „Händen“ anwendet; dass, um Früchte zu tragen, die Mittel der Arbeit nicht monopolisiert zu werden brauchen als Mittel der Herrschaft über und Mittel der Ausbeutung gegen den Arbeiter selbst, und daß wie Sklavenarbeit, wie Leibeigenenarbeit so Lohnarbeit nur eine vorübergehende und untergeordnete gesellschaftliche Form ist, bestimmt zu verschwinden vor der assoziierten Arbeit, die ihr Werk mit williger Hand, rüstigem Geist und fröhlichen Herzens verrichtet.“ So Karl Marx in der „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation“.

Knapp 150 Jahre später ist die Kooperativenbewegung sehr lebendig, doch ein Grundproblem bleibt, auf das der Autor und Politikwissenschaftler Raul Zelik hinweist: „Der Zwang, sich in der ‚freien Konkurrenz' behaupten zu müssen, führt im besseren Fall zur Anpassung, im schlechteren zum ökonomischen Scheitern solidarischer Projekte. Um sich behaupten zu können, brauchen solidarwirtschaftliche Projekte politischen Schutz – auch in Form von staatlichen Förderprogrammen und Finanzierungen“

Wir haben uns unabhängig von den Vereinten Nationen Gedanken über Kooperativen und Selbstverwaltung in Lateinamerika gemacht: Welche Bedingungen müssen vorherrschen, damit sich die Menschen in Kooperativen zusammenschließen? Welche Probleme können auftreten? Wie ist das Verhältnis zum Staat – von dem z.B. die Enteignung übernommener Fabriken verlangt wird? Können typische Fallstricke, z.B. Selbstausbeutung und informelle Hierarchiebildung, umgangen werden? Wie ist internationale Solidarität möglich

Eins ist klar: Die selbstverwalteten Fabriken in Argentinien z. B. sind nicht geplant entstanden oder gar inspiriert von blumigen Worten internationaler Organisationen, sondern sind Ergebnis von Kämpfen – um Betriebsübernahmen durchzusetzen, waren im Schnitt fünf Monate Besetzung nötig. Ob sie sich anpassen oder ökonomisch scheitern werden, können wir nicht voraussagen. Auf jeden Fall sind sie für ihre Beschäftigten eine – wenn nicht gar die einzige – gangbare und lebensnotwendige Alternative.

Inhaltsübersicht

Schwerpunkt

4  Gekommen, um zu bleiben
Selbstverwaltete Betriebe in Argentinien – mehr als ein Krisenphänomen
 / von Alix Arnold

6  Frischer Wind bei Zanon [1]
Neuquén/Argentinien: Interview mit Raúl Godoy
 / von Alix Arnold

7  Sie wollen gehört werden
Der Film Sachamanta über selbstverwaltete Radios und den Kampf  von Kleinbauern in Argentinien
  / von Alix Arnold

9  Ein Kampf für Würde und Arbeitsrechte
Mexiko: Interview mit Jesus Torres Nuño von TRADOC (Trabajadores Democráticos de Occidente)
/ von Brigitte Lang und Britt Weyde

11  Für einige Themen hat der Ayllu bessere Antworten parat
Bolivien: Entspricht der Ayllu den Erfordernissen unserer Zeit?  / von Peter Strack

14  Kooperativen ohne Kooperation [2]
Was sich hinter den genossenschaftlichen Bergwerken in Bolivien verbirgt  / von Frederik Caselitz

17  Eine Oase im mexikanischen Großstadtdschungel
Die Wohnkooperative Acapatzingo in Mexiko-Stadt  / von Raúl Zibechi

18  Gutes Leben im Urwald?
Utopisch bis illusionsfrei: Die agroökologische Kooperative Calakmul im Süden Mexikos
 / von Uwe Bennholdt-Thomsen

22  Gemeinschaftseigentum als Schutz in Krisenzeiten [3]
Interview mit Fernando Zerboni vom uruguayischen Verband der Wohnungsbaukooperativen
FUCVAM  / von Alix Arnold und Britt Weyde

25  Selbstverwaltung von oben?
Postneoliberalismus und soziale Infrastruktur in Venezuela  / von Michael Karrer

28  Mehr Selbstbewusstsein für die Frauen
Weil sie von der Regierung nichts zu erwarten haben, organisieren Haitis Erdbebenopfer
ihr Leben selbst  / von Hans-Ulrich Dillmann

30  Das Versprechen einer unvollendeten Revolution
Politische Selbstorganisation in Haiti  / von Peter Scheiffele

33  Wo Kinder gemeinsam investieren
Das Kleinkreditprogramm PROMINATS der peruanischen Organisation Arbeitender Kinder
 / von Peter Strack

34  Gründet Arbeitskollektive!
Interview mit dem Kaffeekollektiv Aroma Zapatista  / von Dominik Gilgenbach

37  Unsere Waffe sind die Ideen
Interview mit der honduranischen Kaffee-„Kooperative“ COMSA  / von Laura Held

40  Gefestigt, aber auch flexibel
Uruguay: Die Murga-Gruppe Agarrate Catalina hat sich zur kulturellen Kooperative gewandelt
 / von Sofi Richero

42  Aktualität von Arbeiterkontrolle und Rätebewegungen [4]
Buchbesprechung: Die endlich entdeckte politische Form  / von Christian Frings

Berichte & Hintergründe

44  Der schwierige Kampf um Autonomie
Cucuta hat als erste bolivianische Gemeinde die juristische Selbstverwaltung erklärt
 / von Sylvia Hörner und Bernd Löffler

46  Gar nicht so weit auseinander
Thema der Friedensverhandlungen in Kolumbien ist auch die Land- und Agrarpolitik
 / von Juanita León

48  Kolumbien: Friedensverhandlungen, mitten im Krieg
 / von Bettina Reis

49  Freihandel weiter auf dem Vormarsch [5]
Mehrheit im Europaparlament für Abkommen mit Peru, Kolumbien und Zentralamerika
 / von Ska Keller und Thilo Hoppe

50  Correa vor historischem Sieg?
Vorwahlpanorama in Ecuador  / von Frank Braßel

52  Zapatistas demonstrieren Stärke
Friedliche Massenaktion der EZLN im mexikanischen Chiapas  / von Luz Kerkeling

55  2013 ist das Jahr des Widerstands
Mexikanische Bauernorganisationen und städtische Bewegungen bündeln Kräfte gegen Genmais 
 von Gerold Schmidt

56  Brandanschlag mit Folgen [6]
Der Konflikt im Süden Chiles spitzt sich zu  / von Laura Winkler

Ländernachrichten / Poonal

58  Mesoamerika, Peru, Costa Rica, Uruguay, Bolivien, Dominikanische Republik/Haiti

Solidaritätsbewegung

61  Internationale Solidarität neu lernen [7]
Tagung „cross solidarity – Internationalismus in der Krise“
vom 26. bis 27. April 2013 in Wuppertal

62  Notizen aus der Bewegung, Impressum

Titelfoto: Hans-Ulrich Dillmann


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Links:
[1] https://www.ila-web.de/ausgaben/362/frischer-wind-bei-zanon
[2] https://www.ila-web.de/ausgaben/362/kooperativen-ohne-kooperation
[3] https://www.ila-web.de/ausgaben/362/gemeinschaftseigentum-als-schutz-in-krisenzeiten
[4] https://www.ila-web.de/ausgaben/362/aktualit%C3%A4t-von-arbeiterkontrolle-und-r%C3%A4tebewegungen
[5] https://www.ila-web.de/ausgaben/362/freihandel-weiter-auf-dem-vormarsch
[6] https://www.ila-web.de/ausgaben/362/brandanschlag-mit-folgen
[7] https://www.ila-web.de/ausgaben/362/internationale-solidarit%C3%A4t-neu-lernen