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Gemeinschaftseigentum als Schutz in Krisenzeiten

Interview mit Fernando Zerboni vom uruguayischen Verband der Wohnungsbaukooperativen FUCVAM

Die Wohnungsbaukooperativen des Uruguayischen Dachverbands FUCVAM (Federación Uruguaya de Cooperativas de Vivienda por Ayuda Mutua) setzen auf gegenseitige Hilfe und gemeinschaftlichen Besitz. Am 17. Dezember 1968 wurde das Wohnungsbaugesetz Ley de Vivienda 13.728 verabschiedet und die Gründung eines Nationalen Wohnungsbaufonds beschlossen. Die Währungseinheit, in der die Kredite vergeben und auch wieder zurückgezahlt werden, ist die Unidad Reajustable (UR), eine jährlich neu an das durchschnittliche Lohnniveau angepasste Einheit, die z.B. im Jahr 1968 1000 uruguayische Pesos betrug und im Januar 2013 609 Pesos (31 Euro). Dieses Gesetz legt außerdem fest, dass der Kreditnehmer 15 Prozent des Gesamtwerts der Wohnung aufbringen muss. Bei FUCVAM können die Kooperativenmitglieder diesen Eigenbeitrag entweder in Form von Geld oder von Arbeit einbringen. In den Kooperativen wird dieser Beitrag als gemeinschaftliche Arbeit geleistet, deshalb heißen sie Kooperativen für „gegenseitige Hilfe“. Während die Kooperativenmitglieder die Wohnungen bauen, wissen sie nicht, welche Wohnung später ihre eigene sein wird. Das Gesetz legt außerdem fest, dass die Kooperativenmitglieder nach ihrer Fertigstellung die Wohnungen als EigentümerInnen oder als NutzerInnen bewohnen. Im zweiten Fall ist jedes Kooperativenmitglied NutzerIn der Wohnung, die er/sie zugesprochen bekommen hat; Eigentümer ist die Kooperative. Jedes Mitglied hat einen Nutzungsvertrag für die Wohnung. Da die FUCVAM-Kooperativen dem zweiten Typus entsprechen, wird von Gemeinschaftsbesitz der Wohnkomplexe gesprochen. Die Kooperative erhält den Kredit; während der Bauphase fungiert sie als Bauherrin. Das Unternehmen wird selbstverwaltet und auf der Grundlage von direkter Demokratie vom Kollektiv gesteuert. Diese vier Prinzipien – gegenseitige Hilfe, Gemeinschaftsbesitz, Selbstverwaltung und direkte Demokratie – bilden eine dialektische Einheit, ohne die das Modell nicht funktionieren würde.

Alix Arnold
Britt Weyde

Kannst du uns beschreiben, wie die Schritte bei der Gründung einer Kooperative bei FUCVAM aussehen?

Eine Gruppe aus mehreren Familien schließt sich zusammen, um auf diesem Weg an Wohnungen zu gelangen. Diese Gruppe muss aus mindestens zehn und höchstens 50 Parteien bestehen. Der Entschluss der Gruppe, eine Kooperative zu gründen, muss auf einer Versammlung getroffen werden und notariell beglaubigt sein. Danach bestimmt die Versammlung die Statuten, die dem Kulturministerium vorgelegt werden, damit es dieser neu gegründeten Kooperative den Status einer juristischen Körperschaft verleiht. Die Kooperative hat laut Statuten vier Organe. Das höchste Organ ist die Mitgliederversammlung, in der jede Familie eine Stimme hat und in der bis auf einige Ausnahmen per einfacher Mehrheit entschieden wird. Um z.B. die Statuten selbst abzuändern, ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Dann gibt es noch den Verwaltungsrat, die Kommission für soziale Entwicklung sowie die Finanzkommission. Diese Organe werden durch geheime Wahl für zwei Jahre bestimmt, mit der Möglichkeit zur Verlängerung für zwei weitere Jahre. Danach muss das Kommissionsmitglied sein Amt abgeben, kann aber für eine andere Kommission tätig werden.

Häufig werden die Grundstücke für eine neue Kooperative besetzt. Ist das nicht illegal?

Das Besetzen von Ländereien war schon immer illegal; das wurde jedoch bis 2006 nicht weiter strafrechtlich verfolgt, außer wenn die Besetzungen während der Nacht oder mit Gewalt vollzogen wurden.

Deshalb fanden z.B. auch die Besetzungen von 1989 und 1991 am helllichten Tag statt, verliefen friedlich und betrafen staatliche Grundstücke, was immer von Vorteil ist. Bis auf eine Ausnahme wurde auf allen diesen ehemals besetzten Grundstücken Wohnkomplexe errichtet. Heutzutage sind alle Besetzungen strafbar. Doch als Tabaré Vázquez (von dem Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio, d. Red.) im Jahr 1990 den Bürgermeisterposten von Montevideo übernahm, schuf er ein Verzeichnis von Grundstücken für den Wohnungsbau. Seitdem auch noch andere Gemeinden Grundstücke zur Bebauung freigegeben haben, werden zwar noch Besetzungen vorgenommen, die aber eher symbolischen Charakter haben und viel mehr das Ziel verfolgen, einen politischen Erfolg zu erzielen und zu verhandeln, als darauf zu bleiben.

Die Grundstücke, die zur Bebauung freigegeben werden, sollen der Kooperative ermöglichen, dass sie ihr Bauvorhaben durchführt und einen Kredit vom Wohnungsministerium bekommt. Wenn sie den Kredit bekommen hat, muss sie zehn Prozent davon an die Körperschaft zahlen, die das Grundstück beschafft hat.

Während der Grundstücksbesetzung und des Baus der Wohnungen wird vieles gemeinschaftlich angegangen. In der Bauphase scheint die Kooperative eine organisierende und mobilisierende Rolle zu haben. Wenn die Leute erst einmal ihre Wohnungen bezogen haben und der Alltag eingekehrt ist, können dann der kollektive (Kampf-)Geist und das gemeinschaftliche Leben aufrechterhalten werden?

Zunächst schließt sich eine Familie einer Kooperative an, weil sie ihr Wohnungsproblem lösen muss; danach, im Zuge der Beteiligung, wird für einige der compañeros daraus eine Art zu Leben, eine Art Probleme anzugehen – im Alltag, auf der Arbeit, im Hinblick auf Gesundheit und Erziehung etc.. Wenn die Wohnungen fertig gebaut sind und der Alltag eingezogen ist, hören viele mit ihrem Engagement für die Kooperative auf. Das System, in dem wir leben, arbeitet täglich auf ideologischer Ebene gegen eine solche Lebensform und Sicht auf die Welt an. Es ist die Aufgabe derjenigen compañeros, die die Kraft und den Wert des gemeinschaftlichen Lebens und der kollektiven Anstrengungen begriffen haben, diesen Geist innerhalb der Kooperative aufrecht zu erhalten und weiterzuentwickeln. Der gemeinschaftliche Besitz ist auf jeden Fall ein gutes Argument, bei der Lösung von Problemen, die alle betreffen, Beteiligung zu verlangen. So müssen z.B. Probleme, die die Rückzahlung des Kredits betreffen, kollektiv angegangen werden. Ebenso ist es bei Problemen mit der Kommunalverwaltung etc.

Der Dachverband FUCVAM vertritt die Interessen der Kooperativenmitglieder und verhandelt mit dem Staat über Probleme und ihre Lösungen. Das erfordert, dass die Kooperativen nach innen ihre Selbstverwaltung aufrechterhalten. Der Kampf bleibt nach wie zuvor bestehen: um den Erhalt der Wohnungen, um neue Kredite für neue Kooperativen sowie um neues Land für Bauvorhaben.

Während der Militärdiktatur (1973-1985) spielten die Wohnkooperativen eine wichtige Rolle im Widerstand, als Zufluchtsort für Oppositionelle und als Raum für Organisierung. Welche Rolle haben die Kooperativen heutzutage? Stellen sie nach wie vor eine soziale Bewegung dar, eine Grundlage für Selbstverwaltung, einen Ort für unabhängige Organisierung?

Die ständige Interessensvertretung der Kooperativen hat sie zu einer starken sozialen Bewegung gemacht. Sich dafür einzusetzen, dass die Selbstverwaltung eine Art und Weise ist, das Leben anzugehen und andere Beziehungen zu entwickeln, stellt den ideologischen Wert dar, worauf sich die soziale Arbeit der Bewegung gründet.

Zurzeit sind 293 bewohnte Kooperativen Mitglied bei FUCVAM, 209, die sich in einer Gründungsphase befinden und 51 in der Bauphase. Um einen Kredit bekommen zu können, legt das Wohnungsbaugesetz fest, dass die Familien ein Gesamteinkommen unter 60 UR haben dürfen (etwa 2000 Euro monatlich), was zur Folge hat, dass die Familien aus der Arbeiterschicht kommen, vor allem diejenigen, die am allerwenigsten Einkommen haben. Bis zum Jahr 2008 musste sich das Gesamteinkommen dieser Familien zwischen 30 und 60 UR bewegen, danach zwischen 0 und 60 UR. Insofern sind Familien mit sehr geringem Einkommen – 400 oder 500 Euro monatlich – in den Kooperativen keine Seltenheit. In Folge der Diktatur und der neoliberalen Politik, die die industriellen Arbeitsplätze im Land zerstört haben, sind Familien zu uns gestoßen, die sehr wenig organisierte Bewegungserfahrung haben. Das ist ein Unterschied zu den Anfängen der Bewegung, als sie im Rahmen einer ausgeprägten sozialen Konfrontation entstand und es starke soziale Organisationen und Gewerkschaften gab. Das verpflichtet uns, beständig für die Weiterbildung der compañeros zu sorgen. Die Weiterbildung ist heute mehr denn je ein zentrales Element unserer Aktivitäten.

Ihr verlangt, dass es ein Bestandsverzeichnis der Ländereien gibt, warum?

Damit eine Kooperative einen Kredit beantragen kann, muss sie mehrere Unterlagen einreichen: Nachweis über die juristische Körperschaft, Vertrag mit einem Institut für Technische Unterstützung (IAT) und einen Projektvorschlag für das Bauvorhaben. Um ein Projekt zu präsentieren, braucht sie ein Gelände. Es geht nicht um ein mögliches, sondern um ein konkretes Projekt auf einem bestimmten Grundstück. Da die Kooperativenmitglieder den Bau leiten und das Projekt einreichen, dafür aber nicht über das nötige Fachwissen verfügen, treten sie mit einem IAT in Verbindung, das in Zusammenarbeit mit der Kooperative das Projekt entwickelt. Da die Kooperative kein Geld für den Kauf von Ländereien hat, ist erreicht worden, dass der Staat die Länder für die Bauprojekte verleiht – und das läuft über das Bestandsverzeichnis –, die dann später von der Kooperative mit Hilfe der Kredite bezahlt werden. Mit diesem Geld kauft der Staat neue Grundstücke.

Was genau ist der Plan JUNTOS und was haltet ihr davon?

Darauf gibt es zwei Antworten in Bezug auf das, was sie vorhatten, und das, was dabei herausgekommen ist. Das Vorhaben JUNTOS (span. „zusammen, gemeinsam“, d. Red.) hatte zum Ziel, das Wohnungsproblem von Familien in extremer Armut zu lösen, indem an die Solidarität der Bevölkerung appelliert wird. Das beinhaltete zum einen, bestehende Wohnungen zu verbessern, zum anderen neue, sehr preisgünstige Wohnungen zu bauen. Es wurde auf Solidarität in Form von Geld, Material etc. von Privatleuten oder auch als Arbeitseinsätze abgezielt, und zwar alles außerhalb der eigentlich zuständigen staatlichen Strukturen, d.h. dem Wohnungsministerium, gleichzeitig aber mit Unterstützung aller Ministerien, die mit der Bekämpfung der extremen Armut zu tun haben: Wohnungs-, Gesundheits-, Kulturministerium sowie des Ministeriums für Soziale Entwicklung und anderer Institutionen wie der Armee und der staatlichen Erdölraffinerien ANCAP. Im Endeffekt blieben die Beiträge der Privatpersonen hinter den Erwartungen zurück und die Unterstützungsleistungen der jeweiligen Ministerien wurden durch unterschiedliche Herangehensweisen und bürokratische Hindernisse erschwert.

Die sozialen Organisationen wurden nur sehr zögerlich eingebunden, weil ihnen nicht recht vertraut wird. FUCVAM sollte sich z.B. an dem Bau eines Stadtteils mit 400 Wohnungen beteiligen, zur Hälfte Kooperativenwohnungen, die andere Hälfte für umgesiedelte Familien im Rahmen des Plan JUNTOS, um so von unserem Erfahrungsschatz bei der Organisierung zu profitieren. Das wurde vor zwei Jahren beschlossen. Die Kooperativen haben noch immer nicht den Kredit bekommen, um mit dem Bauvorhaben zu beginnen. Außerdem wollten sie mit Sozialarbeit mit den umgesiedelten Familien beginnen, um eine bessere Integration im Stadtteil hinzubekommen, doch den Kooperativen wurde der Zugang zu ihnen verwehrt. Meiner Meinung nach wollten sie die staatliche Bürokratie umgehen, um das Wohnungsproblem zu lösen, allerdings ohne jegliche Kenntnisse von der Problematik und ohne die notwendigen Maßnahmen anzuwenden. Deshalb blieb alles auf halber Strecke liegen. Das Wohnungsproblem muss mit mittel- und langfristigen, nachhaltigen Maßnahmen angegangen werden, und nicht mit Maßnahmen, die gerade in Mode sind und nur ein Pflaster sein können. Vielleicht wäre das Ergebnis anders ausgefallen, wenn es bei dem Vorhaben starke staatliche Vorgaben gegeben hätte.

Was haltet ihr von dem Wohnungsbauvorhaben des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT?

In einem wesentlichen Punkt weichen wir von dem Vorhaben des Gewerkschaftsverbandes ab. Sie wollen Kooperativen mit EigentümerInnen, wir hingegen mit NutzerInnen. Die Arbeiter sollten an der Herausbildung des kollektiven Bewusstseins arbeiten, das Privateigentum ist nicht der richtige Weg. Außerdem ist das gemeinschaftliche Eigentum der beste Weg, um den Verlust der Wohnungen in Krisenzeiten zu verhindern.

Fehlendes (Bau-)Land betrifft nicht nur die Stadtbevölkerung, sondern auch die Menschen auf dem Land. Gibt es in der Hinsicht gemeinsame Strategien?

Die Landfrage ist in der Tat ein allgemeines Problem. Auf dem Land gibt es vor allem das große Problem des Ausverkaufs von Land an ausländische Käufer. Bisher gibt es keine gemeinsamen Strategien, aber erste Überlegungen.

Inwiefern gefährdet das Gesetz Nr. 18.407 das gemeinschaftliche Eigentum der Kooperativen?

Der Mechanismus des gemeinschaftlichen Eigentums legt fest, dass jedes Kooperativenmitglied über soziales Kapital verfügt: Zum einen die zwei UR, die es bei Eintritt in die Kooperative zu zahlen hat (zurzeit etwa 63 Euro), die geleisteten Arbeitsstunden während der Bauphase (die nach dem Stundenlohn eines Bauarbeiters berechnet werden und bei denen es keine Unterscheidung im Hinblick auf unterschiedliche Arbeiten gibt) sowie die geleisteten Rückzahlungsraten des geliehenen Kapitals. Wenn ein Mitglied die Kooperative verlässt, hat er/sie das Recht, dieses soziale Kapital abzuziehen. Wenn dies noch in den ersten zehn Jahren in der Kooperative geschieht, muss er/sie es begründen, danach kann er/sie das ohne einen größeren triftigen Grund machen. Die Kooperative muss ihm/ihr den Betrag des angesammelten sozialen Kapitals ausbezahlen, abzüglich zehn Prozent, um die Wohnung für das neue Mitglied zu renovieren.

Nachdem das alte Mitglied gegangen und die Wohnung renoviert worden ist (es wird neu gestrichen, das Abwassersystem überprüft, eventuelle Feuchtigkeitsschäden werden behoben), wird ein neues Mitglied gesucht, das das Kapital mit einbringen muss, das das alte Mitglied abgezogen hat. Dieser Mechanismus vollzieht sich über den Verwaltungsrat und geschieht unabhängig vom möglichen Marktwert der Wohnung. Dieser Wert zählt nicht, der Tausch wird über das akkumulierte soziale Kapital getätigt. Das neue Mitglied wird auch erst dann gesucht, wenn das alte Mitglied bereits gegangen ist. Das ist ein starker Rückhalt für das gemeinschaftliche Eigentum.

Das Gesetz 18.407 ermöglicht es nun, dass das auszugswillige Mitglied dem Verwaltungsrat ein neues Mitglied vorschlägt, was ihn/sie in die Lage versetzt, einen extra Betrag vom neuen Mitglied zu verlangen, da er/sie ihm ja Schützenhilfe bei der Kooperative gibt. Und die Kooperative selbst bekommt von diesem Deal nichts mit. FUCVAM hat bereits darauf gedrängt, diesen Aspekt des neuen Gesetzes zu korrigieren, was vom zuständigen parlamentarischen Ausschuss auch angenommen wurde; zurzeit warten wir darauf, dass darüber abgestimmt wird.

Die Fragen stellten Alix Arnold und Britt Weyde per E-Mail im Januar 2013. Übersetzung und schriftliche Bearbeitung: Britt Weyde