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Haiti

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Editorial

Wer zu früh kommt, den straft die Geschichte? So könnte der Gorbi-Spruch in abgewandelter Form auf die tragischen Ereignisse auf dem halben karibischen Eiland Haiti angewandt werden. Ein dominikanischer Flughafenarbeiter hatte sich genau in diesem Sinne wenige Tage nach dem Militärputsch gegen Präsident Aristide ausgedrückt: „Die Haitianer sind noch nicht reif für diesen zweiten Unabhängigkeitskampf.“ Was immer der Hintergrund für seine Feststellung gewesen sein mag – die Entwicklung der letzten zweieinhalb Jahre hat ihm Recht gegeben. Die Leichtigkeit und die Dreistigkeit, mit der eine 7000 Köpfe zählende Armee – zugegebenermaßen im Verein mit einigen zigtausend bezahlten Totschlägern – unter den Augen der Weltöffentlichkeit eine Bevölkerung von 7 Mio. in Schach halten kann, ist schon ein schwerwiegendes Argument für die obige Behauptung.

Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Existenz einer rettungslos zerstrittenen politischen Klasse in Haiti, die augenscheinlich weder die Kraft noch den Willen hat, ernsthafte Schritte zur Beendigung dieses Zustandes totaler Rechtlosigkeit und Willkürherrschaft zu unternehmen. Wie streunende Hunde sind seit dem Putsch vom 30. September 1991 Tausende von Menschen einfach abgeschossen worden, gefoltert, gejagt und gezwungen worden, sich versteckt zu halten. In übereinstimmenden Berichten verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist die Rede von über 500 000 internen Flüchtlingen. Wieviele Menschen auf der Flucht vor den Terroristen im „grausamen Blau“ (Anna Seghers) der karibischen See den Tod gefunden haben, weiß niemand genau. Das Maß an Leid, das von den Militärs und ihren ausgehaltenen Banden Tag für Tag jenem Volk zugefügt wird, das als erstes in Amerika die Lektion der Französischen Revolution auf sich angewandt hatte, übersteigt jegliches Fassungsvermögen.

Um so unfaßbarer ist es, wie große Teile der politischen Klasse in Haiti selbst die vollständige Amnestie für diese Verbrecher bzw. ihren Einschluß in eine „Regierung der nationalen Versöhnung“ als eine Vorbedingung für eine eventuelle Rückkehr Aristides fordern können. Übertroffen wird die Niedertracht solcher politischer Kreise in Haiti eigentlich nur noch von der Scheinheiligkeit der internationalen Staatengemeinschaft – um gar nicht erst von jener des Vatikans zu sprechen, der der Mörderbande von Anfang an seinen Segen erteilte. Mit den zahlreichen UN-Resolutionen und Ultimaten an die Adresse der Putschisten haben die internationalen Instanzen einen Grad an zahnloser Inkonsequenz dokumentiert, der sich in Zukunft noch bitter rächen wird, denn ähnlich korrupte Cliquen wie in Haiti warten auch in anderen Regionen auf ihre Chance zur Abrechnung mit den selbstbewußter werdenden Völkern.

Im vergangenen Herbst noch international begehrtes Medienobjekt wegen des sich anbahnenden Showdowns zwischen dem Killer-General und dem Priester-Präsidenten finden sich heute nur noch sporadisch nichtssagende Meldungen über das haitianische Drama im deutschen Blätterwald. Die vorläufig letzte war die zur bevorstehenden Schließung der deutschen Botschaft in Port-au-Prince. Sparmaßnahme, Herr Kinkel? Oder eine außenpolitischen Opportunitätsgründen folgende deutliche Geste gegenüber dem HaUSherrn im karibischen Vorhof? Haiti ist halb so groß wie der mexicanische Bundesstaat Chiapas, hat aber doppelt so viele Einwohner und noch viel größere Probleme. Stammen die Vorfahren Zapatas nicht eigentlich aus Haiti?

P.S. Die vorliegende Ausgabe ist als Gemeinschaftsproduktion von ila und Haiti-Info (Wiesbaden) entstanden. Sie geht selbstverständlich auch den Haiti-Info-AbonnentInnen zu.

Inhaltsübersicht

Schwerpunkt

8    Michel-Rolph Trouillot
Leta = Staat = Tyrann
Über 200jährige Tyrannei des Staates gegen die Gesellschaft

 9    Haiti-Info e.v.
Die Entwicklung der Ereignisse seit dem 30. Oktober 1993

10    Kim Ives
Entmachtung eines Präsidenten
Teile der haitianischen Linken kritisieren Aristides Verhandlungspolitik

13    Heiner Rosendahl
Haiti hautnah
Tagebuchaufzeichnungen als UN-Beobachter in Haiti

17    Kurzer Lehrgang über die Demokratie
Haitianische Ordensleute zur Forderung nach einer
Regierung der „Nationalen Versöhnung“

19    Barbara Briggs/Charles Kernaghan
Ein ausbeuterisches Entwicklungshilfemodell
Die US-Organisation für Internationale Entwicklung (AID) in Haiti

22    Carole Sambale-Tannert
Die Henker und ihre Herren
Die haitianische Armee zwischen Fremdbestimmung und Selbstbehauptung

26    Jean Jean-Pierre
Die zehnte Provinz
Die haitianische Gemeinde in den USA

30    Jean Bertrand Aristide
Das Martyrium von Saint-Jean-Bosco
Vorabdruck aus der Autobiographie von Jean Bertrand Aristide

32    Jeannot Hilaire
Sprache ist Bewußtsein
Haiti und seine Nationalsprache

38    Margaret Gill
Die Marktfrau als Kultbild
Die haitianische Kunst, das Gegenteil von „l’art pour l’art“

40    Anja Bendix
Widerstand aus der Ferne
Ein Exkurs in die haitianische Literatur

Berichte & Hintergründe

42    Pablo Medina
Über Mäuse, Vögel und Fledermäuse
Über die politische Zoologie Venezuelas

44    Gerold Schmidt
Zapatistas wieder in San Cristóbal
Die Verhandlungen der EZLN mit dem Regierungs-beauftragten haben begonnen

46    Danuta Sacher
Vom Verhandlungstisch auf den Präsidentensessel?
Der Beauftragte der mexicanischen Regierung Camacho Solís
hat weitergehende politische Ambitionen

48    Günter Koschwitz
Cuba: Weder Himmel noch Hölle
Gegen Blockadegedenken – für Dialog und Zusammenarbeit

52    C.R.R.
Je dollar desto besser
Die Dollarisierung durchdringt den Alltag der cubanischen Bevölkerung

54    Gert Eisenbürger/Gaby Küppers
Chile: »...das bislang Versteckte sichtbar machen«
Interview mit Rolando Jiménez von der „Bewegung für die Befreiung der Homosexuellen“ (MOVILH)

Ländernachrichten

58    Guatemala, Uruguay, Mexico, Chile

Solidaritätsbewegung

60    Eduardo J. Vior
Perspektiven der Lateinamerika-Solidarität in Deutschland
Ein Beitrag für eine notwendige Strategie-Debatte

62    Ines Goebel
Colonia Dignidad – Von der Psychosekte zum Folterlager
Buchbesprechung

63    Stefan Neumann
Indígenas im bolivianischen Tiefland
Buchbesprechung

64    Notizen aus der Bewegung
66    Termine
67    Zeitschriftenschau, Impressum

Titelbild unter Verwendung eines Fotos von Alex Webb

Diese Ausgabe entstand in Zusammenarbeit mit dem Haiti-Info, Wiesbaden


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