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Neoliberalismus

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Editorial

Für Tamagotchis gibt es jetzt Friedhöfe. Dort ist auch Platz für das zusammengebrochene Kartenhaus Yamaichi. Die thailändische Währung Baht ist schon im Sommer badengegangen, und der Won (südkoreanische Währung) wird derzeit in den Wok geschlagen. Ob die vor der gelben Gefahr zitternden KleinbürgerInnen sich darüber freuen, ist am Stammtisch zu erfahren. Sicher ist, daß sich die nordamerikanischen und australischen Konzerne über ihre Regierungen freuten, die beim letzten Gipfel des „Asiatisch-pazifischen Wirtschaftszusammenschlusses“ die asiatischen Kollegen eindringlich mahnten, endlich beherzter zu deregulieren. Zeitgleich bestand die FDP auf ihrer Koppelung von Mehrwertsteuererhöhung und Strukturreform der Rentenversicherung – womit nicht die Reform ungerechter Strukturen, sondern schlicht die Privatisierung gemeint ist.

Von den Börsenplätzen über die Konferenzsäle bis in Westerwillis Parteizentrale dasselbe Lied: niedrige Löhne und so wenig gesellschaftliche Absicherung wie möglich. Aber warum sollen die Altersrenten unbedingt privatisiert werden? Diese riesigen Geldmengen sind bisher vielerorts noch der kapitalistischen Verwertung entzogen, weil sie als anteiliger Lohn der arbeitenden Bevölkerung direkt wieder in den Konsumfonds zurückgeführt werden. Sind diese Gelder, einmal verkapitalisiert, nicht eine Gefahr für die Weltwirtschaft, wenn sie zinsheckend die Volkswirtschaften durchwabern? Für wessen Weltwirtschaft?

Wenn die Börsenkräche in Asien die eh schon überbewertete brasilianische Währung in Bedrängnis bringen, dann gibt Cardoso Antwort auf diese Frage. Erstens ein Sparpaket für das gemeine Volk. Zweitens die Zinsen hoch. Wenn das ins Auge geht, wie weiland in Mexico, dann ist da wieder das gemeine Volk, um es auszubaden. Das Rezept lautet in jedem Fall: Es gibt nie zu viel Neoliberalismus, sondern immer zu wenig.

Das verrät den Hang zum Größeren. Die feindliche Übernahme der US-Telefongesellschaft MCI durch den Konkurrenten WorldCom für 37 Milliarden US-$ (mehr als doppelt soviel wie die IWF-Stütze für die ganze thailändische Volkswirtschaft) zeigt den Infantilismus, der dahintersteckt. In der Wirtschaftsordnung, die von sich behauptet, die denkbar rationalste zu sein, jagte WorldCom Boss Bernie Ebbers in der Art eines pubertierenden Jünglings das Angebot in die Höhe. Feindliche Übernahmen zu unrealistischen Preisen häufen sich, wenn die Aktienkurse im Höhenflug sind, wenn sie von der konkreten Produktionssphäre abheben. Das Geschrei auf den Börsen zeigt dann etwas später an, daß das Produktivkapital mal wieder überbewertet war.

Neuerdings beruhigen Kommentatoren sich und ihre Umwelt mit dem Hinweis, daß die Kleinaktionäre die Nerven behalten. Warum auch nicht? Daß nicht immer gewonnen wird, kennen sie vom Lottospiel. Und im übrigen tun sie, was von ihnen seit Erfindung der Aktiengesellschaften erwartet wird: Sie spielen das Kleinvieh, das auch Mist macht. Ob Aktienkäufe durch Kleinanleger, Lohn- und VerbraucherInnensteuern, Kürzungen der Sozialeinkommen – immer fließt das Geld den Berg hinauf. Verkehrte Welt.

So soll es auch sein. Und der Staat soll in der Logik der Neolibis nur noch soweit finanziert werden, wie er zur Aufrechterhaltung der privaten Reichtümer notwendig ist. In diesem Sinne soll er für innere Sicherheit und äußere Angriffsfähigkeit sorgen. Aber null Toleranz, wenn die Ausgeschlossenen nicht nur Aktien kaufen, Lotto spielen und Loveparades veranstalten, sondern untereinander aggressiv werden. Gewalt an den Schulen, Ausländerkriminalität, Jugendkriminalität. Wo die Leute Ehrfurcht vor den Mächtigen und Angst vor ihresgleichen haben, ist die Welt verkehrt. Wäre sie es nicht, würde anstatt von der Jugendkriminalität auf der Straße von der Seniorenkriminalität hinter den verschlossenen Türen der Geldburgen gesprochen.

Nichts gegen verkehrte Welten, in denen Männer der Frauen Last tragen und Weiße nicht eine imaginierte Bürde, sondern die der Schwarzen. Die verkehrte Welt des Neoliberalismus aber wollen wir auf die Barfüße stellen. Unseren Beitrag dazu sehen wir an dieser Stelle in jener Art von Informationen und Kommentaren, die des Kaisers neue Kleider offenbaren, um nach der Ehrfurcht dann die Furcht zu verlieren. In diesem Sinne bringt diese Ausgabe einige Beiträge über den lateinamerikanischen Neoliberalismus am Ende des Jahrtausends. In der nächsten Ausgabe werden wir das Thema fortsetzen und uns den sozialen Akteuren und ihren Emanzipationsperspektiven im nächsten Jahrtausend widmen.

Inhaltsübersicht

Schwerpunkt

4    Paul Cliche
Mythos der Unveränderbarkeit
Globale Tendenzen in Politik und Wirtschaft

 7    Eduard Fritsch
„Trickle down“ und Pferdeäpfel
Wie der Neoliberalismus über Lateinamerika kam

11    Eduard Fritsch
Aufblühendes Lateinamerika?
Was ist dran am Gerede vom Aufschwung nach einem „verlorenen“ Jahrzehnt?

13    Pedro Morazán
Von der Kompradorenbourgeoisie zum Juniorpartner?
Veränderungen in den Beziehungen USA – Lateinamerika

16    Franz J. Hinkelammert
Der Orkan der Globalisierung

Berichte & Hintergründe

22    Ernesto Kroch
Ein Hotel als Zankapfel
Heftige Konflikte in der Linken Uruguays

24    Werner Lamottke
Papier ist geduldig
Guatemala: Die Realität des Friedensprozesses auf dem Land

26    Catherine Orenstein
Sag mir, wo die Schweine sind...
Haitis Putschisten genießen das Leben in den USA

Kulturszene

27    Serafim Ferreira
Mein Name ist Niemand
Ein Roman über illegale Emigranten in Deutschland.
Interview mit dem Autor Carlos A. Azevedo

29    Neue Reihe: Poesila
Lateinamerikanische Gedichte, vorgestellt und übersetzt von Margrit Klingler-Clavijo

29    Homero Aridjis
Descenso a la Ciudad Poluta/Abstieg in die verschmutzte Stadt

30    Gaby Küppers
Unter der Sonne Kaliforniens
Interview mit der argentinischen Autorin Alicia Kozameh

33    Gaby Küppers
Wortergreifen nach der Amnesie
Der Roman „Straußenbeine“ von Alicia Kozameh

Aus-Sprache

34    AusSprache: Juan Pineda Zaldívar

35    Juan Pineda Zaldívar
Sensemayá – Chatelet
Erzählung

Lebenswege

38    Gustavo Ceballos/Gert Eisenbürger
Ich war eher so ein Außenseiter [1]
Der Fotograf und Filmemacher Walter Reuter (Mexico)

Ländernachrichten / Poonal

44    Spanien, Venezuela, Paraguay, Guatemala, Mexico, Nicaragua, Brasilien, El Salvador, Kolumbien

Solidaritätsbewegung

48    Bio-Business und Menschenrechte
Misereor und Franziskaner gegen Vertreibungen im kolumbianischen Regenwald

49    Gaston Kirsche
EZLN: Soziale Befreiung jenseits von Staat und Nation?
Diskussionsbeitrag der Hamburger Gruppe demontage

53    Wolfgang Bronclik
Galeanos Ballgeflüster
Buchbesprechung

54    Notizen aus der Bewegung    

55    Termine, Zeitschriftenschau, Impressum


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