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Studieren in Lateinamerika

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Editorial

Warum begeben sich Studierende ins Ausland, um sich ein oder gar mehrere Semester lang in einer fremden Sprache im Wissenschaftsbetrieb zu tummeln? Ist es Abenteuerlust, das Streben nach Zusatzqualifikationen, Engagement für das Studienfach oder nur der schnöde Gedanke, auf diese Art und Weise Kohle abzuzocken, um schließlich einen verlängerten Urlaub machen zu können? Wenn sich die ausgewählte Universität in der lateinamerikanischen Hemisphäre befindet, denken einige vielleicht an einen relaxten Aufenthalt zwischen Cocktails, Strand und ab und zu mal Hörsaal. Doch weit gefehlt, so einfach ist das alles gar nicht. Ein Pauschalurlaub wäre dann doch einfacher und streckenweise auch billiger zu haben. Die Förderungsmaßnahmen halten sich nämlich in Grenzen, besonders seitdem die PolitikerInnen des Standortes Deutschland entdeckt haben, daß die Expansiongelüste der deutschen Wirtschaft viel leichter in nächster Nähe befriedigt werden können: Wurde in den achtziger Jahren noch auf die teilweise aufstrebenden Märkte Lateinamerikas gesetzt und wurden dementsprechende Austauschprogramme und Studiengänge gefördert (der Studiengang „Regionalwissenschaften Lateinamerika“ der Universität zu Köln ist nicht umsonst Produkt einer Klüngelei zwischen einem Romanistik-Professor und einem Vertreter des BAYER-Konzerns), haben spätestens seit der Wiedervereinigung die Fördermittel für Osteuropa die Gelder für Lateinamerika verdrängt.

Die Organisation eines Studienaufenthaltes kostet folglich Nerven, Zeit und Geld, denn Bürokratie scheint eine globale Tugend zu sein. Wer also diese Hürden auf sich nimmt, muß ein ernsthaftes Interesse für Land und Studienfach mitbringen, um den Schritt nach drüben zu wagen. Oftmals wird den aufstrebenden JungakademikerInnen auch ein gehöriges Improvisationstalent abverlangt; die Details sind in unseren Erfahrungsberichten nachzulesen. Wie bei jedem Schwerpunkt haben wir uns auch in dieser Ausgabe darum bemüht, den Blick von „drüben“ nach hier nicht zu vernachlässigen, denn die Annahme, daß dort alles viel schwieriger und hier alles viel besser ist bzw. umgekehrt, hat schon immer zu den verabscheuungswürdigsten Platitüden gehört...

In der peruanischen Universität zu Arequipa mögen einem vielleicht verbitterte Literaturprofessoren die Tür zuhalten, wenn man zu spät kommt, dafür kann man an der Uni Köln von selbsternannten Lateinamerika-FreundInnen verfolgt werden – wir wagen nicht zu beurteilen, welche Paranoia einem das universitäre Leben schwerer machen kann!

Was sich in deutschen Landen erst in den letzten Jahren abzeichnet, namentlich der Abschied vom Wohlfahrtsstaat und der damit einhergehende Verdrängungsprozeß vom Bildungsideal humboldtscher Prägung und der Prämisse „Bildung für alle“ hin zur Leistungsphilosophie für das Unternehmen Universität, ist in einigen Ländern Lateinamerikas schon längere Zeit Normalzustand. Der vielbeschworene Feind aller Linken, der Neoliberalismus, lauert überall auf die bestmögliche und effizienteste Verwertung des Humankapitals. So verwundert es auch nicht, daß die Weltbank weltweit mehr BildungsexpertInnen beschäftigt als die Unesco.

Und was geht das alles unsere verehrten ila-LeserInnen an? Hat doch die Auswertung unserer Umfrage ergeben, daß das durchschnittliche Alter unserer Leserschaft bei sage und schreibe 37 Jahren liegt, und wer studiert in dem Alter noch! Da die Spezies der LangzeitstudentInnen immer seltener wird und das auch werden soll – Studiengebühren, verkürzte Regelstudienzeiten und Bafög-Streichungen sei Dank –, hoffen wir, daß dieser Schwerpunkt ganz im Sinne Humboldts unsere vielseitig interessierte LeserInnenschaft trotz anderer Lebensrealitäten dennoch anspricht und/oder Erinnerungen an vergangene Campus-Zeiten wiederaufleben läßt – unser LeserInnenprofil zeugt nämlich auch von einem recht hohen Akademisierungsgrad.

Und für die potentiellen abenteuerlustigen KosmopolitInnen, die junge geistige Elite oder die studentischen SchnorrerInnen mag die Lektüre unseres Schwerpunkts vielleicht Anreiz sein, den Schritt über den Atlantik zu wagen, denn bereut hat es bisher noch niemand, und im Reisen steckt immer noch ein wenig die Sehnsucht nach einer besseren Welt...

Inhaltsübersicht

Schwerpunkt

4    Bettina Reis
Ein Mittelding wäre ideal
Erfahrungen einer Studentin mit dem kolumbianischen Hochschulwesen

6    Manuel Breuer
Mein Auslandssemester in Fortaleza
Als deutscher Student in Brasilien

8    Britt Diegner
Mein Auslandssemester in Arequipa
Eine deutsche Studentin in Peru

10    Katharina Koufen
Effizienz, Flexibilität, Individualismus
Chile: Bildung im Zeitalter des Neoliberalismus

11    Claudia Sigel
Heißer Herbst in Chile
StudentInnenprotest gegen Privatisierung, hohe Studiengebühren und schlechte Studienbedingungen

13    Claus J. Tully/Pedro Krotsch
Argentinien: Schlechte Aussichten auf gute Jobs

15    Otmar Meyer
Wozu sollen Arme etwas lernen?
Alemáns Bildungspolitik stößt auf den Widerstand der StudentInnen  in Nicaragua

16    Swantje Heinemeier
Studieren im Mythos
Trotz relativ guter Studienbedingungen sind die StudentInnen in Cuba frustriert

18    Britt Weyde
In Zukunft wird gezahlt
Interview mit einer mexicanischen Studentin über Universitätsalltag an der UNAM

19    Alex Bruck
Porrismo
PRI-nahe „schlagende Verbindungen“ terrorisieren oppositionelle Schüler- und StudentInnen

21    Paco Ignacio Taibo II
1968
Die ersten Tage der mexicanischen Studentenbewegung

24    Gert Eisenbürger
Zweierlei Helden
Paco Ignacio Taibos literarische Verarbeitung von 1968

25    Julio Mendívil
Sind sie quadratisch oder doch eher rund...?
Verhaltenstips für lateinamerikanische Studenten in Köln

27    Victor R. Castro
Zurückgekehrt und doch nicht angekommen
Bekenntnisse eines heimatlosen Gesellen

30    Alexander Bühler/Britt Weyde
Wir fördern keine „Eintagsfliegen“
Interview mit Arnold Spitta vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD)

31    Britt Diegner
Studienaufenthalte in Lateinamerika
Wie kommt StudentIn hin? Wer finanziert sowas?

Berichte & Hintergründe

32    Gaby Küppers
Nachhaltige Lösungen gesucht
Interview mit Cuauhtémoc Cárdenas, dem neuen Bürgermeister von Mexico-Stadt

34    F. P. Heller
Was geschah mit den „Verschwundenen“ Chiles?
Colonia Dignidad: Die Angehörigen fordern die Wahrheit

36    Otmar Meyer
Nicaragua: Liberale Steuerreform
Alemáns Kampf gegen Kleinbauern und Kooperativen

38    Wolfgang Bronclik
Schwarze Zauberer oder unzuverlässige Gesellen
Latinos in der Fußball-Bundesliga und die Medien

Lebenswege

40    Gert Eisenbürger
Ich habe es trotzdem überlebt [1]
Interview mit der tschechischen Schriftstellerin Lenka Reinerová

47    Gert Eisenbürger
Mehr als Erinnerungen [2]
Die Erzählungen von Lenka Reinerová

Kulturszene

49    Anna Seghers-Preis ’97

49  Ruth Radvanyi
In Erinnerung an ihre Exiljahre in Mexico
Ein Preis und seine Geschichte

50  Erna Pfeiffer
Erzählerin mit Tarnkappe
Portrait der diesjährigen Anna Seghers-Preisträgerin Carmen Boullosa

52  Tochter ihrer Stadt
Carmen Boullosa im Gespräch mit David Hernández

Ländernachrichten / Poonal

54    Nicaragua, Costa Rica, Kolumbien, Guyana, Peru, Venezuela, Honduras, Argentinien, Ecuador, Mexico

Solidaritätsbewegung

58    Gernot Wirth
Auswertung der ila-Fragebogenaktion

60    Bettina Burkert
Bananen, ein Multi und das WTO-Urteil
Aktionswoche für eine sozial- und umweltverträgliche Reform der EU-Marktordnung

61    LeserInnenbriefe

62    Notizen aus der Bewegung

63    Termine, Zeitschriftenschau, Impressum

Titelbild: Holzplastiken des uruguayischen Malers und Bildhauers Joaquín Torres García (1919)


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[1] https://www.ila-web.de/ausgaben/210/ich-habe-es-trotzdem-%C3%BCberlebt
[2] https://www.ila-web.de/ausgaben/210/mehr-als-erinnerungen