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Jung sein in Lateinamerika

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Editorial

Beim Durchblättern diverser Jugendbeilagen hiesiger Medien ist das Handy immer wieder ein großes Thema. Ein Gebrauchsgegenstand als kultisches Identifikationsobjekt. Schon setzt der Erwachsenenreflex ein: „Was für oberflächliche Kids! Wir waren damals nicht so konsumgeil.“ Ein paar Seiten weiter kommen Jugendliche selbst zu Wort. Von Träumen ist die Rede. Auffällig ist, dass die männlichen Heranwachsenden recht wertekonservativ von Familie und Nachwuchs daherreden. Der Jugendliche von heute – das unbekannte, unverstandene Wesen?

Als „adoleszent“ gelten laut Weltgesundheitsorganisation die Heranwachsenden zwischen 10 und 20 Jahren. Für die westliche Jugendforschung ist Jugend ein Zeitraum des Übergangs. Mitunter wird auch von „Moratorium“ gesprochen. Die Jugendlichen können sich eine Auszeit nehmen, um Bildung zu erwerben, mit der sie später zu vollständigen Mitgliedern der Gesellschaft – Erwachsenen – werden sollen. Die Auszeit entbindet sie von Pflichten, gleichzeitig bedeutet es aber, dass sie (noch) nicht ganz dazugehören. Der Begriff des „Freizeitmoratoriums“ bezieht sich auf das scheinbare Privileg der Jugendlichen, im Hier und Jetzt zu leben und ihre Jugendkulturen pflegen zu können. Der „Ernst des Lebens“ beginnt erst später. Gelten diese Annahmen auch für lateinamerikanische Jugendliche? Haben lateinamerikanische Jugendliche, die oft schon von früher Kindheit an zum Familieneinkommen beitragen müssen, überhaupt „Freizeit“?

Gerade in Bezug auf andere Kulturen zeigt sich, dass westliche Konzepte ihre Grenzen haben. Globale Prozesse, die Veränderungen in Arbeitswelt, Familien- und Schulalltag mit sich bringen, betreffen alle Jugendlichen weltweit. Wozu das Moratorium, wenn es den versprochenen Platz in der Gesellschaft nach der Auszeit aufgrund mangelnder Ausbildungs- oder Arbeitsplätze nicht gibt? Das mögen sich die SchülerInnen von der Rütli- oder der „Hartz- IV“-Schule denken. In Lateinamerika gehört die große Mehrheit der Jugendlichen schon seit längerem zu den marginalisierten Bevölkerungsgruppen, und zwar doppelt: wegen ihrer sozialen Zugehörigkeit und wegen ihrer Jugend. Zu Ausschluss und Unterdrückung aufgrund von (Hetero-)Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Klassismus, Diskriminierung Andersfähiger („Behindertenfeindlichkeit“) gesellt sich als weiteres Machtverhältnis der „adultismo“, die Macht der Erwachsenen über Kinder und Jugendliche.

Wie eine Welt ohne „adultismo“ aussehen könnte, bringen die TeilnehmerInnen eines Workshops der nicaraguanischen NRO „Puntos de encuentro“ auf den Punkt: „Wenn die Privilegien der Erwachsenen zu Rechten für alle würden, dann könnten wir Jugendlichen Folgendes machen: Unsere Freunde aussuchen, unsere Kleidung, unsere Musik und sogar das, was wir mit unserer Freizeit machen. – Keine Angst mehr vor physischer Bestrafung haben. – Aus dem Haus gehen oder Leute mitbringen, ohne um Erlaubnis zu fragen. – Den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit bekommen. – Für die anderen genauso glaubwürdig und vertrauenswürdig sein wie die Erwachsenen. – Bei der Formulierung von Gesetzen mitwirken sowie bei politischen Entscheidungen. – Als verantwortungsbewusste Personen gelten, ohne es erst beweisen zu müssen. – Keine Zwänge und Erniedrigungen erleiden müssen, nur weil jemand älter ist als du.– Zu Hause an Entscheidungen beteiligt werden. – Entscheiden, was wir mit dem Geld machen, das wir verdient haben. – Unsere eigenen Strukturen aufbauen, wo wir unter uns sind, ohne dass wir als Faulenzer oder Bandenmitglieder abqualifiziert werden.“ Diese Wünsche mögen zwar in einem ganz bestimmten Kontext entstanden sein, doch sie spiegeln universell zu verwirklichende Rechte wider. Und sind ähnlich klar und weise wie die Aussage einer Interviewpartnerin in diesem Heft: „Die Kindheit ist das Wichtigste für das Leben. Wenn es dir gut geht, wenn du jung bist, wird das auch so sein, wenn du älter bist.“

Wenden wir uns also diesem wichtigen Lebensabschnitt zu und gucken uns an, wie in Lateinamerika Jugendliche aus Stadt und Land, aus den verschiedensten sozialen und kulturellen Bevölkerungsgruppen leben und ihre – nicht nur – jugendspezifischen Probleme meistern. Dabei haben wir Wert darauf gelegt, dass sie selbst – in Interviews oder eigenen Berichten – zu Wort kommen. Ein dickes Dankeschön geht an Peter Strack, der uns bei der Beschaffung einiger O-Töne sehr geholfen hat.

Inhaltsübersicht

Schwerpunkt

4  Übergang zum Ernst des Lebens? 
Jung sein in Lateinamerika – Plädoyer für neue Maßstäbe und Betrachtungsweisen
/ von Manfred Liebel

7  Früher war alles besser [1]
Jung sein in Zeiten der cubanischen Spezialperiode  / von Franco Weis

10  Sie wissen, dass unsere Eltern in Spanien sind 
Interview mit einem bolivianischen Jugendlichen  / von Waldo Acebey

12  Mama, wirst du sterben?
Daniela, junge Mutter und HIV-positiv, erzählt ihr Leben zwischen Bolivien und Argentinien
/ von Mina Halpern

14  Ich bin HIV-positiv und möchte wissen, ob du mich angesteckt hast
Die Geschichte von Violeta aus Bolivien  / von Mina Halpern

17  Die Zukunft liegt in unserer eigenen Hand
Überlegungen eines Bandenmitglieds aus El Alto, Bolivien  / von Alfredo Apala

18  Ein Computer für jede Klasse
Schüleralltag in Nordperu  / von Frauke Meyer

20  Ich spiele auch mit Spielzeughühnern
Bildung und Lernprozesse in Yunguyo, Peru  / von PRATEC

22  Ich war ziemlich unausstehlich [2]
Kolumbien: Vom Vertriebenen zum aufstrebenden Fußballspieler  / von Stella Duque

24  Krieg ist schlimm, aber die einzige Chance
Warum sich Jugendliche in Kolumbien bewaffneten Gruppen anschließen  / von Juan Pablo Franco

26  Jugendarbeit für gute und schlechte Kids!
Interview mit Daniel Galíndez von der Casa de Juventud in Popayán, Kolumbien
/ von Yenny Lucía Astaiza, Yennifer Astaiza und William Fernando Hurtado

28  Schwarz, jung, weiblich sucht ...
Zwei Lebensgeschichten aus Rio de Janeiro:
Jéssica: „Ich will zeigen, dass ich etwas kann, ich will etwas verändern”
Dandara: „Tanzen ist meine Leidenschaft”  / von Luciane O. Rocha und Eliane Santos

31  Wir sind spontaner, aber trotzdem Menschen [3]
Interview mit der Kolumbianerin Leyla Morales Castillo, kurz vor ihrem 15. Geburtstag
/ von Bettina Reis

Berichte & Hintergründe

34  Die Quadratur des Kreises
Eine uruguayische Bilanz nach der Halbzeit  / von Ernesto Kroch

38  Erfolg im Kampf gegen Straflosigkeit und Diktaturen
Kommentar der Infostelle Peru zur Auslieferung von Alberto Fujimori  / von Elena Muguruza

39  Unsere Natur ist unser einziger Reichtum
Dorfgemeinschaften im Norden Perus lehnen den Bergbau einhellig ab  / von Susanne Friess

40  Monte Albán, allein auf sich gestellt [4]
Der Berg kreißt, das Tal von Oaxaca weiß noch nicht, was er gebiert  / von Ulrich Mercker

43  IIRSA – der Irrsinn hat System
Zur Initiative für die Integration der Infrastruktur Südamerikas  / von Margarita Flórez

46  Die Vogelscheiße und der Imperialismus
Vor 150 Jahren nahmen die USA das erste Überseeterritorium in Besitz  / von Eduard Fritsch

47  Die Agrotreibstoff-Falle [5]
Die Strategien der Großkonzerne  / von Laura Carlsen

Kulturszene

49  Die Schönheit einer Hässlichen
Violeta Parra, 40 Jahre nach ihrem Tod – eine Verbeugung  / von Omar Saavedra Santis

54  Ein vergessener Kulturvermittler
Zum 125. Geburtstag von Georg Helmuth Neuendorff  / von Klaus Küpper

57  Parabel der totalitären Herrschaft [6]
Der Roman „Unten sind ein paar Typen“ von Antonio Dal Masetto  / von Klaus Jetz

Ländernachrichten / Poonal

58  Paraguay, Guatemala, Ecuador, Venezuela, Argentinien, Brasilien, Cuba, Mexiko

62  Notizen aus der Bewegung

Titelfoto: Germán Linares – „Wo ist Platz für uns?“


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Links:
[1] https://www.ila-web.de/ausgaben/309/fr%C3%BCher-war-alles-besser
[2] https://www.ila-web.de/ausgaben/309/ich-war-ziemlich-unausstehlich
[3] https://www.ila-web.de/ausgaben/309/wir-sind-spontaner-aber-trotzdem-menschen
[4] https://www.ila-web.de/ausgaben/309/monte-alb%C3%A1n-allein-auf-sich-gestellt
[5] https://www.ila-web.de/ausgaben/309/die-agrotreibstoff-falle
[6] https://www.ila-web.de/ausgaben/309/parabel-der-totalit%C3%A4ren-herrschaft