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Venezuela
Schlingern nach dem Öltraum

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Editorial

Erdöl erweckte Venezuela vor drei Jahrzehnten aus seinem agrarischen Dämmerschlaf, seit dieser Zeit gilt das Land als Musterdemokratie in Lateinamerika. 34 Jahre lang wechselten sich zwei Parteien an der Macht ab. Und das Volk schaute zu bzw. mußte zuschauen. 1989 übernahmen, nachdem der Staat kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stand, die Entwicklungstechnokraten unter IWF-Diktat die Macht und ließen die Armen für die Schulden bluten. Am 27. Februar 1989 kam es zu einer blutig niedergeschlagenen Hungerrevolte, einem ersten Aufschrei der Bevölkerung. Ein zweiter Ruck ging durch die Nation, als am 4. Februar 1992 Panzer zum Regierungspalast rollten und eine breite Bevölkerungsmehrheit mehr oder weniger offen mit den gescheiterten Putschisten sympathisierte.

Venezuelas Zweiparteiendiktatur steckt ganz offensichtlich in einer tiefen Krise. Das alte Entwicklungsmodell auf Basis einer Erdölrente ist am Ende, und damit geriet auch das politische System ins Wanken, das auf einer geschickten Verteilung der Pfründe beruhte, wobei zeitweise sogar bis ganz unten etwas ankam. Die neoliberale Anpassungspolitik hat einen drastischen Strich unter diesen Abschnitt venezolanischer Geschichte gezogen.

Die Folgen sind von trauriger Bekanntheit: Makroökonomische Erfolgsmeldungen gehen einher mit einem rasanten sozialen Verfall und systematischen Menschenrechtsverletzungen. 79 Prozent der Venezolaner leben in Armut, 43 davon in extremer. Die meisten von ihnen leben in den Elendsvierteln der Städte, dort, wo die großen Kapitalien akkumulieren und wo längere Zeit auch für die Armen einige Brosamen abfielen. Doch die gibt es heute nicht mehr, und so formiert sich Widerstand. Die Organisation in Basisgruppen wächst ständig, die Organisation als Volksbewegung steckt dagegen noch in den Kinderschuhen.

Anläßlich der Festivitäten zum 500. Jahrestag der „Entdeckung Amerikas“ wurde der 12. Oktober auch in Venezuela gefeiert. Nervöse Sicherheitsbeamte erschossen dabei zwei Guajira-Indios, als diese angetrunken mit ihrem Lkw in die Sicherheitszone um den Präsidenten rasten. Letzterer weihte gerade ein Krankenhaus ein. Für die Indígenas kam jede Hilfe zu spät, wie überall in Lateinamerika zählt auch in Venezuela ihr Leben nichts.

Umso mehr freuten wir uns am 16. Oktober über eine Nachricht aus Norwegen: die Indígena Rigoberta Menchú wurde für ihr Engagement mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Wir gratulieren Rigoberta, der Indígena- und Volksbewegung Guatemalas und allen Leuten, die sich weltweit an der Kampagne für die Verleihung des Friedensnobelpreises für Rigoberta beteiligt haben. Ebenso beglückwünschen wir die guatemaltekische Menschenrechtsaktivistin Helen Mack, die mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde, und den aus St. Lucia stammenden Literaturnobelpreisträger Derek Walcott. Wir haben versucht, alle genannten „NobelpreisträgerInnen“ in dieser Nummer ausführlich zu würdigen.

In den Schwerpunkt dieser Ausgabe haben wir auch ein paar Lieder von Alí Primera eingefügt. Der 1983 bei einem Autounfall umgekommene Sänger war eine sehr bekannte „Stimme des Volkes“, der die Gedanken der Armen in Worte faßte, in ihre Worte, in ihre Sprache und sie mit ihrer Musik zum Klingen brachte. Alí war kein linker Intellektueller, sondern Sprachrohr der Leute der Barrios und der Landarbeiter. In den Häusern der Armen hängt oft sein Bild nicht selten zwischen Kreuz und Bolívar. Er war das soziale Gewissen Venezuelas, seine Texte sind heute noch aktuell.

Inhaltsübersicht

Schwerpunkt

4  Nikolaus Werz
„Brot, Land und Arbeit“
Mit dem Öl-Geld regelten die Parteien fast alles

6  Heinz-Rudolf Sonntag
Vom Sozialfall zum Sozialpakt
Eine „sozialpartnerschaftliche“ Gesellschaft in der Krise

8  Friedrich Welsch
Vom Ölboom zur Staatskrise
Modernisierung und Entwicklung in Zeichen des Erdöls

10  Bernhard Mommer
Das Ende der Ölrente
Venezuelas staatliche Ölpolitik ist in die Jahre gekommen

13  Maritza Montero
Bolívar, Bibel, Don Qujote
Das bolvarianische Bewußtsein als ideologische Formel

15  Teolinda Bolívar
Caracas – Stadt der Barrios
Plädoyer für eine Aufwertung der Armenviertel und ihrer architektonischen Vielfalt

18  Peter Grohmann
Zwischen Staat, Parteien und eigener Basis
Langsam formiert sich die Basisbewegung in den Barrios

23  Peter Grohmann
„Am 12. Oktober hatte unser Barrio Geburtstag“
Interview mit Xiomara Guanche, Bewohnerin eines Armenviertels in Caracas

26  Beate Jungemann
Dreck statt Gold
Große Umweltprobleme im venezolanischen Entwicklungsmodell

28  Itala Scotto Domínguez
Wir existieren doch
Indígenas in Venezuela

Berichte & Hintergründe

31  Friedensnobelpreis für Rigoberta Menchú

32  Max Frühling
Freudenfeste in Guatemala
Nach dem Nobelpreis für Rigoberta wird Guatemala nicht mehr so sein wie vorher

33  Ute Sturmhoebel
Wir haben ein Kollektiv, das stark macht
Interview mit Rigoberta Menchú

35  Claudia Koch
Alternativer Nobelpreis für die Guatemaltekin Helen Mack

36  Roberto Frankenthal
„Thatcherisierter Peronismus“
Argentiniens Linke auf der Suche nach Auswegen aus dem neoliberalen Desaster

38  Gert Eisenbürger
Machtwechsel in Guyana
Cheddi Jagan wird neuer Präsident

40  Uwe Pollmann
Hermes: Das Rundum-sorglos-Paket
Deutsche SteuerzahlerInnen sichern praktisch alle Auslandsgeschäfte

42  Carole Sambale-Tannert
Haiti – nicht nur Sache der HaitianerInnen
Gespräch mit der Soziologin Suzy Castor

Ländernachrichten

44  Cuba, Peru, Uruguay

Kulturszene

46  G. Eisenbürger / U. Mercker / D. Sacher
Diagonale Geschichten
Ein je länger desto spannenderes Interview mit dem mexikanischen Krimiautor Paco Ignacio Taibo II

51  Klaus Martens
Poesie des Südens
Literaturnobelpreis für Derek Walcott

Solidaritätsbewegung

54  Perfide Aktion gegen antirassistisches Projekt
Bürgermeister kündigt „Dritte Welt Laden Losheim“ die Räumlichkeiten

55  LeserInnenbriefe

56  Notizen aus der Bewegung

58  Termine

59  Zeitschriftenschau, Impressum


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