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Tourismus

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Editorial

Es gibt Elends- und WohlstandsmigrantInnen. Ersteren ist nunmehr durch die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl der Zugang zu den Wohlstandsinseln verwehrt, zweitere sind auf dem besten Wege, selbst die Grundlagen dessen zu zerstören, was sie in den Regionen der Armut suchen. Unbeschädigte Natur und Menschen, Abstand von der eigenen Gesellschaft und ihren Zwängen, nicht berechnende Gastfreundschaft – alles nur Seifenblasen, die mit der Massifizierung der Wohlstandsmigration immer dünnhäutiger, immer transparenter werden? Ja, im absoluten Sinne, und dennoch auch ein relativierendes Nein. Schließlich setzt sich die Kenntnis über die fortgesetzte Beschädigung von Mensch und Natur in unseren Breiten immer weiter durch, werden die Zwänge, die von unseren Gesellschaftsformationen ausgehen, immer erdrückender und dringt die Berechnung in immer tiefere Schichten des persönlichen Lebens ein.

Da mögen die Verheißungen der Agenten der Wohlstandsmigration noch so durchsichtig und buchstäblich auf Sand gebaut sein, das Bedürfnis nach einem – wenn auch nur kurzzeitigen – Ausbrechen aus dem reglementierten Arbeits- und Lebensalltag ist längst kein individuelles mehr, sondern als gesellschaftliches bereits seit Jahren integraler Bestandteil der Lebensplanung vieler unserer ZeitgenossInnen. Eine Tourismuskritik, die nicht den legitimen Wunsch nach Flucht vor der „Unerträglichkeit des (hiesigen) Seins“ ernstnimmt, sondern stattdessen mit dem erhobenen Zeigefinger des Besserwissers nur auf die kulturellen, ökologischen und sozialen Folgeschäden der Wohlstandsmigration in den bereisten Ländern hinweist, greift ebenso zu kurz wie jene Stimmen in der verhängnisvollen Asyldiskussion, die ausschließlich die Folgen und nicht die Ursachen der Elendsmigration im Blick haben. Die Zeiten, in denen vor lauter Ur-laub der Ur-wald nicht mehr gesehen wurde, gehören längst der Vergangenheit an. Jedes größere Touristikunternehmen hat inzwischen seine „sanften“ Ökoangebote auf der Platte.

Von daher ist es nur konsequent, daß die noch vor Jahren Furore machende kritische Nische auf der Internationalen Tourismus-Börse (ITB) in Berlin, die Gruppe „Tourismus mit Einsicht“, in diesem Jahr ein Einsehen hatte und sich als obsolet erklärt hat. Ernstzunehmende Kulturkritik kommt heute aus ganz anderen Kreisen, z.B. aus dem Munde des Kanzlers höchstpersönlich: „Jedes Jahr fahren Millionen von Deutschen in Urlaub. Erholt und braungebrannt kehren sie zurück, doch schon nach wenigen Tagen beginnen sie zu klagen, melden sich krank, bleiben der Arbeit fern ... Ja, sind wir denn alle verrückt geworden?“ (H. Kohl 1991) Auch im vergangenen Jahr griff der Kanzler warnend mit dem Hinweis auf die drohende Gefahr des Niedergangs zur „Urlaubsrepublik“ in die Tarifauseinandersetzungen ein. Tatsächlich liegt Deutschland ja weiterhin unangefochten an der Spitze der Länder, deren BewohnerInnen es vorziehen, die „besten Tage des Jahres“ außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu verbringen.

Fragt sich nur, wie lange dieser Trend noch anhält. Besonders in jüngster Zeit ist sicherlich davon auszugehen, daß proportional zu dem in aller Welt gestiegenen Bekanntheitsgrad deutscher Fremdenfeindlichkeit die Umsatzzahlen deutschen Fremdenverkehrs rückläufig sein dürften – sowohl im aktiven als auch im passiven Sinne. MancheR fremdländische UrlauberIn wird den geplanten Aufenthalt in der einen oder anderen pittoresken deutschen Kleinstadt wohl doch lieber sein lassen, und nicht wenige deutsche UrlauberInnen werden ihre seit Weihnachten geplante Türkeireise noch einmal gründlich überdenken bzw. in einen „sicheren Drittstaat“ umbuchen. Etwa in einen UN-sicheren „Dritte-Welt-Staat“ wie – sagen wir mal so, ja – Somalja, oder doch besser: Somalnein.

Trotz alledem, die Redaktion wünscht ihren LeserInnen und sich selbst einen angenehmen Urlaub, wo auch immer. 

Die Redaktion

PS   Diese Ausgabe enthält einen Aufruf „Latinoamericanos contra el racismo“ der ila latina-Redaktion. Wir bitten unsere LeserInnen, ausnahmsweise zur Schere zu greifen, die Erklärung herauszuschneiden und sie an alle Euch bekannten, hier lebenden LateinamerikanerInnen weiterzugeben.

Inhaltsübersicht

Schwerpunkt

4  Yörn Kreib
Fremdenverkehr und Fremdenfeindlichkeit
Die meisten Auslandsreisen verstärken Vorurteile, anstatt sie abzubauen

7  Gabriele Müller
Indianer mit Schlagsahne
Guatemalas Besitzende setzen auf den Tourismus

10  Egbert Higinio/Ian Munt
Traditioneller Tourismus im neuen Gewand?
Die Kontroverse um den Öko-Tourismus in Belize

12  Marianne Guyer
Boom mit Schattenseiten
Mangels Alternativen setzt Cuba weiter auf den Tourismus

16  Evelyne Hager/Ulrich Mercker/Danuta Sacher
Palmen, Strand und schöne Menschen
(Sex) Tourismus in der Dominikanischen Republik. Interview mit Marta Aparicio und Dionisio Cabrera

19  Elisabeth Abbing
Ein Sprachkurs
Bericht über einen Aufenthalt in der Sprachschule CETLALIC in Cuernavaca (Mexico)

21  Nicola Neider/Maria Schwabe
Caminhar juntos – Gemeinsam gehen
BrasilianerInnen reisen nach Deutschland – Deutsche reisen nach Brasilien

23  Werner Göbels
Von der Betroffenheit zum Engagement
Bericht eines VHS-Reiseleiters und -organisators

26  Daniel Gatti
Wir lieben Uruguay
Deutsche Alternative in Montevideo

28  Eduard Fritsch
So viel Ehre ...
Revolutionstouristische Anekdoten aus dem Krieg in El Salvador

Berichte und Hintergründe

30  Klaus-D. Tangermann
Kommunalpolitik in El Salvador
Die FMLN vor den Wahlen im März 1994

33  Christa Weber
Autonomie oder Abhängigkeit?
Frauenbewegung in El Salvador

36  Eduardo J. Vior
„Es reicht nicht aus, das Land zu verteilen“
Gespräch mit der kolumbianischen Gewerkschafterin Cruz Emilia Rangel

38  Rolf Satzer
„Nur das Volk kann sie aufhalten“
Zur Erinnerung an den ermordeten Tupamaro Rony Scarzella

41  Dagmar Laura Hertle
„Ich würde mich schon als Feministin bezeichnen“
Interview mit Gladys Llanos de Ordóñez, Präsidentin der „Sociedad de Médicas del Ecuador“

43  Josef Streule
Schöne Worte und hohle Phrasen
Enttäuschendes Ergebnis der Weltkonferenz über Menschenrechte

46  Gabriela Simon
Menschenrechte und „Kreditwürdigkeit“
Peru wieder „ehrenvoll“ in die internationale Staaten- und Finanzwelt aufgenommen

48  Ulrich Mercker
Ahnungslosigkeit oder Absicht?
„Adveniat“ macht sich zum Instrument des haitianischen Unrechtsregimes

Kulturszene

50  Klaus Jetz
„In unserer Literatur fehlen Guerilleros und Gefolterte“
Die zeitgenössische Literaturszene in Costa Rica

Ländernachrichten

54  Cuba, Argentinien, Bolivien, Kolumbien, Guatemala

Solidaritätsbewegung

56  Eduardo J. Vior
„Cuba in seinem lateinamerikanischen Zusammenhang betrachten“
Beitrag zur Cuba-Debatte

58  Lateinamerikaner gegen Rassismus
Aufruf der ila latina-Redaktion

59  Latinoamericanos contra el racismo
Manifiesto de la Redacción de „ila latina“

61  Carlos Flaskamp
Ein Engel über Argentinien
Buchbesprechung

62  Klaus Wardenbach
Maastricht – So nicht
Ein Buch zu den Konsequenzen des EG-Binnenmarktes

64  Gert Eisenbürger
Ojalá - Guatemalas Flüchtlinge kehren zurück
Ein Bildband von Herby Sachs und Dorothea Schütze

66  Notizen aus der Bewegung

67  Zeitschriftenschau, Impressum

Titelbild: Skulptur „Tourists II“ von Duane Hanson


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