Weniger Milei wagen. Ein Gastkommentar
von Jan-Henrik Witthaus
Der amtierende Präsident Argentiniens Javier Milei hat in Deutschland durchaus gute Presse. Hinter mal mehr mal weniger vorsichtigen Abgrenzungsversuchen werden die radikalen Abbrucharbeiten Mileis gern als Sprungbrett genutzt, um den Kampf gegen die heimische Bürokratie zu unterstützen. Entsprechende Beiträge fand man bereits im Dezember im Spiegel, im Fokus, im Tagesspiegel, vor Kurzem noch in der FAZ. Unterstützt wurde auch die Äußerung des ehemaligen Finanzministers und Bundesparteivorsitzenden der FDP: „Wir sollten ein klein bisschen mehr Milei oder Musk wagen.“ Sich die von Christian Lindner genannten Personen zum Vorbild zu nehmen, ist allerdings ideologisch riskant. Die Relativierungsversuche wirken eher wie notdürftige verbale Sicherheitsmaßnahmen.
Über Elon Musks Tateneifer wurde schon viel geschrieben. Hier geht es um Milei, der als Mann mit der Kettensäge internationale Aufmerksamkeit erregte. Die Kettensäge ist ein äußerst fragwürdiges Symbol. Steht nämlich für die Staatsgewalt seit jeher das Schwert, wie etwa auf dem Titelblatt des klassischen politischen Buches von Thomas Hobbes, „Der Leviathan“, so bedeutet die Kettensäge das Gegenteil: die Zerstörung der Staatsgewalt, insofern sich diese in Verwaltung und Institutionen auf Dauer stellt. Ein solcher Angriff auf den Staat erfolgt im Moment in Argentinien mit Geschrei, Hardrock, Löwenwappen und Erlösergehabe.
Die Kettensäge steht für Umweltzerstörung und Terror
Nun ist gerade die Kettensäge mit Umweltverbrechen in Lateinamerika verbunden. Mit ihr werden ausgedehnte Waldflächen zu Zwecken der industriellen Land- und Viehwirtschaft und auch des Rohstoffabbaus gerodet. Das ist ganz im Interesse vieler Länder des globalen Nordens, nur wird darüber hierzulande nicht so gern kommuniziert. Mit der Kettensäge wurden jedoch – und das ist in Mittel- und Südamerika bekannt – nicht nur Bäume gefällt, sondern Menschen terrorisiert, gefoltert und bestialisch umgebracht. Im Kontext von organisierter Kriminalität und paramilitärischer Gewalt, so in Kolumbien, wurde das forstwirtschaftliche Werkzeug zu einer Mordwaffe umfunktioniert, mit der unterhalb offizieller Staatsgewalt, aber nicht ganz losgelöst von ihr, Angst und Schrecken verbreitet wurden. Vor allem paramilitärische Gruppen gingen damit nicht allein gegen linksgerichtete Guerillas vor. Sie betrieben Landnahme, Vertreibungen und begingen unaussprechliche Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Ein historisches Beispiel ist das Massaker an über 100 in der kolumbianischen Kommune El Salado lebenden Menschen, verübt zwischen dem 16. und 22. Februar 2000 durch eine rechtsextreme paramilitärische Einheit.
Die Motorsäge ist ein Instrument der Gewalt, aber darüber hinaus auch des Terrors, den schon Hobbes als psychologisches Instrument der Herrschaft charakterisierte. Nur ist es nicht der Souverän, sondern eine von der Kette gelassene Souveränität, die geltendes Recht wie menschliche Körper in nicht identifizierbare Bestandteile zerlegt. Und es handelt sich hier nicht um Gewaltexzesse in fernen ‚gescheiterten Staaten‘ oder ‚Bananenrepubliken‘. Denn bei den Landnahmen waren Interessen einer rohstoff- und exportorientierten Wirtschaft und damit auch nationale wie ausländische Akteure im Spiel. Zudem sind die Motorsäge und die mit ihr verbundenen Gewaltfantasien Importe aus dem globalen Norden (zu sehen etwa im Horrorfilm „The Texas Chain Saw Massacre“, deutsch: „Blutgericht in Texas“, 1974).
Diese Vorgänge sollten Menschen bedenken, bevor sie im deutschen Wahlkampfgetümmel den Mann mit der Kettensäge zum Vorbild ausrufen. Das ist ein krasser Fehltritt. Milei ist nun kein Massenmörder, aber er bedient sich einer nicht vertretbaren politischen Symbolik und verbreitet Terror, der – so lernen wir aktuell – zu den zentralen Strategien des international vernetzten Rechtspopulismus gehört. Denn in Argentinien handelt es sich nicht bloß um Bürokratieabbau, wie es mitunter verniedlicht wird, und schon gar nicht um einen sozialen Reboot, bei dem alle per Chancengleichheit bei null beginnen würden: der utopische Deckmantel der Liberalen und Marktradikalen. Die Kettensäge wird angelegt an Ministerien und Behörden, die soziale Funktionen in den Sozialsystemen innehaben oder das Bildungssystem organisieren. Wer nicht schon arm war, wird in die Armut befördert. Der von Milei ernannte Minister für Deregulierung, der einer gnadenlosen Ironie folgend Federico Sturzenegger heißt, feiert die Kettensäge und lässt – metaphorisch, aber irgendwie auch nicht – Köpfe rollen. Dabei berauscht er sich an seiner eigenen Rhetorik der hohen Zahlen. Seit Regierungswechsel seien rund 36.000 öffentliche Bedienstete entlassen worden, hieß es schon vergangenen Herbst.
Wie zynisch die deutsche Milei-Debatte ist
Bei gleichzeitig systematischer Bevorzugung der Vermögenseliten handelt es sich um politische Interventionen, durch die Reichtum dereguliert, strukturelle Gewalt zementiert und Wissenskulturen beseitigt werden sollen. „Schlimm mag das im Einzelfall [!] sein.“ kommentierte der Kolumnist der FAZ in der letzten Woche, der die Gesamtsituation Argentiniens nach den von Sturzenegger feilgebotenen Wirtschaftsdaten beurteilt und dann orakelt: „Insgesamt aber nicht“. Charlie Hebdo ist da besser informiert, spricht von einem „Kreuzzug gegen die Wissenschaften“ und prognostiziert Talentabwanderung. Auf der dort abgedruckten Karikatur ist der Präsident zu sehen, wie er mit der Kettensäge in ein Labor tritt und dem forschenden Personal die Hände abtrennt. Nur die könne man halten, die in der Lage seien, sich die Hände wieder selbst anzunähen, so brüllt er. Dies dürfte sich auf aktuelle Ankündigungen beziehen, das CONICET, die zentrale staatliche Forschungsorganisation, zu beschneiden, unterzuordnen oder ganz abzuschaffen. Dort tätige Menschen werden schon seit Längerem durch ausbleibende Gehälter oder nicht bewilligten Inflationsausgleich ausgehungert. Der Rechtspopulismus ist nicht zuletzt eine Bewegung gegen die Intelligenzia.
Liebe Leute aus welchen politischen Lagern auch immer: Engagiert euch ruhig für den Bürokratieabbau in Deutschland, da habt Ihr einen Punkt, aber bitte lasst Milei aus der Sache. Damit diskreditiert ihr euer Anliegen, denn dort, wo er, seine Gehilfen und die Kettensägen hinwollen, so hoffe ich inständig, wollt ihr niemals landen. Denn dort wird es wohl in etwa so aussehen wie im 13. Kapitel des „Leviathan“, wo Thomas Hobbes den Naturzustand und den Krieg „aller gegen alle“ beschreibt.
Jan-Henrik Witthaus lehrt an der Universität Kassel spanische und lateinamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft und forscht momentan zu „kleiner Souveränität“ in der lateinamerikanischen Erzählliteratur.