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Eine „Ch’alla“ für dein Auto

Städtische Indigenität in La Paz und El Alto

Das Leben indigener Menschen in den bolivianischen Städten La Paz und El Alto ist anders als auf dem Land. Aber in so mancherlei Hinsicht ähnelt es sich auch. Freddy Mamani Mollo berichtet aus seiner Perspektive als junger Aymara aus La Paz über das Leben als Indigener in der Stadt. Seine Erfahrungen als Lehrling einiger großer Maestros und Amawtas (siehe Begriffserklärungen) und Erzählungen aus seinem täglichen Leben zeichnen uns ein differenziertes Bild. Grundlage für diesen Artikel bilden das persönliche Treffen der Autorin mit Freddy Mamani Mollo im August 2019 und ein Interview im Juni 2020.

Svenja Osmers

Auf dem Boden liegt ein Aguayo. Um uns herum hört man die Geräusche des Regenwalds, der Yungas. Neben mir sitzen auf Plastikstühlen und Baumstämmen die Mitglieder verschiedener Bürgerinitiativen aus La Paz. Einige reden über die Busfahrt hierher. Andere unterhalten sich über die Planung für die nächsten Tage. Wir sind in der Nähe von Mururata, östlich von La Paz, auf einem abgelegenen Stück Land, wo wir in den kommenden drei Tagen an einem Theaterworkshop teilnehmen. Integraler Bestandteil des Workshops sind Elemente der andinen Weltanschauung (Cosmovisión) und Spiritualität. Auf den Aguayo wird ein großes Stück Papier gelegt. Auf ihm bereiten wir zwei rituelle Mesas vor.

Freddy Mamani Mollo war an diesem Wochenende unser spiritueller Führer. Er erklärt, dass die Mesa in der andinen Kosmovision ein Opfer für die Mutter Erde repräsentiert: „Zuerst danken wir der Mutter Erde und geben ihr und den anwesenden Personen eine energetische Reinigung. Das dient dazu, alle Anwesenden zu harmonisieren. Wir zeigen der Pachamama Respekt und Dankbarkeit. Wir bieten uns ihr an.“ Vor uns nehmen zwei verschiedene Mesas langsam Gestalt an, eine ganz in Weiß und eine mit vielen bunten Farben. „Mit der weißen Mesita erkennen wir den Ort um uns herum als Lebewesen und denkende Person an. Stell es dir so vor, als würdest du eine Verwandte, deine Oma oder deine Tante besuchen. Du nimmst ihr eine kleine Aufmerksamkeit mit, zum Beispiel ein paar Kekse, einige Blätter Koka. Genauso machen wir es mit der Mutter Erde, wir zeigen ihr unsere Zuneigung, Aufmerksamkeit und Dankbarkeit.“ Auf der weißen Mesita sammeln sich sogenannte Illas, kleine Repräsentationen aus Stein oder Knochen von allem, was es auf der Erde gibt. „Es ist eine symbolische Darstellung unseres ganzen Lebens. Diese bieten wir der Pachamama an mit dem Ziel, Harmonie und ein gemeinsames Ajayu zu erlangen.“ Wie bei einem Tauschhandel bietet man der Pachamama bei der weißen Mesita etwas an, um dann mit der bunten Mesita um etwas zu bitten. Auf der bunten Mesita sieht man Kokablätter, kleine Illas, goldenes und silbernes Lametta und einen in Wolle gewickelten Lamafötus. Mit ihr wird um Überfluss, Gnade, Liebe, einem abenteuerlichen Leben, Zuneigung, Reichtum und wirtschaftlichem, intellektuellem und spirituellem Wachstum gebeten. Nachdem jede*r mit dem eigenen Atem den Illas Energie eingehaucht hat, werden die Mesitas verpackt und zum vorbereiteten Feuerplatz gebracht. Freddy Mamani zeigt die Bedeutung des Verbrennens auf: „Die Mesita wird verbrannt, weil die Nina Mallku, die Ahnin des Feuers, die Aufgabe hat, die Materialität des rituellen Tisches, also die Süßigkeiten, Samen und anderen Illas, die Teil der Mesita sind, in den Atem zu verwandeln, der mit dem Rauch aufsteigt und dorthin gelangt, wo er hingehen muss.“ Hinterher wird in der Asche gelesen, ob die Wünsche und Bitten an ihrem Bestimmungsort angelangt sind. Dann wird die Asche vergraben. „In diesem Sinne lässt sich folgern, dass alles dorthin zurückkehrt, wo es herkommt, alles kehrt zur Pachamama zurück.“

Zurück in La Paz. Auch hier ist die indigene Bevölkerung Boliviens sehr präsent. Auf den Märkten und in den Straßen sieht man überall indigene Frauen im typischen Gewand, der Pollera, mit dem dazugehörigen Filzhut, der in den 1920er-Jahren von englischen Eisenbahnarbeitern in Bolivien eingeführt wurde und seitdem von indigenen und mestizischen Frauen getragen wird. Oft sieht man indigene Muster und Farben auf öffentlichen Gebäuden oder als Graffiti in den Straßen. Die 2018 nahe der Plaza Murillo, dem Sitz der Regierung Boliviens, eröffnete „Casa Grande del Pueblo“ vereint moderne Architektur mit indigenen Elementen. Evo Morales bezeichnete dieses „große Haus“ als „Meilenstein in der Wiederherstellung der Identität der indigenen und sozialen Bewegungen“.

Im Stadtzentrum von La Paz, zwischen den Straßen Sagárnaga und Santa Cruz, auf Höhe der Gasse Jiménez befindet sich ein Markt, auf dem man alle wichtigen Zutaten für die Mesita und andere Rituale kaufen kann. Beim Vorbeischlendern sieht man viele kleine Plättchen mit Bildern oder Symbolen, den Illas. Getrocknete Kräuter und Pflanzen werden feilgeboten. Daneben stehen große Säcke mit Kokablättern und an den Wänden hängen Aguayos, die auch bei den Tourist*innen begehrt sind. Aber was einem sofort ins Auge fällt, sind die Lamaföten. Sie werden neben den Illas und Kokablättern, eingewickelt in Fett und Wolle, auf das Papier der Mesita gelegt. Dieser Markt ist bekannt als Mercado de las Brujas, als „Hexenmarkt“. Der Name verrät schon einiges über die Einstellung der weiß-mestizischen, hegemonialen Schichten Boliviens gegenüber den Ritualen und spirituellen Praktiken der Indigenen. „Oft werden die indigenen Yatiri, Maestros oder Amawtas als Hexer beschimpft“, erzählt Freddy Mamani. Bis heute ist das Leben vieler Indigener noch von Diskriminierung geprägt. „La Paz ist eine Stadt mit kolonialer Geschichte, die kolonialen Stereotypen und Vorstellungen in Bezug auf den Nachnamen, die Farbe der Haut, die Abstammung existieren nach wie vor. Das gute Leben eines Indigenen in der urbanen Umgebung ist abhängig von der Freiheit, seine Kosmovision und Spiritualität ausleben zu können, ohne diskriminiert zu werden“, meint Freddy Mamani. „Solange die Hautfarbe, der Nachname und die Herkunft weiterhin ausschlaggebend sind, um ein guter Bürger zu sein, ist dies nicht möglich. Es gab viele Indigene, die ab den 1950er-Jahren versucht haben, ihren Nachnamen zu ‚weißen‘ oder einer bestimmten Glaubensgruppe beizutreten, um dazuzugehören. Das Ausleben meiner Wertvorstellungen und Glaubenssätze steckt zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite ist da ein sehr strenges katholisches System und auf der anderen Seite ein kleiner Teil der Bevölkerung, der ein bisschen offener ist. Die meisten Menschen haben das Thema Spiritualität nicht verstanden. Wir sind hier in meiner Gegend das einzige Haus, die einzige Familie, die offen ihre Spiritualität lebt, ihre Glaubensvorstellungen. Es ist schwierig. Wir sind die Seltsamen in der Gegend hier.“

Diese Diskriminierungen ziehen sich auch durch andere Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Freddy Mamani und seine Frau Tania haben zwei Söhne. Sie heißen Ayar und Waskar und tragen langes Haar. Sie sind lebhafte Jungen, die gerne in der Natur spielen und ganz selbstverständlich die Weltanschauung ihrer Eltern lernen. Dabei beklagt Freddy Mamani, dass „das Schulsystem immer noch von rückständigen Vorstellungen durchzogen ist. Es fängt bei den Haarschnitten an, aber auch das tägliche Beten oder die Schuluniformen gehören dazu. Es ist schwierig, hier anders zu sein. Man wird stigmatisiert und diskriminiert. Es ist ein bisschen anders, wenn man es mit der oberen Mittelschicht oder der Oberschicht zu tun hat. Sie tolerieren zumindest unseren Ausdruck der Indigenität. Ich weiß nicht, ob sie sie respektieren oder verstehen, aber sie tolerieren das. In El Alto ist es wieder anders, dort wohnen deutlich mehr indigene Aymara und Quechua. Es gibt eine größere Akzeptanz vonseiten katholischer oder evangelischer Indigener gegenüber den überlieferten Praktiken, denn sie haben die gleichen Vorfahren wie wir.“

Auf den Straßen abseits des Zentrums, diesen steilen Straßen, die sich den Berg nach El Alto hochschlängeln, sieht man hin und wieder ein mit Luftschlangen geschmücktes Auto. Manchmal sieht man auch ein Geschäft, vor dem eine Mesita verbrannt und der Boden mit Flüssigkeit beträufelt wurde. Die Ch‘alla ist ein Brauch der Aymara. Sie besteht darin, den Boden oder einen Gegenstand, für den Schutz gesucht wird, mit rituellen Getränken zu befeuchten. Während des Rituals wird der erste Schluck des Getränks an die gegeben und es wird um Vermögen und Erfolg für das betreffende Objekt, das Unternehmen oder das Fest, sowie um die Erlaubnis gebeten, weiterhin davon profitieren zu dürfen. Bräuche wie die Ch‘alla oder auch die Mesita haben sich teilweise an die Lebensumstände in der Stadt angepasst. Während bei der Ch‘alla auf dem Land der Erde für ihre Gaben bei einer reichen Ernte gedankt wird, sieht man in der Stadt auch Läden oder Autos, bei denen eine Ch‘alla durchgeführt wurde. „Wenn es dir sehr wichtig ist, dein Auto zu ehren, weil es dir eine Lebensgrundlage in der Stadt gibt, dann ist es vollkommen in Ordnung, für dein Auto eine Ch‘alla durchzuführen“, findet Freddy Mamani.

In einer dieser Straßen in Pasankeri (Stadtteil von La Paz) liegt Freddy Mamanis kleines Lokal. Dort empfängt er auch Kund*innen, aber: „Wir nennen sie nicht Kunden, sie sind Brüder und Schwestern“, erklärt er. Unter den Brüdern und Schwestern, die zu ihm in den Laden kommen, sind auch ab und zu Ausländer. Die meisten sprechen Spanisch. Das ist essenziell für die Verständigung. Sonst muss auch mal mit einer Übersetzerin gearbeitet werden. „Wir gehören einem Verband der Yatiri in La Ceja an und immer, wenn wir die Möglichkeit haben, öffnen wir unseren kleinen Laden und führen Heilungen durch. So machen wir auch Temazcales oder Rituale mit Tabak und Weihrauch. Wann immer es möglich ist, erkläre ich während der Zeremonien auch ihre Bedeutung. Es gibt aber Rituale, während derer Stille herrscht. Dann sprechen wir am nächsten Tag über das, was wir in der Nacht gemacht haben. Manchmal stellt die Sprache aber auch ein Problem dar. Aus dem Aymara wird ins Spanische und dann vielleicht noch in eine weitere Sprache übersetzt. Konzepte wie das des Ajayu verlieren so ihre tiefe, kulturelle Bedeutung.“

Das Stadtbild von La Paz ist multikulturell. Jeder Besucherin fällt dies sofort auf. Es ist ein schönes, ein buntes Bild. Aber viele Indigene erleben immer noch Diskriminierung und Stigmatisierung. Nach den Wahlen im Oktober und dem Putsch gegen Evo Morales ist die Angst vor erneuter schwererer Unterdrückung wieder gestiegen. Welche Auswirkungen die Übergangsregierung und die im September neu zu wählende Regierung auf das Land und seine indigene Bevölkerung haben werden, ist noch unklar.

Buchtipp: Anders Burman, Indigeneity and Decolonization in the Bolivian Andes. Ritual Practice and Activism, Lexington Books 2016, 282 Seiten