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Die Schattenwelt des ICE

Abschiebeknäste in den USA und Deportationen nach Lateinamerika in Zeiten der Pandemie

So erratisch die Politik der Trump-Regierung auch sein mag, bei einem Thema ist sie zuverlässig menschenfeindlich: Um jeden Preis müssen Migrant*innen außen vor gehalten oder aus dem Land geschafft werden.

Ulf Baumgärtner

Die Praxis der mit diesen Aufgaben betrauten Institutionen – des Department of Homeland Security (DHS, Ministerium für innere Sicherheit), des Customs and Border Protection (CBP), also des Grenzschutzes, sowie des Immigration and Customs Enforcement (ICE), zuständig für Razzien an den Wohn- und Arbeitsplätzen von Migrant*innen ohne Aufenthaltserlaubnis, für die Abschiebegefängnisse und die Deportationen – befördert die Verbreitung des Coronavirus auf vielfache Weise. Da gibt es erstens seit Januar 2019 die Migrant Protection Protocols (MPP), besser bekannt unter dem Namen „In Mexiko bleiben“: An die 60 000 Asylbewerber*innen, darunter 16 000 Kinder, müssen in Mexiko auf eine Anhörung in den USA warten. In Grenzstädten wie Matamoros, El Paso oder Tijuana leben sie in provisorischen Behausungen unter unhygienischen Bedingungen, ohne den empfohlenen Abstand einhalten zu können.

Auf der anderen Seite der Grenze gibt es zweitens Dutzende von weiteren Infektionsherden. Dort unterhält der ICE ein Netzwerk von Abschiebeknästen, in denen über 30 000 Migrant*innen auf die Deportation warten. Die Mehrzahl der Menschen, die hier festsitzen, haben Verwandte in den USA, bei denen sie, versorgt und in gebührendem Abstand, auf ihre Anhörungen warten könnten. 70 Prozent der Abschiebehäftlinge werden festgehalten in privaten, gewinnorientierten Einrichtungen der Firmen CoreCivic und GEOGroup (das Unternehmen, das auch Gefängnisse betreibt, macht über 50 Prozent seines Umsatzes mit dem ICE und dem CBP). Beide Unternehmen haben reichlich für Trumps Wahlkampf gespendet und umgekehrt im Jahr 2017 Aufträge im Wert von knapp einer Milliarde US-Dollar vom ICE erhalten. Die Generalinspektion des DHS hat die Zustände in diesen Anstalten wiederholt moniert. Die Haftbedingungen seien nicht mehr nur ärmlich, sondern schreckenerregend.

Drittens: Im Jahr 2019 hat der ICE an die 270 000 Migrant*innen, zu 96 Prozent aus 13 Ländern Lateinamerikas und der Karibik, vor allem aus Guatemala, Honduras, El Salvador und Mexiko, abgeschoben. Die Mehrzahl der Herkunftsländer hat die regelmäßig von der ICE in Auftrag gegebenen Deportationsflüge, kurz ICE Air genannt, akzeptiert oder nur kurzzeitig verweigert. Ende April gab es in Guatemala zum Beispiel nur etwas mehr als 300 Infizierte, aber über 60 positiv auf Covid-19 getestete, aus den Vereinigten Staaten deportierte Landsleute. Als die Regierung daraufhin die Deportationsflüge stoppte, verweigerte das US-Außenministerium im Gegenzug guatemaltekischen Staatsbürger*innen Visa. So wenig die Migrant*innen diesseits und jenseits der US-mexikanischen Grenze ausreichend mit Essen, Wasser und Schutzmasken versorgt werden, so medizinisch unkontrolliert werden sie in die Abschiebeflieger gesetzt: Auf Covid-19 getestet werden sie nicht, lediglich ihre Temperatur wird vor dem Abflug gemessen. Bei der Ankunft in ihren Herkunftsländern werden sie ebenso wenig getestet, sondern gleich wieder weggesperrt: in Quarantänezentren, wo die Bedingungen, was Enge und Versorgung betrifft, oft noch mieser sind als in den ICE-Abschiebeknästen.

Weitere Infektionsherde gibt es viertens auf den Baustellen von Trumps famosem Grenzwall in den Wüsten von New Mexico und Arizona. Die Bautrupps werden eingeflogen, arbeiten im Schichtbetrieb und bekommen die Überstunden aus dem Verteidigungshaushalt reichlich bezahlt – auf dass Donald Trump am Wahltag im kommenden November behaupten kann, Hunderte von Kilometern Grenzbefestigungen gebaut zu haben. Die Bauarbeiter leben und arbeiten ohne Social Distancing in Camps und werden dann an ihre Herkunftsorte überall in den Vereinigten Staaten zurückgeflogen.

Jake Johnston vom Center for Economic and Policy Research (CEPR) in Washington D.C. hat Daten über ICE-Deportationsflüge zwischen Anfang Februar und Ende Mai gesammelt und ausgewertet. In seinem jüngsten Bericht vom 21. Mai zitiert er einen Sprecher des ICE, der für die Monate März und April 112 Abschiebeflüge in 13 Länder bestätigte. Einer dieser Flüge ging Ende April nach Liberia, wohin ein Menschenrechtsverbrecher abgeschoben wurde, alle anderen nach Lateinamerika und in die Karibik. Für den größeren Zeitraum vom 3. Februar bis zum 20. Mai, also fast vier Monate, sieht das Panorama so aus: 92 ICE Air-Operationen nach Guatemala, 71 nach Honduras, 39 nach El Salvador, 16 nach Mexiko, je 13 nach Brasilien und Ecuador, acht in die Dominikanische Republik, je sieben nach Nicaragua und Haiti, drei nach Kolumbien, zwei nach Jamaica und je einer nach Cuba und Peru. Insgesamt also 273 Deportationsflüge, davon 41 in den ersten Mai-Wochen. Nachdem Präsident Trump am 13. März den Notstand ausgerufen hatte, ging die Anzahl der Deportationsflüge zunächst zurück. „Mitglieder des US-Kongresses“, schrieb Johnston in dem erwähnten Bericht, „und internationale Menschenrechtsorganisationen haben die Trump-Regierung aufgefordert, die Abschiebungen einzustellen, weil sie drohen, die Lungenkrankheit weiter auszubreiten und die Pandemie zu verlängern.“ Neuerdings hat es aber wieder vermehrt ICE Air-Operationen gegeben, obwohl die Anzahl der Infizierten weltweit kontinuierlich weiter ansteigt – unter anderem in den ICE-Abschiebegefängnissen in den USA. Nach Peru hatte es 2019 keine registrierten Deportationsflüge gegeben. Jüngst aber bestätigte ein ICE-Sprecher, dass bis zum 2. Mai 253 Peruaner*innen abgeschoben worden seien. Nach einer längeren Pause gab es in der dritten Mai-Woche auch wieder einen Flug nach Managua. Am 20. Mai teilte die mexikanische Regierung mit, dass für die nächsten zehn Tage acht Flüge geplant seien, von denen die beiden ersten am 19. Mai von Brownsville in Texas und San Diego in Kalifornien stattfanden. Nachdem Brasilien mit der Amtsübernahme durch Jair Bolsonaro Deportationsflüge wieder akzeptiert hatte, gingen auch hierhin die Flüge weiter, obwohl Brasilien den heftigsten Covid-19-Ausbruch in Lateinamerika erlebt. Seit dem 13. März hat es sieben Flüge nach Belo Horizonte gegeben. Einige dieser Flüge haben einen Zwischenhalt in Guayaquil gemacht, dem Pazifikhafen in Ecuador, von wo die Bilder mit in den Straßen liegenden Corona-Leichen um die Welt gingen.

Das Menschenrechtszentrum der University of Washington untersuchte 2019 das Deportationsgeschehen zwischen 2010 und 2018, nachdem es auf der Grundlage des Freedom of Information Act die Herausgabe der einschlägigen Daten erreicht hatte. Danach haben zwei private Chartergesellschaften, Swift Air und World Atlantic Airlines, als Untervertragsnehmer der Firma Classic Air Charters die Mehrzahl der ICE-Deportationsflüge durchgeführt. Darüber hinaus benutzt der ICE aber auch andere Chartergesellschaften und Linienflüge. Die am meisten genutzten Flughäfen sind Brownsville in Texas und Alexandria in Louisiana, von denen aus über 50 Prozent der Deportationsflüge abgewickelt werden. Bislang ist nur ein Fall bekannt, in dem eine Gemeinde ICE Air-Operationen von ihrem Flughafen aus untersagte, nämlich Seattle im Bundesstaat Washington im Jahr 2019.

Das ICE Air-Programm ist ein lukratives Geschäft. Seit 2018 hat der ICE einen Exklusivvertrag mit der Maklerfirma Classic Air Charters (CAC), die an den berüchtigten CIA-Geheimflügen beteiligt war. Der Vertrag geht über 646 Millionen US-Dollar. CAC ihrerseits hat Verträge mit den Chartergesellschaften Swift Air und World Atlantic Airlines. Swift Air wurde inzwischen von der Aero Group und Blackstone, der weltgrößten Investmentgesellschaft (für deren frühere Tochtergruppe BlackRock unter anderen Friedrich Merz gearbeitet hat1) aufgekauft. Chefmanager von Blackstone (Jahresumsatz 2017: sieben Milliarden US-Dollar) ist Stephen A. Schwarzmann, ein Freund und Geschäftspartner von Donald Trump. Der Generalinspekteur des DHS berichtete 2015: „ICE Air bezahlt im Durchschnitt 8419 US-Dollar für eine Stunde Charterflug, unabhängig davon, wie viele Passagiere jeweils transportiert werden.“ Kein Wunder, dass Trumps Abschiebemaschine auf vollen Touren läuft.

  • 1. Black Rock wurde 1988 gegründet, u.a. von Blackstone, und hat sich 1994 von Blackstone abgespalten.

Als Quellen für diesen Beitrag wurden außer den Monitoring-Berichten von Jake Johnston für das CEPR Artikel von Adam Isacson vom Washington Office on Latin America (WOLA) benutzt, der auch an anderer Stelle in diesem Heft zu Wort kommt.