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Die Mapuchisierung der Mobilisierung

Interview mit César Millahueique über die Rolle der Mapuche in der Protestbewegung

César Millahueique ist Autor, Mapuche und im Vorstand des chilenischen Schriftstellerverbands Sociedad de Escritores de Chile (SECH). Joaquín Molina hat ihn zur Rolle der Mapuche in der aktuellen Protestbewegung befragt.

Joaquín Molina

Auf den Demonstrationen der letzten Monate waren zahlreiche Leute zu sehen, die Embleme und Fahnen der Mapuche trugen. Welche Verbindung gibt es zwischen den aktuellen Protesten und den historischen Forderungen der Mapuche?

Ohne Rücksicht auf Verluste wurde ab den 70er-Jahren in unserem Land der Neoliberalismus eingeführt und von den Regierungen nach der Diktatur weiterverwaltet. So wird die tiefere Bedeutung des Slogans verständlich: „Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre Missbrauch“. Während im ganzen Land Protestslogans gegen den Neoliberalismus hinterlassen werden, entdeckt die Menschenmenge das einheimische Widerstandssymbol, die Fahne der Mapuche: als parteiisches und nationales Symbol, als Synthese eines unerschöpflichen Kampfes der abgewerteten, ausgeschlossenen und verfolgten Menschen, die der Evangelisierung, der eurozentristischen Erziehung und dem Kolonialismus zum Trotz widerstehen, die sich weigern aufzugeben, was sie sind.

Dieser Widerstand wird zum Beispiel in den Aktionen des Lonco1 Michimalonco gegenüber der spanischen Macht sichtbar, als er am 11. September 1541 die Stadt Santiago de Nueva Extremadura zerstörte. Der Widerstand geht bis heute und zeigt sich auch in den landesweiten Protesten nach dem Mord an Camilo Catrillanca am 14. November 2018, ausgeführt durch eine Spezialeinheit der Polizei (das sogenannte „Dschungel-Kommando“ der Carabineros, das Catrillanca mit einem Kopfschuss tötete, war während der ersten Amtszeit von Piñera im kolumbianischen Urwald ausgebildet worden). Dieser Widerstand konnte sich jahrhundertelang halten; er wird immer populärer und führt zu einer gewissen „Mapuchisierung“ des sozialen Widerstands, was sich in den Emblemen bei den Protesten zeigt.

Ein Teil der Mapuche-Kämpfe, die sich in postdiktatorischen Zeiten herausgebildet haben, richten sich gegen den Extraktivismus, gegen die Maschinerie des neoliberalen Kapitals, etwa gegen schwere Maschinen oder Fahrzeuge der forstwirtschaftlichen Betriebe. Diese Betriebe haben keinen guten Ruf, weil sie die Wälder zerstören und schwere ökologische Folgeschäden bewirken, Wasservorkommen verschmutzen, heimische Baumarten ausrotten und weil sie eine enge Verbindung zur Militärdiktatur hatten (siehe Artikel in ila 433).

In diesem langen Kampf der Mapuche hat das Schießpulver keinen Einzug erhalten. Vielmehr ist dieser Kampf stets Körper gegen Körper gewesen, mit nacktem Oberkörper und patipelado, barfuß, ohne Hubschrauber, Drohnen, Scharfschützen oder Laserstrahlen, lediglich von Angesicht zu Angesicht mitten im Wald. Diese Metapher ist verführerisch und steht im Dialog mit denjenigen, die von den AFPs – den Pensionsfonds-Verwaltern – betrogen wurden; oder auch mit denjenigen, die vor den öffentlichen Krankenhäusern Schlange stehen und dabei ihren Krankheiten erliegen; oder mit dem Studenten, der mit ansehen muss, wie seine Ausbildung in dem Maß voranschreitet, wie seine Eltern verarmen, da sie die teuersten Studiengebühren in der Region zahlen: In Chile ist das Phänomen derjenigen Personen entstanden, die verschuldet auf die Welt kommen, ihr ganzes Leben mit Schulden leben und verschuldet sterben. Dieses Subjekt, das nichts mehr zu verlieren hat, klammert sich an diesen unvergänglichen Kampf, entblößt seinen Oberkörper, erklimmt die Statue von General Baquedano auf der Plaza Dignidad mit der jahrhundertealten Flagge der Mapuche, der wenu folle, und ruft „Marichiweu!“ – „Zehnmal werden wir siegen!“

Welche Rolle haben die Mapuche selbst in der Protestbewegung eingenommen?

Die Rolle des Symbols, was keine Kleinigkeit ist. Der Kolonialismus hat auch den Kampf um die Symbole befeuert. Das waren teilweise sehr brutale Akte, die mit haarsträubender Grobheit begangen wurden. Die Geschichte der Menschheit ist voller Beispiele, von der Zündung der Atombombe bis zum Pfählen und dem Martyrium des Toqui Calfulican.2 Von der School of the Americas, die das Symbol des Verhaftet-Verschwundenen erschaffen hat, bis hin zu den massiven Verwundungen bei den sozialen Protesten: Mittlerweile ist bekannt, dass so vielen Menschen die Augäpfel zerfetzt wurden von Geschossen der Polizei, die „von den Schultern aufwärts“ abgefeuert wurden, statt „von der Hüfte abwärts“. In den letzten fünf Monaten haben 452 junge Menschen teilweise oder ganz ihre Sehkraft eingebüßt. Dieses Symbol ist brutal. Das ist Faschismus, der im neoliberalen Rahmen aufscheint, als Gegenposition zu dem Symbol, das die Erde verteidigt.

Und welche Rolle sollten die Mapuche in dem Prozess für eine neue Verfassung einnehmen?

Der große Kampf der Indigenen im Hinblick auf ihr Verhältnis zum chilenischen Staat wird reduziert auf die Absichtserklärung des Ley Indígena Nr. 19.253. In diesem Gesetz wird die Existenz von indigenen „Ethnien“ und „Kulturen“ anerkannt. Bei den Forderungen der indigenen Bewegung Chiles im 20. Jahrhundert gibt es drei, die besonders bedeutsam sind: zum einen ein neues Ley Indígena, das sich durch eine positive Anerkennung auszeichnet; des Weiteren die Ratifizierung des ILO-Abkommens 1693 sowie die Anerkennung der indigenen Völker in der chilenischen Verfassung. Zwei davon sind erfüllt worden: das neue Ley Indígena sowie die Ratifizierung des ILO-Abkommens (nach 18 Jahren Diskussionen im chilenischen Parlament). Aber der Weg dahin war steinig, voll mit mittelalterlich anmutenden Diskussionen, häufig gespickt mit biologisch-genetischen Argumenten.

Gibt es eine gemeinsame Organisierung der verschiedenen Mapuche-Gemeinschaften innerhalb der Protestbewegung?

Wie in der ganzen Bevölkerung auch gibt es unter den Mapuche unterschiedliche Einstellungen: So gibt es Mapuche in der Primera Línea, der ersten Reihe bei den Demos, es gibt auch Indigene, die keine bestimmte Meinung haben, und sogar welche, die mit der Regierung zusammenarbeiten oder direkt Teil der Regierung sind. Dennoch haben bestimmte Sektoren interessante Ansätze entwickelt, etwa die Asociación de Municipalidades con Alcalde Mapuche (AMCAM), wo es um Bürgermeisterämter und „lokale Macht“ geht.

Während des sozialen Aufstands gab es einige Mapuche-Zeremonien auf der Plaza Dignidad. So hat der Bildhauer Antonio Paillafil Totems gegenüber der Statue von General Baquedano errichtet. Vor kurzem hat die Verwaltung der Metropolregion Santiago sie zerstören lassen.

Wie bewerten Sie die Rolle der Mapuche-Künstler*innen in der Protestbewegung?

Aktuell ergeben sich neue Logiken von Autonomie und Identität. Deshalb muss die ganze Bevölkerung daran beteiligt werden und ihre künstlerischen Ausdrucksformen finden, nicht nur die Mapuche. Bestimmte Aktionen waren aufsehenerregend und haben zur „Mapuchisierung“ der Mobilisierung beigetragen, so auch die Errichtung einer Gruppe von Rewes4 an einem strategischen Punkt wie der Plaza Dignidad durch den Bildhauer Paillafil. Er steht für die künstlerische Avantgarde der Mapuche.

Wie ist die Position des chilenischen Schriftstellerverbands SECH gegenüber der Protestbewegung?

Der SECH ist im ganzen Land mit 20 Zweigstellen vertreten. Er hat die brutale Repression gegenüber den Protesten verurteilt. Außerdem haben wir die verschiedenen Alternativen für die neue Verfassung diskutiert sowie eine „Permanente Versammlung“ einberufen, auf der soziale Belange diskutiert werden sowie die Frage nach der formalen Beteiligung an der Unidad Social, einem Zusammenschluss von über 100 chilenischen sozialen Gruppen. Wir als Institution hatten nicht mit der Reichweite der Mobilisierung gerechnet: Millionen von Menschen, die über fünf Monate lang permanent mobilisiert waren. Mit unserem Hauptsitz des SECH befanden wir uns im Herzen der „Zone Null“, mit über 20 Bränden direkt in unserer Nähe. Das Ausmaß des sozialen Unbehagens in der Bevölkerung war wirklich beeindruckend.

Inwiefern hat die Covid-19-Pandemie die Kraft der sozialen Bewegung schwächen können? Glauben Sie, dass sie mit der gleichen Intensität wieder durchstarten werden, wenn die Krise überwunden ist?

Das Coronavirus stellt eine große Tragödie dar, hervorgerufen durch menschliches Versagen. Und wir Armen und Alten werden sterben. Was danach geschieht, kann niemand vorhersagen. Vielleicht geht das ganze Unglück so weiter, wie es sich bisher entwickelt hat, und mündet in ein für den Neoliberalismus und seine Zwangsmaßnahmen ideales Szenario: der Aufmarsch des Militärs während der Ausgangssperre, eine verängstigte Bevölkerung, das schwindelerregende Anwachsen der Arbeitslosigkeit und der Schwund der zum Überleben notwendigen Mittel; gleichzeitig das Fehlen eines Staates, der angemessen auf die Forderungen reagiert, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass unser Land ein auseinandergefallenes Gesundheitssystem sein Eigen nennt. Vor diesem Hintergrund ist es empörend, wie die Banco de Chile, die das Vermögen der reichsten Minderheiten des Landes verwaltet, dazu aufruft, um 21 Uhr die chilenische Flagge aus dem Fenster zu hängen und zu applaudieren – wie in Europa –, während die ärmsten Gemeinden, die über keine Gesundheitszentren verfügen und denen ein sanitäres Chaos bevorsteht, noch gar nicht in die Quarantänemaßnahmen mit einbezogen worden sind. Was die Post-Corona-Situation verschärfen wird: Vor kurzem hat die Rechte im Abgeordnetenhaus einen Sieg eingefahren, wo sie die Präsidentschaft bekommen hat, ohne in der Mehrheit zu sein. Ein Großteil der Bevölkerung verkennt die Tatsache, dass diese Präsidentschaft entscheidet, über welche Gesetzesprojekte bevorzugt diskutiert und abgestimmt wird. Wahrscheinlich wird diskutiert werden, wer in der nächsten Jury des Internationalen Lied-Festivals von Viña del Mar sitzen wird, anstatt zu entscheiden, welche wirtschaftlichen, politischen und sozialen Maßnahmen nach dem sanitären Notstand ergriffen werden müssen.

  • 1. Chef mehrerer Mapuche-Gemeinden
  • 2. auch „Caupolicán“ genannt. Dieser Mapuche-Krieger führte das Kommando bei erfolgreichen Schlachten gegen die Spanier im 16. Jahrhundert. 1558 wurde er gefangen genommen und zum Tod durch Pfählen verurteilt.
  • 3. Das Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation wurde 1989 verfasst und ist das einzige verbindliche internationale Abkommen zum Schutz der Rechte indigener Völker.
  • 4. säulenartiger, heiliger Altar für Zeremonien

Die Fragen stellte Joaquín Molina per Mail Ende April 2020. Die Übersetzung besorgte Britt Weyde.