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La Comisión de la Verdad – Die Stimme derer, die nicht sprechen können

Interview mit Carlos Martín Beristain

Carlos Martín Beristain ist ein spanischer Arzt und Psychologe aus dem Baskenland, der jahrzehntelange Erfahrung in der psychosozialen Betreuung von Opfern aus verschiedensten Konfliktkontexten hat. Er wurde mehrfach als Berater in Wahrheitskommissionen eingesetzt und koordinierte zudem unter anderem den Guatemala Nunca Más-Bericht für das REMHI-Projekt (Recuperación de la Memoria Histórica – Projekt zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses) in Guatemala. In Kolumbien ist er einer von elf Kommissar*innen, die für die Comisión de la Verdad (Wahrheitskommission) tätig sind. Diese staatliche Kommission wurde im Rahmen des zwischen der Regierung Kolumbiens und der FARC-EP unterzeichneten finalen Friedensvertrages für das Ende des Konflikts und den Aufbau eines stabilen und dauerhaften Friedens eingesetzt. Die Kommission hat unter anderem die Aufklärung der Muster und der Ursachen des internen bewaffneten Konflikts zur Aufgabe

Linda Helfrich

Was ist das spezifische Mandat der Wahrheitskommission?

Die zentrale Aufgabe der Kommission ist die Klärung der Wahrheit. Darüber hinaus geht es um die Aufdeckung von Menschenrechtsverbrechen und Verbrechen gegen das internationale humanitäre Völkerrecht sowie der Verantwortlichkeiten und der sozialen Auswirkungen auf die Kommunen, Personen und die Demokratie. Die Wahrheit muss in einer vorsichtigen und gleichzeitig konsistenten Form ans Licht gebracht werden, um der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Die Gesellschaft muss in diesen Spiegel schauen und kann sich nicht länger selbst belügen. Es geht auch um die Ursachen und Faktoren der Persistenz des Krieges aus einer eher historischen Dimension. Die Kommission will den Widerstand der Zivilgesellschaft, Formen der positiven Erinnerung sowie die Beiträge der Opfer aufzeigen. Sie leistet einen Beitrag zum Wiederaufbau des sozialen Gefüges. Ein Teil unserer Arbeit hat mit Anerkennung der Opfer zu tun, derjenigen, die verschwunden sind, die ermordet wurden, die Opfer von sexueller Gewalt wurden, die kriminalisiert und stigmatisiert wurden und die man zum Schweigen verdammt hat. Wir werden sogenannte „Begegnungen der Wahrheit“ organisieren, in denen die Opfer gewürdigt werden. Letztlich geht es aber auch um die Klärung der Verantwortung. Wir hatten zum Beispiel einige Seminare mit Mitgliedern der FARC und des Militärs, die sich bereit erklärt haben auszusagen.

Wie kann die Kommission denn überhaupt aufklären, wenn die Betroffenen jederzeit Angst haben müssen, für etwaige Taten im Gefängnis zu landen?

Unsere Aufgabe ist nicht, die individuelle Verantwortung zu klären, sondern die kollektive Verantwortung der Armee, der Polizei, der FARC, des ELN und anderer festzustellen. Und wir fordern auch die Anerkennung dieser kollektiven Verantwortung. Es ist das erste Mal in einem Friedensprozess, dass es drei funktionale Institutionen gibt, eine für die Verschwundenen, eine für den Frieden und eine für die Wahrheit. Das gab es noch nie. Der Druckmechanismus der kolumbianischen Justiz setzt eher an der individuellen Verantwortung an. Täter*innen werden mit einer Strafe von beispielsweise 20 Jahren belegt, die eine Art von Wiedergutmachung anstrebt. In unserem Fall ist es so, dass wir Vertraulichkeitsgarantien geben können, wenn uns von Fällen erzählt wird. Wir haben ein außergerichtliches Mandat und keine Meldepflicht. Wenn jemand kommt und uns von einem Mord oder Massaker berichtet, dann müssen wir das nicht den Behörden melden. Und genau dies ist für die Arbeit der Kommission von grundlegender Bedeutung. Wir geben die Informationen nicht an die JEP (Jurisdicción Especial para la Paz – Sonderjustiz für den Frieden) weiter, aber die JEP kann uns Informationen geben.

Würden Sie sagen, dass die Wahrheitskommission die kolumbianische Gesellschaft gut widerspiegelt?

Die Kommission ist sehr divers und ich denke, dass der Auswahlprozess ungemein transparent und partizipativ war. Mehr als 200 Personen haben sich dem Komitee vorgestellt, das die Auswahl auch nach einem Diversitätskriterium getroffen hat. Ich bin der einzige Kommissar, der nicht aus Kolumbien stammt. Die Kommission spiegelt die Vielfalt der Ansätze und die territoriale und ethnische Diversität Kolumbiens sowie die Erfahrungen mit dem Friedensprozess und der Transitionsjustiz wider. Das wiederum erzeugt die Notwendigkeit, eine gemeinsame Vision in all dieser Vielfalt von Perspektiven zu entwickeln.

Was bedeutet diese Diversität für Ihre Arbeit in der Praxis?

Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon, was eine Wahrheitskommission überhaupt ist. Historisch gesehen gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen den eher im Frieden und der Versöhnung verwurzelten Visionen von Wahrheit und den Visionen, die auf dem Paradigma der Menschenrechte und der Wahrheitsfindung beruhen. Den einen ist der Frieden, den anderen sind die Menschenrechte wichtiger und eigentlich muss es eine Synthese beider Themen geben. Die Arbeit hängt jedoch nicht nur von der Erfüllung des Friedensprozesses ab, der die Grundlagen für Koexistenz, Wiedereingliederung oder Zukunft von Ex-Kombattant*innen behandelt. Die Basis für das Zusammenleben hängt genauso davon ab, wie viel politischen Konsens es im Land gibt und wie die Stimmung in Bezug auf die Arbeit der Kommission durch die Politik beeinflusst wird. Die Polarisierung in Kolumbien ist ein Problem für die Kommission. Das Prinzip der Nichtwiederholung beinhaltet mehr als die Transformation, die stattfinden muss, um in Zukunft Gewalt, bewaffnete Konflikte und Diktaturen zu verhindern. Die Arbeit muss im Hier und Jetzt ansetzen, denn die zahlreichen Morde an Aktivist*innen in Kolumbien zeigen, wie aktuell die Thematik der Nichtwiederholung ist.

Der Friedensprozess befindet sich also an einem Punkt, an dem es durch die schwierige Sicherheitslage noch keine ausreichenden Bedingungen für die Arbeit einer Wahrheitskommission gibt. Wäre es nicht besser, wenn die Regierung und die Gesellschaft versuchen würden, zuerst den Frieden zu stärken und dann die Kommission einzusetzen?

Meiner Meinung nach, das hatte ich bereits vor langer Zeit gesagt, gibt es bisher keine Bedingungen für eine Wahrheitskommission in Kolumbien, wie sie im Dekret zu ihrer Einsetzung vorgesehen ist. Alle Postkonflikte waren schwierig, aber vergleicht man beispielsweise Guatemala 1994 mit dem Kolumbien von heute, zeigt sich die Komplexität des Konfliktes. In Guatemala habe ich zwei Jahre vor Friedensvertragsunterzeichnung an dem Bericht Guatemala Nunca Más gearbeitet, da die Unterzeichnung absehbar war. Aber in Wirklichkeit haben diese zwei Jahre in Guatemala gefehlt. Wir begannen, in einem Land Aussagen aufzunehmen, in dem es viel Angst und Schrecken gab. Es gab dort zwar mehr Gewalt als in Kolumbien, aber, und das ist der entscheidende Unterschied, insgesamt bessere Sicherheitsbedingungen für unsere Arbeit. Wir hatten keine Sicherheitsprobleme, an verschiedene Orte zu gelangen, um Opfer anzuhören. Es gab keine Morde. Wenn es Bedingungen wie in Kolumbien gegeben hätte, wäre dieser Prozess unmöglich gewesen. In Kolumbien haben die Menschen inmitten des Krieg Wunderbares geleistet. Sie haben Leichen aus den Flüssen gesammelt, obwohl es die Paramilitärs verboten hatten, und Teile der indigenen Bevölkerung haben FARC-Geiseln befreit, sie haben unglaubliche Dinge getan und das ist auch die Stärke Kolumbiens, die aktive Zivilgesellschaft.

Wie sieht Ihre Arbeit unter diesen Bedingungen in den Regionen aus?

Es gibt drei verschiedene Situationen: 1) Orte, an denen man ohne Probleme offen arbeiten kann, 2) Orte, an denen man auf Vertrauensnetzwerke angewiesen ist, um mit Opfern zusammenzuarbeiten und diese dort zu erreichen, wohin man nicht alleine gelangen kann, und 3) Orte, an denen es gar keine Voraussetzungen für unsere Arbeit gibt. Wenn wir dort etwas tun wollen, müssen wir die Leute herausholen, um mit ihnen zu sprechen. Wir fahren also drei Strategien und drei sehr unterschiedliche Arbeitsformen. In manchen Regionen wird sogar unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe agiert. Es werden zum Beispiel lebenswichtige Lebensmittel geliefert, damit die Kommission überhaupt etwas tun kann.

Was ist der Schlüssel zur Nichtwiederholung von Taten?

Zuerst muss die Situation der ländlichen Bevölkerung diskutiert werden. Es gibt Probleme mit der politischen Partizipation, der Stigmatisierung, dem Schwarz-Weiß-Denken und der Konstruktion eines doppelten ideologischen Diskurses. Natürlich gibt es Faktoren, die diese Probleme befeuern, wie zum Beispiel die Kokainproduktion oder die Kriminalität.

Aber all das ist ja im Friedensabkommen mit zum Teil konkreten Ideen festgehalten worden. Wenn die Regierung und die Gesellschaft wollten, könnten sie den Vertrag doch einfach umsetzen und eine Transformation in Bewegung setzen, oder nicht?

Sie müsste vor allem vom Staat umgesetzt werden. Dies ist jedoch von der öffentlichen Politik und den regionalen Entwicklungsplänen bedingt. Und es hängt auch davon ab, wie das Abkommen in die Realität umgesetzt werden soll, jetzt da die Regierung das Wort „Frieden“ aus ihrem Diskurs genommen hat. Ein vollständiges Friedensabkommen, so komplex wie dieses, braucht einen starken politischen und praktischen Willen, um es voranzutreiben. Wenn man dabei nicht die geringste Energie für eine Transformation aufbringen kann, dann ist das problematisch. Und die Regierung hält weiterhin an traditionellen Modellen fest, die vor allem auf die individuelle Demobilisierung der Guerilla abzielen. Es muss überhaupt erst mal ein politischer und sozialer Raum geöffnet werden, in dem eine solche Transformation stattfinden könnte.

Es braucht einen starken politischen Willen, aber das Ergebnis des Referendums nach dem Friedensabkommen hat doch verdeutlicht, dass der Teil der Gesellschaft, der sich an dem Referendum beteiligt hat, diesen mit den FARC verhandelten Frieden gar nicht möchte.

Als ich einige Tage nach dem Referendum den Kampagnenleiter der Nein-Kampagne interviewte, fragte ich ihn: „Diese Kampagne war sehr teuer für euch, nicht wahr?“ Und er antwortete: „Nein, es war die billigste, die wir je gemacht haben.“ Und ich fragte, wie das sein könne. Seine Antwort: „Wir haben zwei Berater aus Panama und Brasilien eingestellt und sie sagten uns, dass wir das Friedensabkommen gar nicht diskutieren müssten. Stattdessen sollten wir die Wut und den Zorn gegen die Regierung nutzen. Und genau das haben wir getan.“

Kann denn der Unmut gegenüber der Regierung, dem Klientelismus und der Korruption durch die Arbeit der Kommission oder das Friedensabkommen aufgebrochen werden?

Korruption folgt dem Geld. Wir können das am Beispiel des Drogenhandels sehen. Der Drogenhandel ist letztendlich eine Industrie und die Probleme, die damit einhergehen, sind nicht die Probleme von denjenigen, die Kokapflanzen anbauen, denn sie befinden sich auf der untersten Stufe der Produktionskette. Es bedarf dahingehend einer anderen Politik, die das Problem des Gewaltkonfliktes als Ganzes ernst- und wahrnimmt. Die Schuld liegt nicht bei den Gemeinden, die Verantwortung liegt woanders. Das zeigt sich beispielsweise auch daran, dass es keine politischen Konzepte der Zentralregierung für die Regionen gab, aus denen sich die FARC zurückgezogen hat. Es gab kaum Begleitung und Unterstützung für die Bürgermeister. Doch Frieden ist kein lokales, sondern das Problem des Zentralstaates. Es gibt eine Elite, die sich dem Umbruch widersetzt und die eine eigene Vision für das Land hat.

Die Kommission will an einer Entideologisierung arbeiten. Was genau bedeutet das?

Einer der Jesuiten, mit denen ich in El Salvador zusammengearbeitet habe, der Sozialpsychologe Ignacio Martín-Baró1, sagte, dass die soziale Polarisierung, so wie die Vision der Realität, in zwei stereotypen Extremen endet. Es gebe keine Zwischentöne, kein Grau, nur Schwarz und Weiß. Entweder du bist für uns oder gegen uns. Und wenn du dich nicht selbst in eines der beiden Extreme begibst, dann wird es jemand anderes für dich erledigen. Es geht um die Kontrolle in der Darstellung der Realität, um eine soziale Polarisierung, die absichtlich konstruiert wird. Und sobald sich diese in einem Konflikt erst mal festgesetzt hat, ersetzt die Frage: „Auf wessen Seite stehst du?“ die Frage: „Was denkst du?“ oder: „Was sagst du dazu?“ Man diskutiert nicht mehr über Inhalte, sondern nur noch die Tatsache, auf welcher Seite man steht. Und genau das ist doch auch in dem Referendum und in der Kampagne gegen den Friedensvertrag geschehen. Es ging nicht mehr darum, Positionen oder Meinungen zu diskutieren. Es ging schlicht und ergreifend darum, die Wut auf die Regierung zu nutzen und mit diesem Zorn Kontrolle über das soziale Gefüge zu gewinnen: „Bist du für Santos oder für Uribe?“ Und deswegen arbeiten wir mit der Wahrheit der verschiedenen Sektoren, mit den Mitteln und Beweisen, die uns zur Verfügung stehen. Die Wahrheit, die wir präsentieren, muss eine sensible Wahrheit sein, die gleichzeitig aber umfassend ist. Dennoch hat unsere Arbeit nicht den Anspruch, allen Recht zu geben.

Wurde diese Polarisierung bereits durch die Politik von Álvaro Uribe ausgelöst?

Die Polarisierung und den Willen, sich diese zu Nutzen zu machen, gab es bereits vor Uribe. Leid und Polarisierung wurden schon lange frei nach dem Motto: „Ich interessiere mich für meine Toten und die anderen, die gehen mich nichts an und existieren für mich nicht“ genutzt. Das hat auch der Falsos-Positivos-Skandal2 deutlich gemacht. Es gibt immer auch eine Verantwortung gegenüber den Diskursen, die solche Taten klein machen, leugnen, rechtfertigen und dadurch eine defensive Erinnerung erzeugen. Und genau das kann die Kommission nicht zulassen, sondern muss alle Seiten anhören und nicht noch zu der bereits bestehenden Polarisierung beitragen. Zwei Journalisten der New York Times, die eine Analyse des Falsos-Positivos-Skandals veröffentlicht haben, mussten das Land verlassen. Und das ist ein sehr schlechtes Zeichen für die Wahrheit, für die Kommission und auch für Kolumbien allgemein.

Welche Gefahr besteht, dass die Wahrheitskommission selbst auch zum Opfer dieser Polarisierung wird, dass sie einem Extrem, einer bestimmten Seite der Konfliktparteien, zugeschrieben wird?

Das ist in allen Kommissionen passiert, mit denen ich zu tun hatte. Kampagnen gegen die Wahrheitskommissionen sind immer gegen Ende gestartet worden, wenn absehbar war, dass die Ergebnisse bald präsentiert würden, wenn klar war, dass der Regierung oder der Armee eine politische Verantwortung zugeteilt würde. In Guatemala beispielsweise begann zwei Monate vor Veröffentlichung des Berichts Guatemala Nunca Más eine Kampagne gegen die Wahrheitskommission REMHI. Am 24. April 1989 wurde der Bericht veröffentlicht und zwei Tage später wurde Juan José Gerardi Conedera von den Fuerzas Armadas de Guatemala (dem Militär) ermordet, weil er sich aktiv in den Friedensprozess eingebracht hatte. Und wieso? Um den Anschuldigungen des Berichtes den Raum zu nehmen. Und genau das passiert am Ende der Prozesse. Es geht darum, die Legitimität infrage zu stellen, denn alles, was eine Wahrheitskommission zur Verfügung hat, ist die Legitimität. Sie hat keine Waffen, oftmals kaum Geld, aber Legitimität. Und wer an ihrer Arbeit kein Interesse hat, der versucht, ihr diese zu nehmen. Ich war Teil einer interdisziplinären und unabhängigen Gruppe von Expert*innen in Mexiko für die Interamerikanische Kommission, die sich mit dem Fall der 43 verschwundenen Studierenden auseinandergesetzt hat. Wir haben mehrere Ungereimtheiten in der öffentlichen Version des Falles feststellen können. In der zweiten Amtszeit begann eine Kampagne gegen uns, weil es Teile des Staates gab, die absolut kein Interesse an der Wahrheit hatten und alles versuchten, uns die Legitimität zu nehmen. Sie warfen uns absurde Dinge vor und setzten alles daran, die Wahrheit in nichts mehr als eine weitere Meinung von vielen zu verwandeln. Aber die Wahrheit kann nicht einfach nur eine weitere Meinung sein.

Worüber spricht die Wahrheitskommission mit der Regierung?

Wir sprechen über den Friedensaufbau und ähnliche Themen. In Kontakt stehen wir mit verschiedenen Bereichen, mit der Abteilung für die Opfer, der Regierung selbst und von Zeit zu Zeit auch mit dem Präsidenten, aber nur so weit wie nötig. Schließlich sind wir eine autonome und unabhängige Kommission und genau das müssen wir ja auch nach außen tragen, um Vertrauen aufzubauen. Aber wir sprechen eben auch mit der Regierung und dem Militär, um Protokolle und Zugang zu Informationen zu bekommen. Es geht nicht nur um FARC-Material, sondern auch um regierungseigene Informationen. Wenn die Regierung uns die Informationen übermittelte, wäre das wunderbar und würde von einer friedensorientierten Position zeugen.

Gibt es ein Team, das für die Kommission arbeitet?

Ja, wir haben jetzt fast 300 Leute. Aber wir hatten auch eine Kürzung von 40 Prozent unter der neuen Regierung Duque. Es gibt außerdem auf legaler Ebene nicht die Möglichkeit, das Mandat der Kommission zu verlängern. Dafür bräuchte es eine Reform. Die derzeitige Stimmung ist insgesamt nicht sonderlich förderlich.

Gibt es eine Art von Arbeitsteilung in der Kommission? Sie beschäftigen sich beispielsweise eher mit den Menschen, die im Exil leben, andere fokussieren sich eher auf die Arbeit mit der indigenen Bevölkerung?

Jedes Mitglied hat eine eigene Region, für die es zuständig ist. Ich bin beispielsweise verantwortlich für die Menschen, die im Exil leben. Aber ich verantworte auch, wie die Befragungen und Interviews laufen. Ich koordiniere ein Team von fünf Leuten, das für die psychosoziale Arbeit zuständig ist. Die Frage ist also, wie wir die Leute, die in der Kommission arbeiten, ausbilden und wie die Begleitung der Opfer gestaltet werden soll. Gerade haben wir ein Handbuch über psychosoziale Arbeit für die Kommission erstellt: Wie werden Zeugnisse ablegt, Treffen organisiert, wie wird pädagogisch vorgegangen? Wie geht man bestenfalls mit Erwartungen oder Angst und Schmerz um?

Es muss schwer für die Kommissar*innen sein, die Opfer zu interviewen, ohne dafür ausgebildet zu sein.

Wenn wir zum Beispiel eine öffentliche Diskussion über Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, führen, gibt es einen Vorbereitungsprozess. In den Sitzungen wird diskutiert, was die Taten für diese Frauen und ihre Familien bedeuteten, ob die Diskussion öffentlich sein wird oder nicht, wie man sich um Ängste und die Sicherheit kümmert, was mit den Menschen passieren wird, die im Publikum zuhören und auch einen Einfluss haben. Das sind tiefgreifende Fragen. Wir benötigen daher eine gute Betreuungsstrategie und müssen mit Unterstützungsnetzwerken in den verschiedenen Regionen arbeiten. Weitere Diskussionen gibt es zum Thema Exil und zu den Auswirkungen auf die zweite Exilgeneration. Bei einem Treffen im Baskenland wollen wir Menschen der zweiten Exilgeneration aus Europa zusammenbringen und sie fragen, was aus ihrer Sicht für die Aufklärung wichtig ist.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass man im Ausland und den Kommunen all die schrecklichen Dinge und ihre Ursachen schon kennt, aber nicht darüber reden kann. Kann die Kommission die Stimme derer sein, die nicht sprechen können?

Es stimmt, dass die Geschichten oft so klingen, als hätten sie nichts mit der Nation und der Regierung zu tun, als handle es sich um Vorfälle, die nur in den Kommunen weit ab von den Städten passieren würden. Aber die Dinge müssen beim Namen genannt werden, die Wahrheit muss ans Licht kommen. Eine Freundin aus El Salvador antwortete auf die Frage, wozu sie überhaupt eine Wahrheitskommission im Land bräuchten: „Wir, also die Opfer, wissen, was passiert ist. Sie, also die Verantwortlichen, wissen auch, was passiert ist. Wir wollen, dass die Gesellschaft es ebenfalls weiß.“ Und das ist nach wie vor der Schlüssel unserer Arbeit, dass die Gesellschaft weiß, was passiert ist, und dass sie sich selbst im Spiegel betrachtet und die Wahrheit erkennt.

Gibt es Lehren aus den Prozessen anderer Länder, die für Kolumbien gezogen werden können?

Die Wahrheit muss zwei Dinge erfüllen: Sie muss umfassend sein, damit die verschiedenen Seiten auch das Gefühl haben, dass ihre Versionen berücksichtigt und mit Respekt behandelt werden. Und zweitens muss sie solide sein, konsequent und belastbar anhand von Beweisstücken und in der Analyse. Die Wahrheit muss jedoch auch die Vergangenheit und die Zukunft erklären. Die Vergangenheit, damit man weiß, wie man es in der Zukunft besser machen kann. In Kolumbien wurde viel getan, aber komplette Wahrheiten wurden nicht ausgesprochen. Die Dimension des Aktivierungsprozesses ist der Schlüssel: Wenn die Menschen den Prozess als für sich wichtig erkennen, übernehmen und ihn als sinnvoll erachten, dann funktioniert die Arbeit und wird vor allem auch weitergeführt werden. Dann entwickelt sich der Prozess zu einer bedeutungsvollen Erfahrung für die Beteiligten

Mehr Informationen zur Kommission: https://comisiondelaverdad.co/

  • 1. Der Jesuit Ignacio Martín-Baró wurde – neben sieben anderen – am 16. November 1989 in San Salvador von der salvadorianischen Armee ermordet, siehe auch Beiträge in ila 412 und ila 414.
  • 2. Zwischen 2002 und 2008 ermordeten Armeebrigaden in ganz Kolumbien systematisch mehr als 3000 Zivilist*innen. Die Leichen wurden als Feinde ausgegeben, die im Kampf getötet wurden, um Zusatzleistungen und Auszeichnungen zu bekommen. International bekannt wurde der Fall als false positive-Skandal. Mehr Infos u.a. bei Human Rights Watch: https://www.hrw.org/news/2018/11/12/how-perverse-incentives-behind-false...

Das Interview führte Dr. Linda Helfrich, Sektorvorhaben Frieden und Sicherheit, KRM der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ. Übersetzung aus dem Spanischen: Nora Berger-Kern, redaktionelle Überarbeitung: Linda Helfrich