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Wer schweigt, macht sich zum Komplizen

Ein Fall von sexuellem Missbrauch bei den bolivianischen Pfadfindern

Eine Gruppe ehemaliger bolivianischer Pfadfinder hat sich nach vielen Jahren entschlossen, drei ihrer ehemaligen Betreuer wegen sexueller Gewalt anzuzeigen und wird deshalb massiv unter Druck gesetzt. Einer von ihnen, der Filmemacher Juan Álvarez-Durán, spricht in einem Interview am 28. Juli dieses Jahres über traumatische Erfahrungen in der Vergangenheit.

Peter Strack

Ihr habt jetzt Anzeige gegen drei ehemalige Betreuer erstattet. Waren die Ereignisse in der Zwischenzeit verdrängt und vergessen?

Wenn dir so etwas passiert, dann denkst du da nicht immer wieder dran, sondern versteckst es in einer Ecke deines Kopfes. Es ist eine Selbstschutzfunktion deines Hirns. Aber es ist auch eine Last, die du mit dir herumschleppst. Darüber zu reden und Anzeige zu erstatten hilft dir, diese Last loszuwerden. So ist es mir ergangen, aber viele in der Gruppe sind noch mitten in dem Prozess. Und es gibt auch immer noch eine ganze Reihe, die nicht darüber reden oder die Anzeige unterstützen wollen. Und manche, von denen wir genau wissen, dass sie das Gleiche erlebt haben, streiten das rundheraus ab. Das Leugnen ist auch ein Schutzmechanismus. Aber wenn sie es nicht verarbeiten, wird es irgendwann wieder hervorkommen. Man hat herausgefunden, dass viele Straftäter früher selbst Opfer waren und das Trauma nicht verarbeitet haben. Wir wollen ja vorbeugend tätig werden. Deshalb beteiligen sich manche von uns auch an den Arbeitsgruppen des Netzwerks gegen sexuelle Gewalt an Kindern von La Paz.

Die Gruppe, welche die Anzeigen erstattet hat, wird aber auch von der Pfadfinderorganisation isoliert.

Die Organisation glaubt, dass wir sie angreifen, und hat sehr schnell die Position eingenommen, dass wir die Pfadfinderbewegung zerstören wollen. Wir und auch die derzeitige Leitung der Gruppe gehören alle zur selben Generation. Sie fühlen sich persönlich angegriffen und haben deshalb Schutzwälle aufgebaut. Wir haben zum Beispiel versucht, mit den Eltern zu reden, um neuen Übergriffen vorzubeugen. Das wurde uns von der Organisation direkt verboten. Mit uns hat die Pfadfindervereinigung nie reden wollen. Und statt juristischer Unterstützung der Opfer haben sie einen PR- und Imageberater unter Vertrag genommen. Dabei richtet sich die Anzeige nicht gegen die Pfadfindervereinigung, sondern gegen drei bestimmte Personen. Auch wenn die Vereinigung Verantwortung für die Lücken in den Kontrollmechanismen übernehmen muss.

Geschieht denn jetzt etwas?

Wir wissen das nicht, wir sind ja von der Information abgeschnitten. Ich habe zwar viele Freunde, die noch Pfadfinder sind, aber ich weiß nicht, was auf institutioneller Ebene geschieht. Wir haben versucht, etwas in Bewegung zu bringen und hatten ein Treffen mit dem Distriktbeirat. Dessen Präsident war nicht da und die anderen betonten alle, dass sie nur privat da seien. Wenn sich die Tür auf diese Weise verschließt, werden wir nicht weiter insistieren.

Wenn die aktuelle Leitung damals mit euch in der Gruppe war, könnte man doch Solidarität erwarten...

Das ist fast schon eine infantile Reaktion. Man verschließt sich komplett. Es gibt Leute, die nicht mal mehr mit uns sprechen, geschweige denn solidarisch wären. Und manche haben wiederholt behauptet, wir würden lügen, um Geld zu erpressen. Wenn es soweit ist, kann man sie auch nicht überzeugen.

Die Ereignisse liegen lange zurück. Wie kam es dazu, dass ihr doch noch Anzeige erstattet habt?

Die vier Hauptkläger hatten bereits fast zwei Jahre lang versucht, etwas juristisch auf die Beine zu stellen. Aber die Justiz hatte ihre Eingaben regelmäßig abgelehnt. Bis schließlich eine Mutter in den Netzwerken einen anonymen Brief veröffentlichte. Und aufgrund der Reaktion in den Medien wurde die Anzeige schließlich aufgenommen. Die Staatsanwaltschaft wurde aktiv, Beweise wurden gesammelt und es kam im November schließlich zur Anklage. Seitdem wird die Aufnahme des Verfahrens ständig durch Eingaben verzögert. Das ermüdet, aber wir haben uns zusammengesetzt und teilen uns die Arbeit auf. Wir haben gelernt, uns zu organisieren. Anfangs waren es vier, jetzt sind es 16 Kläger.

Der anonyme Brief hat das Verfahren in Bewegung gebracht. Welche Rolle spielen die Medien?

Manche Journalist*innen machen die Betroffenen erneut zu Opfern. Es gibt einen starken Paternalismus. Sie behandeln dich wie ein Kind. Aber paradoxerweise wollen sie dann alles haarklein erzählt bekommen. In solchen Fällen ist es wichtig, sich vorher zu informieren, um zu wissen, wie sie darüber reden können.

Sexuelle Gewalt an Mädchen ist relativ bekannt, aber wenn die Opfer Jungen sind, gibt es weniger Vorverständnis.

Opfer sexueller Gewalt zu werden, ist für Mädchen wie Jungen genauso schwierig. Bei den Jungen kommt aber eine gewisse Rollenerwartung hinzu, die sie erfüllen sollen. An die Gewalt gegen Mädchen hat sich die Gesellschaft gewöhnt. Aber von den Jungen erwartet sie, dass sie es verschweigen oder fragen, warum hast du dich denn nicht gewehrt? Aber wir waren damals zwölf Jahre alt. Dabei sollte es null Toleranz gegenüber sexueller Gewalt geben, egal ob sie sich gegen Jungen oder Mädchen richtet. Und man sollte sich auch bewusst sein, dass Mädchen wie Jungen gefährdet sind. Am besten ist es, der sexuellen Gewalt vorzubeugen. Die bolivianische Gesellschaft ist in dieser Hinsicht noch sehr konservativ. Wir benötigen mehr Sexualaufklärung in der Schule, mehr Offenheit, um über diese Themen zu reden. Das ist eine Aufgabe von uns allen. Wer schweigt, macht sich zum Komplizen.

Das Interview führte Peter Strack im Juli 2019 in La Paz.

Man muss den Kindern vertrauen

Die bolivianische Rechtsanwältin Alejandra Camara über sexuelle Gewalt und die Justiz

Die Opfer der Übergriffe bei den bolivianischen Pfadfindern werden von International Justice Mission begleitet. Diese NRO vertritt Opfer von Sklaverei, Menschenhandel und sexueller Gewalt. Wir fragten die Rechtsanwältin Alejandra Camara, in Bolivien zuständig für das Programm zur Stärkung des Rechtssystems, zu ihrer Arbeit und dem Fall bei den Scouts.

Seit 13 Jahren begleiten wir Fälle sexueller Gewalt an Kindern in Bolivien. Bislang sind es um die 340 Fälle. Mehr als 150 endeten mit einer Verurteilung. Einige Täter wurden auch freigesprochen. Es gibt auch Anschuldigungen und Drohungen, um zu erreichen, dass die Klage zurückgenommen wird. Die Anwälte tun ihr übriges, indem sie versuchen das Verfahren zu verzögern, damit die Kläger*innen müde werden und aufgeben. Bei einer jüngsten Auswertung der Fälle seit 2014 haben wir festgestellt, dass ein Verfahren im Durchschnitt 3,3 Jahre dauert. Früher benötigte es im Durchschnitt sogar vier Jahre. Es ist also besser geworden, aber drei Jahre sind für ein Opfer immer noch eine viel zu lange Zeit. Bei 40 Prozent unserer Fälle haben die Opfer die Anzeige zurückgenommen. Häufig spielen Geldzahlungen an die Familie des Opfers eine Rolle, oder ein Umzug in eine andere Stadt.

Im Fall der Pfadfinder sind wir nicht der Rechtsbeistand, sondern unterstützen die Kläger als Mitgliedsorganisation des Netzwerks gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in La Paz. Anfangs waren es fünf oder sechs Personen, die alleine zu den Anhörungen vor Gericht gegangen sind. Vielleicht noch ein paar Freunde. Aber die Familie der Angeklagten, drei Täter und eine Person, die den Fall vertuscht hat, treten in großen Gruppen mit zwei oder drei Rechtsanwälten auf. Das schüchtert die Kläger ein. Deshalb sind wir auch zu den Anhörungen gegangen, um die Kläger zu unterstützen. Zwei Gruppenleiter hatten die Nähe zu den Kindern ausgenutzt. Beim einen waren es Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren, die er übergriffig berührt oder sie sogar dazu gebracht hat, sich zu entkleiden. Die Betroffenen haben viele Jahre lang darüber geschwiegen. Aber im Jugendalter haben sie einem anderen Begleiter davon erzählt. Der versprach ihnen, sich darum zu kümmern, sagte, er habe mit dem Täter gesprochen und es werde nie wieder geschehen, und hat sich so ihr Vertrauen gewonnen. Außerhalb der üblichen Gruppensitzungen, aber auch innerhalb der Räumlichkeiten hat dieser Gruppenleiter mit ihnen dann Alkohol konsumiert und die Situation ausgenutzt, um sexuellen Kontakt mit den Jugendlichen zu haben. Es waren nicht nur einer oder zwei, sondern eine ganze Reihe, die die Erlebnisse zunächst verdrängt haben. 16 haben Anzeige erstattet, aber sie wissen voneinander, dass mindestens 22 Opfer dieser Übergriffe geworden sind. Aber manche wollen nicht darüber reden, weil sie Teil der Gruppe bleiben wollen, die für sie wie eine Familie ist. Und andere haben einfach Angst, weil sie gesehen haben, wie die 16, die Anzeige erstattet haben, eingeschüchtert werden. Der jüngste ist heute gerade einmal 19 Jahre alt. Zuerst haben sie Briefe an die Leitung der Scouts geschrieben. Doch der Verantwortliche, ein Rechtsanwalt, hat einfach abgewiegelt, den Jungen gesagt, dass sie viel Geld umsonst ausgeben würden, aber niemand ihnen glauben werde. Dass sie sowieso keine Chancen hätten, weil die Taten verjährt seien. Das sind die Argumente, die alle Täter vorbringen. Aber wir haben eine höchstrichterliche Entscheidung, die solche Taten als Menschenrechtsvergehen einstuft. Und die verjähren nicht. Zumal die Übergriffe in diesem Fall über mehrere Jahre lang stattfanden. Und die Opfer haben einen kostenlosen guten Anwalt gefunden. Als junge Menschen verdienen sie noch nicht viel Geld. Und die kommunalen Kinderrechtsbüros unterstützen sie nicht mehr, weil sie inzwischen über 18 sind, obwohl sie laut Gesetz nach wie vor zuständig wären.

Erst hat die Justiz auf die Anzeigen nicht reagiert. Erst als die jungen Leute den Fall in die Medien gebracht hatten, wurde die Prüfung des Falles aufgenommen. Das Justizministerium und die Ombudsstelle haben von der Justiz Bericht eingefordert, und dann ging es auf einmal voran. Auch die Beklagten sind an die Öffentlichkeit gegangen. Die jungen Leute seien schon immer problematisch gewesen, sie würden lügen, wollten der Institution schaden und nur Geld erpressen.

Im November kam es nach der Beweisaufnahme zur Anklage. Seitdem ist das Verfahren wieder im Stand-by. Immer wieder wurden die Sitzungen verschoben. Erst vor ein paar Wochen kam es zu einer Anhörung, aber auf Antrag der Beklagten, welche die Einstellung wegen Verjährung beantragt hatten. Das hat der Richter abgelehnt.

In all dieser Zeit hat die Pfadfinderorganisation die Opfer in keiner Weise unterstützt, sondern versucht, die jungen Leute zu isolieren und von der Organisation fernzuhalten.

Wir als Netzwerk haben diverse Anfragen an die Pfadfinderorganisation geschickt, nach den institutionellen Schutzmechanismen gegen sexuelle Gewalt gefragt und um Unterstützung in den beiden Fällen gebeten. Die blieben unbeantwortet. Stattdessen hat ein Mitglied des Netzwerks Drohungen vom Anwalt der Beschuldigten bekommen. Wer ihnen das Recht gebe, eine solche Anzeige zu unterstützten. Und man werde die Organisationen, die die Anzeige unterstützt hätten, wegen Verleumdung verklagen.

Wir wissen nur zu gut, dass es für eine Organisation schwierig ist, mögliche Sexualstraftäter in ihren Reihen zu identifizieren. Aber wenn ein Verdacht aufkommt, ist es die Pflicht, den Verdächtigen von der Gruppe zu trennen, bis der Sachverhalt aufgeklärt ist. Zwar arbeiten die Angeklagten nicht mehr in der Organisation, aber die fehlende Unterstützung und Distanzierung von den Opfern ist eine implizite Unterstützung der Täter.

Für uns ist es wichtig, dass die Gesellschaft die Augen öffnet, dass so etwas geschehen kann, um neuen Fällen vorzubeugen. Und dafür ist die Unterstützung der Opfer ebenso wichtig die Anzeige. Und auch wenn die Anwälte der Angeklagten immer hervorheben, dass die Unschuldsvermutung gilt, sollte der Schutz der Kinder ganz oben stehen. Solche Erfahrungen erfinden die Kinder nicht, man muss ihnen vertrauen.

Der Text basiert auf einem Interview, das Peter Strack mit Alejandra Camara führte.