ila

Für mich ist der Markt Leben

Der dominikanisch-haitianische Grenzmarkt in Dajabón zwischen ökonomischer Annäherung und sozialer Geringschätzung

Geisterhaft verlassen stehen die über tausend hölzernen Verkaufshütten in der prallen Mittagssonne auf dem Platz vor dem blau-weißen Hauptgebäude des binationalen Marktes in Dajabón. Es ist ein Mittwoch im Juni 2019 und auf dem Gelände herrscht eine ungewöhnliche Stille. Alles ist sauber – und leer.

Denise Schaffrinski
Alberto Pierre Cena

Dajabón liegt in der Region Cibao im Nordwesten der Dominikanischen Republik und ist die größte Grenzstadt des Landes. Der Name stammt aus der Zeit der indigenen Taíno-Kultur (Dahaboon). Der binationale Markt an der Grenze zu Haiti ist das pulsierende ökonomische Herz von Dajabón. Er füllt nicht nur die Straßen der Stadt, sondern auch ihre Geldbörsen. Die vielen Hotels werden von Händler*innen frequentiert, die Restaurants, comedores (kleine, einheimische Restaurants), Cafeterien und Bars versorgen die Kund*innen und Verkäufer*innen mit Essen und Getränken und die Stadtkassen profitieren von den zollpflichtigen Waren, die aus Haiti extra für die Markttage eingeführt werden. Mit einem Volumen von circa einer Million Dollar pro Woche ist der Grenzmarkt die Haupteinnahmequelle der Provinz, deren Handel dadurch bis zu 90 Prozent von der Präsenz der haitianischen Nachbar*innen abhängt. Insgesamt gibt es 14 binationale Märkte entlang der 382 Kilometer langen haitianisch-dominikanischen Grenze. Von diesen ist Dajabón der weitaus größte mit 24 856 Besucher*innen pro Tag (2010) bei einer Einwohner*innenzahl von 63 955 (2010) in der gesamten gleichnamigen Provinz. Dajabón war auch der erste Markt, der 1993 nach einem Erlass des damaligen Präsidenten Joaquín Balaguer (1966-1978, 1986-1996) die Grenze für die haitianischen Nachbar*innen öffnete. Seitdem lassen die dominikanischen Grenzbeamt*innen jeden Montag und Freitag Haitianer*innen visumfrei zu Marktzwecken ins Land. Viele von ihnen kommen bereits zu den premercados an den vorangehenden Sonntagen und Donnerstagen. Im Februar 2019 wurde vor dem Hintergrund der sozialen Proteste und der damit einhergehenden Lebensmittelknappheit in Haiti zusätzlich der Mittwoch als Markttag eingeführt, was sich aber offensichtlich nicht durchsetzen konnte. Denn an diesem Mittwoch betreten wir mit Erlaubnis der Grenzpolizei die abgeriegelte 40 000 Quadratmeter große Marktfläche und stehen auf einem verlassenen Platz mit 1380 Holzhütten, in denen am darauffolgenden Donnerstag dominikanische und haitianische Händler*innen ihre Waren installieren werden.

„Um zur Arbeit zu kommen, stehe ich um 5 Uhr auf, damit ich alles zu Hause fertig machen kann, was ich machen muss. Dann komme ich um 7:30 Uhr hierhin, um darauf zu warten, dass sie um 8:00 Uhr das Tor öffnen“, erklärt Kerlange. Kerlange ist 19 Jahre alt und begleitet ihre Mutter seit ihrer Kindheit zum Markt in Dajabón. Wir treffen sie in einem Vorhof neben dem Markt, wo sie und ihre Mutter ein Lager für ihre Waren gemietet haben. Normalerweise dürfen sich die haitianischen Besucher*innen und Verkäufer*innen nur im abgegrenzten Marktareal aufhalten, das von Grenzbeamten bewacht wird. Nach Ende eines Markttages müssen sie sich wieder auf der haitianischen Seite der Grenze befinden.

Die haitianisch-dominikanische Grenze war nicht immer so streng kontrolliert. Die Historikerin Amelia Hintzen1 zeigt auf, dass sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts als relativ fluide beschrieben werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt war das Bild der Provinz Dajabón sowie der gesamten dominikanischen Grenzregion und der Zuckerplantagen von vielen haitianisch-dominikanischen Gemeinden geprägt. Haitianer*innen waren bereits zu diesem Zeitpunkt das Rückgrat der dominikanischen Landwirtschaft und das Zusammenleben mit ihren dominikanischen Nachbar*innen gestaltete sich weitgehend friedlich. Die dominikanischen Gemeindemitglieder reagierten nicht selten feindlich auf die wiederholten Abschiebungsversuche ihrer haitianischen Mitbürger*innen durch die nationalen Behörden. So beschwerte sich zu Zeiten der US-Besatzung 1920 der Gouverneur der Provinz Monte Christi beim dominikanischen Innenministerium über entvölkerte Dörfer, eine falsche Gesetzesanwendung und Amtsmissbrauch durch abschiebende Soldaten. Die Besatzungsmacht USA förderte eine streng regulierte Grenze und die Kontrolle über die relativ autonomen Bauerngemeinden. Die nahezu zeitgleiche Besetzung Haitis durch die USA führte allerdings zu einer verstärkten Abwanderung haitianischer Landwirtschaftsarbeiter*innen ins Nachbarland. Das wurde von der dominikanischen Elite als bedrohliche stille „Invasion“ wahrgenommen, die das dominikanische, spanische und weiße Erbgut verwässern konnte. Wie auch die USA setzte die Elite Hautfarbe mit Fortschrittsfähigkeit gleich. Im Gegensatz dazu sah die Mehrheit der dominikanischen Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt die haitianische Kultur nicht als bedrohlich an. Zwar existierten stets ethnische Konflikte und Stereotype, allerdings waren auch viele Familien, gerade in der Grenzregion, binational. Geblieben ist davon eine inoffizielle fluide Grenze an Tagen des binationalen Marktes in Dajabón. Aufgrund der Korruption im dominikanischen Behördenapparat und des Einsatzes von Bestechungsgeldern wird der Markt für eine Dunkelziffer von Haitianer*innen heutzutage zum Ausgangspunkt für illegale Ein- und Auswanderung.

Als wir an diesem Mittwoch in den schattigen Vorhof neben dem Markt in Dajabón eintreten, sitzt Kerlange lachend mit einem knallroten Cap auf einem Steinblock, umgeben von Schuhbergen und mehreren haitianischen Frauen. Sie spricht ein wenig Spanisch, das sie auf dem Markt gelernt hat. Jeden Montag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag hilft sie ab 12 Uhr nach der Schule ihrer Mutter beim Verkauf auf dem binationalen Markt. Sonntags begleitet sie ihre Mutter ganztägig. Kerlange besucht die Abschlussklasse der Sekundarschule in der haitianischen Nachbarstadt Ouanaminthe, wo sie zusammen mit ihrer Mutter und drei Geschwistern lebt. „Nachdem ich geboren wurde, fing meine Mutter an, an der Grenze zu arbeiten. Damit bezahlt sie alles, die Schule, das Essen, alles.“ So wie sie und ihre Mutter sind 70 Prozent der Verkäufer*innen auf dem Markt in Dajabón Frauen. Sie profitieren vom starken dominikanischen Peso, für den sie beim Geldumtausch die doppelte Menge haitianischer Gourde erhalten. Kerlange beschreibt, dass der Grenzmarkt für die Frauen die Existenzgrundlage ist: „Für mich ist der Markt Leben, weil ich mich dank ihm ernähren kann, weil ich mich besser kleiden und meine Schule bezahlen kann.“ Es handelt sich jedoch um ein unsicheres Einkommen. Mitunter bleibt der Markt geschlossen und die Verkaufszahlen schwanken stark: „Manchmal können wir an einem Tag mehr als 10 000 Pesos (1 Euro entspricht 57,83 Dominikanischen Pesos; Stand 18.06.2019) verdienen, wenn wir viele Kunden haben. Aber es gibt auch Tage, an denen ich nicht einmal genug für ein Stück Brot verdiene. Das heißt, es gibt Tage, an denen wir viel verkaufen können und Tage, an denen wir gar nichts verkaufen“, schildert Kerlange. Die Fixkosten an Standgebühr pro Markttag in Höhe von 50 Pesos und der Einfuhrzoll fallen dennoch an: „Der Preis für die Genehmigung ist abhängig von der Anzahl der Waren. Manchmal zahle ich für einen großen Sack 500 Pesos, und wenn der Sack klein ist, kann der Preis geringer ausfallen. Aber das nur, wenn du Glück hast, denn manchmal verlangen sie von dir den gleichen Preis für einen kleinen Sack.“ Für die Frauen gestaltet sich der Zutritt zum Markt teilweise schwierig: „Manchmal kann ich das Geld in der Hand haben und das Militär fängt an mich zu schubsen. Das passiert oft, wenn ich ein Paar Schuhe habe, das ihnen gefällt. Oder sie lassen mich nicht eintreten, obwohl ich den Zoll für den Eintritt schon bezahlt habe. Manchmal habe ich die Quittung schon, also die Genehmigung des Zolls, um den Markt zu betreten. Und dann verbieten mir die Soldaten am Markteingang den Zugang, weil sie wollen, dass ich auch ihnen Geld für den Zutritt zum Markt gebe.“ Die Willkür bei der Zollgebührenerhebung gehört trotzdem noch zu den geringeren Übeln, die Kerlange an der dominikanischen Grenze erfährt: „Was mir nicht gefällt, ist, dass sie manchmal die Kinder, die Männer und auch die Frauen schlagen. Die einzigen, mit denen sie ein bisschen Mitleid haben, sind die schwangeren Frauen.“

Gewalt an der Grenze zu Dajabón ist ein altes Phänomen, das seine schlimmsten Auswüchse zu Zeiten der Militärdiktatur unter Rafael Trujillo erlebte. Der damalige Oberbefehlshaber der dominikanischen Armee kam 1930 nach einem Putsch an die Macht und regierte das Land bis zu seiner Ermordung 1961. Obwohl er selber eine haitianische Großmutter hatte, verfolgte Trujillo bereits zu Beginn seiner Präsidentschaft eine anti-haitianische Politik. Amelia Hintzen beschreibt, wie er damit zum einen die dominikanische Elite zufriedenstellen und zum anderen die lokalen Gemeinden stärker kontrollieren wollte. Er versuchte zudem, die dominikanische Bevölkerung durch die gezielte Einwanderung weißer, u.a. jüdischer und puertoricanischer, Migrant*innen „aufzuhellen“. 1937 schließlich beschloss Trujillo bei einem Besuch der Grenzregion Cibao, das haitianische „Problem“ in der Dominikanischen Republik militärisch binnen weniger Tage zu lösen. Am 2. Oktober beorderte er seine Armee in die Provinz, um eine systematisch geplante Vernichtungskampagne der dort lebenden Haitianer*innen durchzuführen. Dies machte Dajabón wenige Tage später zum Schauplatz eines der brutalsten Massaker in der Dominikanischen Republik. Um Haitianer*innen von Afrodominikaner*innen unterscheiden zu können, wurde das Militär angewiesen, haitianisch aussehende Personen aufzufordern, das Wort perejil („Petersilie“) auszusprechen, um den Akzent des haitianischen Kreol herauszufiltern. Wer das Wort nicht befriedigend aussprechen konnte, wurde unabhängig von Alter und Geschlecht festgenommen. Binnen weniger Tage wurden Tausende haitianische Frauen, Männer und Kinder von dominikanischen Soldaten und Polizisten mit Macheten, Messern und Stöcken umgebracht. Ihre Körper wurden in den Dajabón-Fluss geworfen, der auf der haitianischen Seite den Namen Rivière Massacre („Massakerfluss“) trägt.

Zwischen 9000 und 20 000 Haitianer*innen wurden in diesen Oktobertagen 1937 getötet, was als El Masacre de Perejil in das kollektive Gedächtnis einging. Trotz dieses Massakers und seines repressiven Regimes konnte sich Trujillo der Unterstützung und Freundschaft der USA weiterhin sicher sein. Dort war man sich seiner Brutalität, Tyrannei und Korruption wohl bewusst, ignorierte sie aber mit staatsmännischem Stoizismus vor dem Hintergrund seiner antikommunistischen Gesinnung und später aufgrund der Allianzpolitik des Kalten Krieges. Ein Zitat, das Cordell Hull, dem ehemaligen Außenminister der Vereinigten Staaten, zugeschrieben wurde, beschreibt anschaulich die US-Außenpolitik zu Zeiten von Trujillos Diktatur: „He is a son of a bitch but he‘s our son of a bitch!“ Offiziell stellte der dominikanische Staat das Massaker als notwendige Antwort auf eine „passive“ Invasion durch Haitianer*innen dar und begründete es mit historisch-ethnischen Konflikten, die bis zur haitianischen Besatzung zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurückreichten.

El Masacre de Perejil und die damit einhergehende Rhetorik verwandelten die ethnische Differenz der Haitianer*innen somit in eine existentielle Bedrohung für die Dominikanische Republik und machten den Anti-Haitianismus zu einem wichtigen Teil des offiziellen dominikanischen Nationalismus. Die Regierung begann darüber hinaus verstärkt, die im Land lebenden Haitianer*innen physisch, ökonomisch und kulturell zu isolieren und auf ihre Arbeit in den Zuckerplantagen zu reduzieren. Haitianer*innen waren als billige landwirtschaftliche Arbeitskräfte in der dominikanischen Migrationsökonomie von Seiten des Staates zwar nicht erwünscht, wurden aber benötigt. Trujillos anti-haitianische und nationalistische Politik während der 31 Jahre seiner Diktatur zeigten Wirkung: Die öffentliche Wahrnehmung der haitianischen Migrant*innen ist bis heute von vielen Stereotypen und Rassismus aufgrund ihrer oft dunkleren Hautfarbe geprägt.

Der Grenzmarkt in Dajabón wird als ökonomisch-bilaterales Annäherungsprojekt für die angespannten Beziehungen zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti verstanden, weshalb die Europäische Union bereits über zehn Millionen Euro in Gebäude und Neukonzeption investiert hat. Eine neue Infrastruktur und schönere Zollämter bringen jedoch nicht automatisch Respekt und Menschlichkeit gegenüber den haitianischen Nachbar*innen hervor: „Die Beziehungen zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti werden für mich durch die Art und Weise geprägt, wie der Dominikaner den Haitianer behandelt. Die Dominikaner nehmen wahr, dass wir sie brauchen und deswegen machen sie mit uns, was sie wollen, weil wir nicht so einen Markt wie diesen haben. Aber tatsächlich denke ich, dass Haiti ohne diesen Markt nichts wäre. Denn alle Personen, die ihre Kinder auf die Universität schicken, die ihren Kindern ermöglichen zu reisen, haben auf diesem Markt gearbeitet. Nur durch ihren Handel haben sie all das erreicht. Diese Händlerinnen, die hier sind, sind diejenigen, die die Verantwortung zu Hause tragen. Diese Frauen sind die Verantwortlichen für alles und sie schaffen es allein mit diesem Geschäft, was du hier siehst. Ich kann dir sagen, dass es eine sehr wichtige Union wäre, wenn die Dominikaner nicht so geringschätzig mit den Haitianern umgehen würden. Aber aufgrund der Art und Weise, wie sie uns behandeln, kann ich nicht sagen, dass es eine gute Beziehung gibt und auch nicht, dass sie gute Menschen sind.“ Kerlange sagt manchmal, dass Dajabón ihr aufgrund der Rücksichtslosigkeit und Gewalt, die sie und ihre Mutter an der Grenze erfahren, nicht gefällt. Dennoch findet sie auch gute Seiten an Dajabón: „Es ist eine schöne Stadt, die ich viele Male betreten habe. Ich besuche hier außerdem einen Informatikkurs der INFOTEP. Und es gibt viele Haitianer, die die Schule hier besuchen. Dajabón ist eine schöne und saubere Stadt.“ Kerlange macht bald ihren Schulabschluss und lernt parallel Spanisch. Ihr Wunsch für die Zukunft ist ein Studium in Santiago de los Caballeros in der Dominikanischen Republik: „Ich möchte Tourismusmanagement studieren und später möchte ich meine Mutter von dieser Arbeit hier wegholen, denn die Dominikaner misshandeln die Haitianer zu sehr. Ich möchte meiner Mutter in der Zukunft einen Laden in Haiti schenken, in dem sie ruhig sitzend und ohne von jemandem belästigt zu werden verkaufen kann. Denn obwohl die Grenze wichtig für uns ist, behandeln sie uns manchmal zu schlecht. Für die Zukunft möchte ich nicht, dass meine Mutter in ihrem Leben weiterhin dieser gleichen Arbeit, wo sie Verachtung erfährt, nachgeht.“

  • 1. Hintzen, Amelia (2016): „A Veil of Legality. The Contested History of Anti-Haitian Ideology under the Trujillo Dictatorship“, in: New West Indian Guide 90, S. 28-54.