ila

Die Mär vom nachhaltigen Wachstum

Rezension: „Die Grüne Lüge“ von Kathrin Hartmann
Werner Rätz

Die Journalistin Kathrin Hartmann setzt sich schon seit einigen Jahren mit der „Märchenstunde“ des angeblichen „grünen Wachstums“ und dem damit verbundenen Raubbau auseinander. Auf dieser Linie liegt auch ihr neuestes Buch. Es begleitet den gleichnamigen Film, an dem sie zusammen mit Regisseur Werner Boote gearbeitet hat.

Es geht um ein Produktions- und Konsummodell, bei dem immer mehr Wachstum erzielt werden muss und das dabei vor drei schwerwiegenden Problemen steht. Erstens bedeutet mehr Wachstum auch mehr Energie und Stoffverbrauch, was, wie jedem und jeder sofort einleuchtet, dauerhaft auf einem endlichen Planeten nicht funktionieren kann. Zweitens gibt es Grenzen beim Konsum, weil die zahlungskräftige Nachfrage für mehr oder weniger alle Produkte weitgehend gesättigt ist. Zwar leidet mehr als ein Viertel der Menschheit unter gravierenden Mängeln in der täglichen Versorgung, aber das liegt daran, dass sie nicht zahlen können. Für diejenigen, die Geld haben, ist die Welt voll mit Dingen, die niemand braucht. Und weil viele das auch bemerken, stellt sich drittens die Frage, wie man die Skeptiker*innen doch noch dazu kriegt, immer weiter und immer mehr zu konsumieren.

Am Beispiel der „Nespresso“-Kaffeekapseln macht Hartmann das anschaulich klar. Natürlich „wäre es eigentlich ökologisch und sozial gerecht gewesen, wenn“ so etwas „gar nicht erst auf den Markt gekommen wäre ... Aber solche Fragen stellen sich in der nachhaltig zertifizierten, fortgeschrittenen Konsumgesellschaft nicht. Im Gegenteil: Es geht eben darum, genau solche Widersprüche zu überwinden. Und so kommt es, dass ein überflüssiges, überteuertes Kaffeesystem, das eine Menge Müll produziert, Ressourcen verschwendet und Kleinbauern ausbeutet, nicht nur als ökologisch unbedenklich gelten kann. Sondern sogar als Wohltat für Mensch, Natur und Klima.“ (S. 14) Und weiter: „Wenn man ein bisschen ... auf den Homepages von Konzernen und NGOs oder in den ungezählten Portalen für ‚nachhaltigen Konsum‘ (stöbert,) stellt man schnell fest: Alles, was einmal als schädlich und schändlich galt, dient heute der Weltrettung. Thunfischsteaks, dicke Autos, die Formel 1, Aktienfonds, Flugreisen, Pelzmäntel, Gemüse aus Südspanien, Pflanzensprit, Palmöl, genetisch verändertes Soja, Kohlekraft, Staudämme, Erdöl aus der Arktis – all das gibt es heute auch in ‚nachhaltig‘, ‚grün‘ oder ‚verantwortungsvoll‘.“ (S. 15)

In fünf Kapiteln wird im Folgenden an unterschiedlichen Akteuren verdeutlicht, wie diese grünen Lügen im Einzelnen funktionieren. Es wird erklärt, „wie BP die größte Ölpest aller Zeiten im Meer versteckte“ (S. 29-57), „warum Kleider aus Ozeanplastik der Modeindustrie bei der Verschwendung helfen“ (S. 59-84), „wie Industrie und NGOs die Waldvernichtung für Palmöl zum Umweltschutz erklären“ (S. 85-124), „wie die Politik Unternehmen beschützt und Menschenrechte verletzt“ (S. 125-156) und „wie die Agrarindustrie den Indigenen in Brasilien Land und Leben raubt“ (S. 157-191). In einem abschließenden Kapitel geht es darum, „warum ein gutes Leben für alle keine grüne Lüge ist“ (S. 193-217). Hier werden Beispiele von Bewegungen vorgestellt, die sich gegen diese Entwicklungen wehren.

Schon im ersten Kapitel hatte Hartmann nämlich argumentiert: „Auf verstörende Art und Weise haben sich Großkonzerne der Bilder und Begriffe der Umweltbewegung ermächtigt ... Es ist ihnen sogar gelungen, NGOs vor ihren Karren zu spannen und Politiker im Namen der Nachhaltigkeit zu Verwaltern von Konzerninteressen zu machen. Der Bürger indes scheint sich mit seiner ökonomischen Rolle als Verbraucher abgefunden zu haben, hat politisches Engagement durch ‚ethischen Konsum‘ ersetzt und verbraucht munter weiter.“ (S. 21) Nachdem sie auf den imperialen Lebensstil im globalen Norden hingewiesen hat, fährt sie fort: „Um die Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse zu ändern, bräuchte es aber einen kollektiven Aufstand gegen das System, auf den wiederum eine radikale Änderung der Lebensweise des Westens folgen müsste.“ (S.24)

Aktivistinnen und Aktivisten können sich in dieser offen dargestellten Empörung und Wut der Autorin sehr gut wiedererkennen. In der Sache ist das allerdings alles nicht neu oder unbekannt. Schon vor mehr als 20 Jahren hatten wir den „Fairen Handel“ (ila 199, Oktober 1996) als eine Art modernen Ablasshandel qualifiziert: Man kauft sich für ein paar Cent ein gutes Gewissen und macht ansonsten mit demselben Scheiß weiter wie bisher. Und die Auseinandersetzung um die Gründung des „Round Table on Responsible Soy – Runder Tisch für verantwortungsvolle Soja“ war in der gentechnikkritischen Bewegung von einer jahrelangen Diskussion um die Verantwortungslosigkeit der Initiatoren begleitet worden. Die miese Rolle des WWF bei diesem und vielen anderen direkt den Konzerninteressen dienenden Runden Tischen arbeitet Hartmann allerdings sehr schön heraus. Überhaupt darf als sicher gelten, dass das in der aktiven Bewegung recht weit verbreitete Wissen um die Zusammenhänge in der Bevölkerung insgesamt so gut wie gar nicht vorhanden sein dürfte. Insofern sind Hartmanns Buch und Bootes Film selbstverständlich eindringlich zu empfehlen. Sie können sehr viel zur Aufklärung beitragen und auch Aktivist*innen nützlich sein, weil sie eine Menge an Fakten übersichtlich bündeln und leicht zugänglich machen.