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Zwischen politischem Aufbruch und Angst

Interview mit Professor Manfred Liebel über die derzeitige Lage in Nicaragua

Seit Mitte April spitzen sich die Auseinandersetzungen in Nicaragua zu, täglich sind neue Todesopfer zu beklagen. Präsident Ortega und Vizepräsidentin Murillo setzen auf Repression und darauf, dass der Protestbewegung die Luft ausgeht. Diese wiederum setzt alles daran, das Präsidentenpaar zum Rücktritt zu zwingen und den Weg für einen politischen Neuanfang frei zu machen. Wer sind die Akteure im aktuellen Konflikt in Nicaragua, was treibt sie an und wofür stehen sie? Darüber sprach Gert Eisenbürger mit Prof. em. Manfred Liebel. Der Soziologe, der während seines Studiums in den 60er-Jahren Bundesvorsitzender des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ (SDS) war, hat zwischen 1989 und 1996 in Nicaragua gelebt und ist gerade von einer mehrwöchigen Reise aus dem mittelamerikanischen Land zurückgekehrt.

Gert Eisenbürger

Du kommst gerade aus Nicaragua. Wie hast du die Lage dort erlebt?

Ich hatte den Eindruck, dass da etwas Historisches passiert. Ich habe einiges mitbekommen und vor allem mit vielen Leuten gesprochen, sowohl solchen, die ich schon aus den 80er- und 90er-Jahren kannte, als auch mit ganz jungen Leuten. Viele meiner älteren Gesprächspartner*innen waren früher eng mit dem Sandinismus verbunden, sehen inzwischen die Regierung Ortega/Murillo aber sehr kritisch, einige wenige halten ihr weiterhin die Treue. Bei fast allen gab es eine große Unzufriedenheit, vor allem über die Korruption und die Tatsache, dass alle staatlichen Institutionen völlig der Regierungspartei FSLN untergeordnet werden. Doch der entscheidende Punkt war die Repression gegen die ersten friedlichen Proteste, die viele Leute empört und sie in kurzer Zeit dazu gebracht hat, sich der Protestbewegung anzuschließen. Insgesamt war mein Eindruck, dass bei den meisten Leuten, mit denen ich reden konnte, das Ganze nicht als antisandinistisch verstanden wurde, sondern als Protest gegen das Regime Ortega/Murillo und deren Günstlinge. Viele sprechen heute vom Orteguismo oder Danielismo, den sie fundamental kritisieren und dem gegenüber sie grundlegende Änderungen einfordern.

Wer genau sind die Leute, die heute auf die Straße gehen? Und haben die über die Parole „Ortega muss weg“ hinaus gemeinsame politische Ziele?

In dem Prozess haben die Studierenden und später auch die Campesinos aus der Antikanalbewegung eine vorantreibende Rolle gespielt. Bei den Studierenden war das eine ganz spontane Sache. Es gab vorher schon Unzufriedenheit mit der Regierung und auch in jüngerer Zeit einige Dinge, die für Empörung an den Unis gesorgt haben, etwa eine Initiative der Vizepräsidentin und Präsidentengattin Rosario Murillo zur „Regulierung“ oder, wie es hieß, „Reform“ des Internet oder die späte Reaktion der Regierung auf den Großbrand im Biosphärenreservat Indio Maíz Anfang April. Aber letztlich war die Explosion spontan und es gab zunächst keine klaren Vorstellungen, was man konkret erreichen wollte. Das ist auch nach wie vor ein Problem. In der Protestbewegung haben sich inzwischen sehr verschiedene Gruppen vereint, die ganz unterschiedliche Interessen und Vorstellungen haben. Als gemeinsame Ziele werden Demokratisierung und Gerechtigkeit genannt. Aber schon beim Thema Gerechtigkeit stellt sich die Frage, was damit gemeint ist. Wird es nur verstanden als Bestrafung der Schuldigen für die Toten und Verletzten, was ich wichtig finde, also im Sinne einer vergeltenden Justiz, oder wird das auch verstanden im Sinne sozialer Gerechtigkeit, das heißt, auch eines Umbaus der Gesellschaft, der nicht einfach dazu führt, dass sich der Neoliberalismus in anderer Form wieder behauptet.

Das Problem der Heterogenität der Bewegung wird noch dadurch zugespitzt, dass die Akteur*innen, und hier vorwiegend die Studierenden, derzeit so bedroht sind – auch in ihrem Leben – dass sie praktisch gezwungen sind, sich klandestin zu verhalten, also sich zu verstecken. Dadurch wird natürlich die Kommunikation mit den anderen, was bisher die Stärke der Protestbewegung war, immer neue Ansätze zu diskutieren und die eigenen Ziele zu konkretisieren, erheblich erschwert. Das führt dazu, dass immer mehr Leute von außen kommen, zum Teil auch aus dem Ausland, und versuchen die Leute zu beeinflussen und ihnen zu erklären, was sie eigentlich wollen sollten.

Bei dem ersten Nationalen Dialog sind die studentischen Vertreter*innen sehr entschieden aufgetreten und haben auch ein klares Bild von den Gründen ihrer Proteste vermittelt. Eine solche öffentliche Präsenz ist derzeit wegen des Drucks und der erzwungenen Klandestinität kaum noch möglich; es können also keine Personen mehr sichtbar werden, die für die weitere Entwicklung Verantwortung übernehmen können oder eine Perspektive repräsentieren. Die konkreten Aktionen wie Blockaden, Straßensperren oder Streiks sind wichtig, verbrauchen sich aber mit der Zeit, weil sie nur Dinge verhindern, aber keine Alternative vorbereiten.

Nach der ersten Repressionswelle Ende April gab es zwei große Protestdemonstrationen. Eine wurde vom Unternehmerverband COSEP, die andere von der katholischen Kirche organisiert, also von zwei Institutionen, die in den 80er-Jahren eng mit dem Terror der bewaffneten Konterrevolution, der Contra, verbunden waren. Wie konnten diese beiden Institutionen relativ schnell an die neue Bewegung andocken und, offensichtlich nicht ohne Erfolg, eine Führungsrolle beanspruchen? Kirche und COSEP spielen ja jetzt eine bedeutende Rolle im Nationalen Dialog.

Die katholische Kirche und der Unternehmerverband, also die alte Oligarchie, hatten sich in den letzten elf Jahren mit der Ortega-Regierung bestens arrangiert, diese unterstützt und von ihr profitiert. Die Kirche zum Beispiel mit Blick auf die repressive Änderung des Abtreibungsgesetzes und die alte Oligarchie, indem sie die Macht und die Geschäfte mit der FSLN und der neuen sandinistischen oder danielistischen Bourgeoisie geteilt haben. Sie waren Teil dieses Systems und haben offensichtlich jetzt, als die Proteste losgingen, gemerkt, dass das nicht mehr funktioniert. Dabei hat sicher auch eine große Rolle gespielt, dass bisher ein Teil der Profite der Unternehmer daraus resultierte, dass es einen erheblichen Geldzufluss aus Venezuela gab. Dieses Geld fließt seit der Zuspitzung der ökonomischen Krise in Venezuela nicht mehr. Das war ja auch einer der Gründe, warum die Regierung die Beiträge für das Sozialversicherungsinstitut INSS, das die Renten verwaltet, erhöhen wollte (was im April der Auslöser für die Proteste war).

Dass sich katholische Kirche und COSEP jetzt so massiv in den politischen Prozess eingeschaltet haben, bedeutet meines Erachtens nicht zwangsläufig, dass das Ganze in eine reaktionär-klerikale und neoliberale Richtung geht. Das wird davon abhängen, ob die Studierenden und die Campesinos aus der Antikanalbewegung ihr Gewicht in der Bewegung aufrechterhalten können. Das ist keineswegs ausgeschlossen, denn die Kirche und der COSEP sind auf der Straße nicht aktiv präsent und sie waren, anders als die Studierenden und die Campesinos, Alliierte der Ortega-Regierung. Dass die Studierenden und die Campesinos versuchen, starke Bündnispartner zu finden, um sich angesichts der Repression zu behaupten, ist verständlich. Das bot der Kirche und dem COSEP die Gelegenheit, das sinkende Schiff Ortegas zu verlassen, wobei die katholische Kirche schon seit zwei, drei Jahren etwas auf Distanz zur Regierung gegangen ist.

Im Vergleich zur grassierenden Gewalt in El Salvador, Guatemala, Honduras und zunehmend auch in Costa Rica galt Nicaragua trotz des zunehmenden Autoritarismus und der Korruption der Ortega-Regierung bis jetzt als relativ friedlich und sicher, sodass sogar internationale Unternehmen ihre zentralamerikanischen Niederlassungen aus Guatemala oder San Salvador nach Managua verlegt haben. Die Kriminalität war vergleichsweise gering, die Polizei agierte weitaus effektiver und professioneller als in den Nachbarländern. Die Wirtschaft wuchs kontinuierlich und die mafiösen Maras oder Pandillas, die andernorts in Zentralamerika die Menschen terrorisieren, konnten sich in Nicaragua nicht ausbreiten. Warum ist diese vermeintliche Stabilität binnen weniger Wochen zusammengebrochen?

Diese scheinbare Stabilität der letzten elf Jahre basierte auf dem korporativen Charakter des Regimes. Die Regierung Ortega hat einerseits die Unternehmer kooptiert, indem sie ihnen die Möglichkeit gab, immer weiter Profite zu machen. Andererseits hat sie beträchtliche Teile der Bevölkerung durch die Sozialprogramme eingebunden und dadurch, dass die Schulen und die Gesundheitsversorgung für viele Nicaraguaner*innen gratis sind, was allerdings nicht für die Medikamente gilt. Das System Ortega basierte also darauf, dass unterschiedliche Gruppen und Interessen bedient wurden, solange sie die Regierung nicht kritisierten. Wenn man aufmuckte, wurde man von Zuwendungen ausgeschlossen und konnte schnell den Job verlieren. Bis Mitte April war man aber nicht physisch bedroht wie etwa in Guatemala oder Honduras. Das alles führte dazu, dass viele Leute sich wohl verhalten haben.

Zur Anmerkung bezüglich der Polizei möchte ich auf eine Entwicklung hinweisen, die bisher wenig reflektiert wurde. Die nicaraguanische Polizei hat zwar eine gewisse Professionalität entwickelt, die vor allem erreicht wurde, bevor Daniel Ortega wieder an die Macht kam. Nachdem er erneut Präsident wurde, hat er sich die Polizei untergeordnet. Dort sind dann mafiöse Strukturen entstanden. Dazu gehörte auch die Neudefinition von bestimmten Programmen zu Jugendbanden, die eigentlich ziemlich gut waren. Anders als in den Nachbarländern hat man in Nicaragua auf die Pandillas nicht nur mit harter Hand reagiert, sondern ihnen auch Angebote zur Integration gemacht. Aber in der Ortega-Ära wurde gezielt versucht, diese subproletarischen Jugendlichen in repressive Strukturen einzubinden und sich zunutze zu machen. Und genau von diesen Gruppen gingen in den letzten Wochen viele Gewaltaktionen gegen die Protestbewegung aus.

Der scheinbar abrupte Ausbruch der Proteste in den letzten Wochen hängt meines Erachtens damit zusammen, dass sich in den letzten Jahren viel Frust und Unzufriedenheit aufgestaut hat. Es gab zwar immer wieder Proteste, die aber, weil sie sehr punktuell waren, immer schnell erstickt werden konnten, indem man die Leute bedroht und eingeschüchtert hat, ohne sie gleich umzubringen. Diesmal kam es nach der versuchten Erhöhung der Rentenbeiträge bei gleichzeitiger Senkung der Renten am 18. April zu der ersten, noch vergleichsweise kleinen, Demonstration. Wie üblich hat man versucht, sie repressiv aufzulösen, nur gab es dabei diesmal, wahrscheinlich unvorhergesehenerweise, Tote. Das hat die Studierenden massiv provoziert und dazu geführt, dass sich innerhalb weniger Tage aus kleinen Protestaktionen ein breiter Massenprotest entwickelt hat. Damit hat auch die Antikanalbewegung der Campesinos, die sich in den letzten Jahren immer mehr ausgedehnt hatte (vgl. ila 415), aber bisher noch keinen Zugang nach Managua gefunden hatte, Alliierte in der Stadt gefunden und beteiligte sich an den Protesten. So wurde die Bewegung in kurzer Zeit zu einem Machtfaktor.

Von vielen lateinamerikanischen und europäischen Regierungen werden Neuwahlen als Ausweg aus der Krise gefordert. Wenn ich mir das dort wahrscheinlich antretende Spektrum vorstelle, sehe ich die alten verknöcherten Liberalen und Konservativen, die rechtskonservativen Christdemokraten von der PRC sowie die verbliebenen Anhänger*innen des Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán und von Daniel Ortega, also niemanden, der für einen politischen Neuanfang oder gar ein soziales Nicaragua stünde.

Es ist natürlich durchaus zu befürchten, dass es bei Neuwahlen so ausgehen würde wie bei der sogenannten friedlichen Revolution nach dem Fall der Mauer in der DDR, dass dann plötzlich die Parteien da sind und mit irgendwelchen Versprechungen und ausländischer Unterstützung die Leute ködern. Aber ich habe die Hoffnung, dass sich die Erfahrungen, die jetzt in der Rebellion gemacht werden, und die Strukturen, die sich da herausbilden, von der Kultur der traditionellen Parteien unterscheiden, dass sich da neue Kräfte formieren und dann auch Zustimmung finden, wie die Indignados in Spanien, die dann zu Podemos geworden sind, sicher auch mit den Problemen und Widersprüchen von Parteien. Dass sich in Nicaragua so etwas herausbildet, halte ich für möglich, aber dafür wäre es erforderlich, dass Ortega und Murillo sehr bald abtreten und es in Kürze Neuwahlen gäbe. Diese Neuwahlen müssten von einer Übergangsregierung und einem völlig neu zusammengesetzten Wahlrat organisiert werden.

Das Erschütterndste für alle, die sich einmal für die sandinistische Revolution engagiert haben, ist die brutale Repression der letzten Wochen. Es gab unter den ehemaligen und verbliebenen Mitgliedern der Nicaraguasolidarität zwar kaum noch jemanden, die/der Sympathien für Ortega/Murillo und ihren Clan hatten, aber dass sie auf Demonstrant*innen schießen lassen würden, hatten wir nicht erwartet. Du hast schon einiges zu den Hintergründen der Eskalation gesagt, aber könntest du noch etwas ausführen, warum die Regierung deiner Meinung nach so extrem brutal reagiert?

Ich würde sagen, die haben die Nerven verloren. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass sich das so schnell ausweitet und hatten dann das Gefühl, die Kontrolle über die Straße zu verlieren. Das hat zu dieser Überreaktion geführt. Es könnte sein, dass das zunächst gar nicht geplant war von ganz oben, sondern dass sich das ein Stück weit verselbstständigt hat. Die Polizei wurde, wie ich eben schon sagte, unter Ortega sehr stark zu einem Repressionsorgan entwickelt, das hat sich konkretisiert in der Organisation der Antimotines (Antiaufstandspolizei) und der paramilitärischen Gruppen von Jugendlichen aus den Armenvierteln. Die haben sich offensichtlich in dieser Situation verselbstständigt und als es dann die ersten Toten gab, hat sich die Empörung multipliziert und das Ganze hat sich gegenseitig aufgeschaukelt. Es war meiner Meinung nach nicht von Anfang an eine gezielte Sache. Sonst hätte Vizepräsidentin Rosario Murillo auch nicht von einer biblischen Plage gesprochen. Es ist schon irre, wie sie diese Opposition bezeichnet. Sie tut so, als sei ein Menschheitsunglück über Nicaragua hereingebrochen.

Ich glaube, Ortega, Murillo und die führenden FSLN-Kader fühlten sich überwältigt und haben Angst. Die Angst ist ein wichtiger Punkt. Der bin ich immer wieder begegnet, auch in Gesprächen mit Leuten, die ich schon seit langem kenne und die versuchen, der Frente treu zu bleiben. Die sehen in den Protesten eine konterrevolutionäre Bewegung, die aus den USA gesteuert wird und sie auslöschen wollen. Was die im Moment vor allem bewegt, ist Angst, sogar Angst um ihr Leben. Das gilt meines Erachtens auch für Ortega und Murillo und ist einer der Gründe ihrer Weigerung nachzugeben und zu gehen. Darüber hinaus haben viele Leute aus dem Regierungsapparat Angst, ihre Privilegien, ihren sozialen Status oder schlicht ihre Arbeit zu verlieren. Man muss ja sehen, dass der Staatsapparat in den letzten elf Jahren unglaublich aufgebläht wurde, da sind sehr viele Leute beschäftigt worden, die relativ gut bezahlt werden. Die wollen diese Jobs natürlich nicht verlieren.

Das sind vermutlich auch die Leute, die derzeit für Ortega auf die Straße gehen.

Genau. Aber das sind sehr viel weniger als früher. Da werden Fotomontagen gemacht und veröffentlicht, um den Eindruck zu erwecken, das seien weiterhin die großen Massen. Ich wohnte jetzt ganz in der Nähe der Plaza Inter, wo sich die Anhänger*innen Ortegas mehrfach getroffen haben. Ich habe zwei Kundgebungen der sogenannten sandinistischen Jugend miterlebt. Es war traurig zu sehen, wie die da herumstanden. Da wurden ein paar revolutionäre Lieder über Lautsprecher abgespielt und irgendjemand hat eine blecherne Rede gehalten. Aber die Leute standen nur rum, da war nichts von Begeisterung oder Kampfeswillen zu spüren.

Ich habe dieser Tage einen Brief aus der Stadt Granada gelesen, in dem stand, dass dort, anders als in Managua oder León, nicht Studierende und Campesinos auf der Straße seien, sondern dass es nahezu jeden Abend Straßenschlachten zwischen mehr oder weniger bewaffneten Jugendlichen aus den Armenvierteln gebe: solchen, die für die Regierung, und solchen, die gegen die Regierung seien. Über die bewaffneten Gruppen im Umfeld der Polizei haben wir schon gesprochen, wie rekrutieren sich die Schlägertruppen auf der anderen Seite?

Wenn es zu Straßenschlachten kommt, ist es schwer, den Überblick zu behalten, wer da wer ist und wer welche Waffen einsetzt. Aber die in vielen Medien verbreitete Darstellung von den friedlichen Demonstrant*innen hat natürlich auch etwas Propagandistisches. Wenn ein Regime mit solcher Gewalt reagiert und es zu Toten kommt, kann man schlicht nicht erwarten, dass diejenigen, die es betrifft, einfach nur die Fähnchen schwenken und sich massakrieren lassen. Die fangen auch an, sich auf ihre Weise zu bewaffnen. Das ist die alte Frage, was man unter Gewalt verstehen will. Es wäre für mich absurd, Barrikaden als Gewalt zu bezeichnen, aber trotzdem behindern sie die Bewegungsfreiheit. Und wenn man die Barrikaden gegen die angreifende Polizei oder die paramilitärischen Gruppen verteidigen will, benutzt man zum Beispiel Steine oder Zwillen. Dazu kommt, dass in Nicaragua sehr viele Leute Waffen haben. Das ist noch ein Überbleibsel aus den 70er- und 80er-Jahren. Und die Campesinos haben ohnehin fast alle Waffen zuhause.

Die gegenwärtige Protestbewegung ist wie gesagt nicht zentralistisch gesteuert. Da gibt es einerseits die Studierenden, die sich über die nächsten Aktionen und Schritte beraten. Da gibt es aber auch Jugendliche, die ihren Frust und ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen und so agieren, dass sie das Gefühl haben, auch über Macht zu verfügen und nicht ständig klein beigeben zu müssen. Schon in Teilen Managuas und mehr noch in anderen Städten oder auf dem Land sind es nicht die Studierenden, die in den Protesten den Ton angeben, sondern unzufriedene Jugendliche, die es nicht gewohnt sind, groß zu diskutieren. Die greifen zu den Mitteln, die ihnen verfügbar sind und die die anderen beeindrucken. Da ist auch Gewalt. Die Protestbewegung ist sicher nicht oder nicht mehr nur friedlich. Und darin liegt auch die Gefahr, dass sich das weiter aufschaukelt und es wirklich zu einem Bürgerkrieg kommt. So weit ist es noch nicht, aber es ist ein mögliches Szenario.

Ich möchte dennoch darauf hinweisen, dass die Gewalt noch eine unterschiedliche Qualität hat. Die Gewalt, die vom Regime und den paramilitärischen Gruppen ausgeübt wird, hat inzwischen ganz klar das Ziel zu töten. Das hat auch Amnesty International in seinem Bericht festgestellt. Das gilt für die Gewalt, die von Teilen der Protestbewegung ausgeht, nicht.

Gibt es innerhalb der FSLN eine Opposition, die möglicherweise eine konstruktive Rolle spielen könnte, oder ist die Partei völlig auf Linie von Ortega?

Ich sehe es so, dass die Partei zerstört ist, es kein Parteileben mehr gibt. Das ist auch die Einschätzung meiner Gesprächspartner*innen. Die Leute, die die FSLN noch darstellen, sind Funktionäre, Leute, die vom Regime profitieren. Es gibt natürlich die hauptamtlichen politischen Sekretäre, aber es gibt keine politischen Diskussionen und inhaltlichen Auseinandersetzungen mehr in der Partei. Oscar-René Vargas, einst prominenter Sandinist, der noch 2006 maßgeblich den Wahlkampf von Ortega organisiert hat, inzwischen aber einer seiner scharfen Kritiker ist, spricht von vielleicht 1000 Leuten, die noch bei der FSLN seien. Da ist es kaum realistisch, dass es eine Opposition gäbe, die in der Lage wäre, Ortega und Murillo zu stürzen. Sicher ist Rosario Murillo auch bei diesen verbliebenen FSLN-Kadern total unbeliebt, aber das heißt nicht, dass die gegen sie und ihren Mann aktiv würden.

Aber es gibt im Umfeld der Protestbewegung viele Leute, die weiterhin Sympathien für die Revolution und den Sandinismus haben und die lange auch in der FSLN eine positive Kraft gesehen haben. Viele der heute aktiven Studierenden sind Kinder der Revolution. Ihre Eltern waren früher oft aktive Sandinist*innen oder Leute, die in der Revolution ihre Erfahrungen gemacht und sich damit identifiziert haben. Einer der Sprecher der Studierenden, der bei der ersten Runde des Nationalen Dialogs eine beeindruckende Rede gehalten und Ortega Paroli geboten hat, heißt Lesther Lenin Alemán. Eltern, die ihrem Kind den Vornamen Lenin gegeben haben, mussten schon sehr überzeugt von Revolution und Sozialismus gewesen sein. Viele der Studierenden und Campesinos sagen auch, die Partei dürfe Sandino nicht für sich monopolisieren. Deshalb pinseln sie die schwarz-roten Sandino-Denkmäler, die überall rumstehen, in den Nationalfarben blau-weiß an. Die wollen sich den Sandino wieder aneignen.

Die letzte Frage ist sehr schwierig und auch nur spekulativ zu beantworten. Welche Perspektiven siehst du für Nicaragua?

Das ist fast unmöglich zu beantworten. Das Szenario eines Bürgerkriegs habe ich ja eben schon angesprochen. Aber noch bin ich optimistisch, dass sich aus der sehr heterogenen, gleichzeitig aber unheimlich spannenden Bewegung neue Kräfte und Formen der Selbstregierung entwickeln. Die müssen aber transformiert werden in eine Koordination und es müssen sich weithin anerkannte Leute finden, die dann auch sichtbar werden und Führungsaufgaben übernehmen könnten. Es ist schwer abzuschätzen, ob das möglich sein wird, da das Regime ja derzeit darauf abzielt, solche potenziellen Führungskader physisch zu vernichten.

Es gibt aber auch Leute, die breit anerkannt und auch beim Nationalen Dialog als Vertreter*innen der Zivilgesellschaft aufgetreten sind. Eine ganz wichtige Persönlichkeit ist zum Beispiel Carlos Tünnermann, der inzwischen über 80 Jahre alte ehemalige sandinistische Erziehungsminister aus den 80er-Jahren, oder bekannte Frauen wie Francisca Ramírez und Mónica Baltodano. Solche Leute könnten in einer Übergangsregierung sicherlich Aufgaben übernehmen.

Ich danke dir für das Interview und hoffe sehr, dass deine am Schluss geäußerten optimistischen Perspektiven Wirklichkeit werden!

Das Interview führte Gert Eisenbürger am 15. Juni 2018 per Telefon.