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Ist Reggaetón emanzipatorisch?

Im Buch „Remixing Reggaetón“ betont Petra R. Rivera-Rideau das kritische Potenzial der Musik
Frederik Caselitz

Auf den ersten Blick ist es vielleicht naheliegend, Reggaetón leichtfertig abzuwerten: die misogynen Texte, der einfache Aufbau vieler Songs, der exzessive zur Schau gestellte Materialismus. Dem Genre haftet das Image prolliger Musik an. Mit der erfolgreichen Kommerzialisierung der Musik hat sich zum Teil das Auftreten der Künstler*innen verändert. Und bei den großen Hits, die mittlerweile sämtliche Youtube-Klickrekorde sprengen, geht es weniger um die Abwertung der Frau als um den Liebesakt, den Herzschmerz, wenngleich auch dies die bestehenden Geschlechterrollen nicht in Frage stellt. Dafür hat es das Genre mittlerweile in den weltweiten Mainstream geschafft, Nicky Jam, J Balvin, Maluma und Co. füllen nun auch die großen Hallen in Europa. Zum einen führt dieser Hype zu einer Aufwertung des Genres in Radiosendern und auf Tanzflächen, zum anderen wird es verklärt als eine weitere Musikrichtung innerhalb des Latino-Pop. Reggaetón ist jedoch mitnichten einfach ein weiterer kommerzieller Kassenschlager, der die Labelchefs in die Hände klatschen lässt.

Gerade in ihren Anfängen stellte diese Musikrichtung die bisherigen Interpretationen von ethnischen Beziehungen und kultureller Identität in Frage, wie die Soziologin Petra R. Rivera-Rideau in ihrem Buch Remixing Reggaetón aufzeigt. In ihrer Studie stellt die Autorin den sozialen Kontext der Musikrichtung mit Fokus auf Puerto Rico dar. Sie beginnt mit der Beschreibung des in Puerto Rico vorherrschenden Identitätsdiskurses. Anders als die USA wird Puerto Rico als racial democracy definiert, also als eine Gesellschaft, in der ethnische Zuschreibungen keine Rolle mehr spielen. Schwarz zu sein wird laut Rivera-Rideau nur noch als folkloristische Nebensache zugelassen, das für die Vergangenheit steht, beziehungsweise als urbanes Phänomen, das mit Kriminalität und Hypersexualität in Verbindung gebracht wird, was wiederum im Widerspruch zur modernen puertoricanischen Identität steht. Da Reggaetón aber auch die Armut und Marginalisierung bestimmter urbaner Bevölkerungsgruppen thematisiert, steht er in Opposition zu den herrschenden class-race-relations (Machtbeziehungen entlang von Klasse und rassistischen Unterscheidungen). Die zentrale These von Remixing Reggaetón lautet daher, dass das Genre die bisherige Identitätskonstruktion Puerto Ricos in Frage stellt und gerade marginalisierten Gruppen neue Räume eröffnet.

Besonders detailreich zeichnet Rivera-Rideau die Ursprünge der Musik und die anfängliche Repression gegen Reggaetón nach. Ihr zufolge sind die Ursprünge nicht einem einzelnen Land oder Kulturraum zuzuordnen, vielmehr in der Diaspora: in Communities, die aufgrund von Migration im Austausch miteinander stehen und verschiedene musikalische Elemente über die Ländergrenzen hinweg in Beziehung setzen, dabei vor allem die kulturellen Praktiken der marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Reggaetón ist letztlich undenkbar ohne den Einfluss des US-amerikanischen Hiphops, des panamaischen Reggaes und des jamaikanischen Dancehalls, wenngleich der genaue Ursprung der Musik, wie auch des typischen Dembow-Beats, nicht klar zu verorten ist. In Puerto Rico geriet Reggaetón daher schnell in den Verdacht, eine unauthentische, importierte Musik zu sein, die die Jugend der Insel verdirbt. Dies ist schon bei den Vorläufern des Reggaetóns zu beobachten, dem puertoricanischen Hiphop der 90er-Jahre, den die Autorin als Underground definiert und der dem späteren Reggaetón in vielen Beziehungen bereits ähnelt. Seit ihrem Aufkommen war diese Musik den Angriffen der puertoricanischen Regierung ausgesetzt. Eine Reihe von polizeilichen Maßnahmen, die als Politik der „Harten Hand gegen die Kriminalität (Mano Duro Contra El Crimen) bekannt wurden, griffen zunächst die Wohnkomplexe der armen, marginalisierten Bevölkerung an. Die caserío genannten Siedlungen wurden zum Ziel polizeilicher Durchsuchungen und die dort lebende Bevölkerung, zum großen Teil Afro-Puertoricaner*innen, wurde als „unpuertoricanisch“ definiert und mit Gewalt, Kriminalität und Hypersexualität in Verbindung gebracht. Die begleitende Berichterstattung interessierte sich nicht für die sozio-ökonomischen Ursachen der Armut und Kriminalität, sondern fokussierte sensationslüsterne Berichte über einzelne Kriminelle, in erster Linie junge schwarze Männer. Auch wenn in dem politischen Programm von reempowerment die Rede war, stellt Zaire Denzes Flores fest: „Da gab es kein empowerment, geschweige denn reempowerment.“1 Häufig konnten bekannte Drogendealer ihren Geschäften weiter nachgehen, während die Bewohner*innen der caseríos willkürlichen Kontrollen unterworfen waren. Die Polizeigewalt wurde auch in den Texten des Underground-Hiphop aufgeworfen, von Künstler*innen wie Vico C, Ivy Queen oder auch Eddie D. Letzterer rappt in seinem Song Señor Oficial über die willkürlichen Kontrollen der Polizei, während er eigentlich nur seinem Alltag im caserío nachgehen will. Auch die Themen Gewalt und Drogen in den caseríos werden von den Rapper*innen aufgegriffen und kritisiert; insofern finden sich durchaus sozialkritische Elemente in den Texten, die somit den Problemen der marginalisierten Bevölkerung größere Aufmerksamkeit widmen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Plattenläden und Konzerte wurden von den Behörden mit Razzien überzogen und die Musik als Teil des Drogenhandels dargestellt. Ironischerweise brachten ausgerechnet diese Razzien den Rapper*innen erhöhte Bekanntheit, die in der Folge zur Entwicklung des Reggaetón als populäre Musikrichtung beitrug. Der genaue Zeitpunkt des Übergangs von Underground-Hiphop zu Reggaetón ist schwierig zu definieren, aber etwa Ende der 90er-Jahre veränderte sich das Genre. Die Musik bediente sich der Rhythmen aus Dancehall und die Mischung aus Hiphop und karibischen Instrumentals gaben der Stilrichtung einen hohen Wiedererkennungswert.

Mit dem Aufkommen der Musik, die nun unter der Bezeichnung Reggaetón populär wurde, reagierte auch die puertoricanische Politik. Vor allem die „pornographischen Videos“ und die „vulgäre Musik“ gerieten ins Ziel der Senatorin Velda González. Im Jahr 2002 trieb sie maßgeblich die Verabschiedung von Gesetzen voran, die die besondere Kennzeichnung für Reggaetón-Videos im Fernsehen festlegte. Vor allem der Tanzstil perreo geriet ins Visier als übersexualisierter Tanz. Kritiker*innen des Gesetzes weisen jedoch darauf hin, dass die meisten zu dem Zeitpunkt akzeptierten Tanzstile der Insel sexuelle Anspielungen enthalten. Der Angriff auf Reggaetón sei daher einer Doppelmoral geschuldet, die sich in erster Linie gegen die unteren Schichten richtet. Auch die Reggaetón-Ikone Ivy Queen wies schon 2002 darauf hin: „Ich bin dafür zuständig, die Männer daran zu erinnern, dass sie von einer Frau geboren wurden. Und die gleichen Leute, die Rap-Videos kritisieren, sollten auch mal etwas über andere Genres sagen.“

Zwei eigene Kapitel des Buches behandeln Tego Calderón und Ivy Queen. Darin stellt die Autorin dar, wie deren Performance herrschende Identitätskonstruktionen in Frage stellen.2

Mit dem Label „hurban“ (für hispanic urban) eroberte Reggaetón den US-amerikanischen Markt. Laut Rivera-Ridau wird unter diesem Label die Musik von der lateinamerikanischen Zuschreibung ab- und näher an die sogenannte urban music herangerückt, die mit Stereotypen gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA belastet ist. Diese Zuschreibung wird jedoch von den Künstler*innen selbst infrage gestellt. Die Beispiele der Künstler Notch, N.O.R.E. und Daddy Yankee zeigen die oftmals unklaren Abgrenzungen zwischen Latino- und schwarzer identitärer Zuschreibung. Bei allen drei ist die Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen jeweils dynamisch, hybrid und hängt auch von der jeweiligen Hörerschaft ab. Während Daddy Yankee eher als „Latino-Vertreter“ gilt, wird N.O.R.E., trotz einiger Reggaetón-Hits, eher als Vertreter der US-amerikanischen schwarzen Community wahrgenommen. Notch hingegen vermischt die musikalischen Einflüsse derart, dass seine Einordnung nicht eindeutig gelingt.

Besonders gut gelingt es Rivera-Rideau, die Entstehung von Reggaetón in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Auffällig ist auch, dass sie auf simpel gestrickte Kritik am Genre nicht hereinfällt. Sie bewertet es positiv und legt überzeugend dar, dass Reggaetón letztlich den Fokus auf die marginalisierten Bevölkerungsgruppen und ihre Lebensrealitäten lenkte. Die große Schwachstelle des Buches hingegen liegt darin, dass ein so komplexer und dezentraler Prozess wie Identitätsbildung wissenschaftlich schwer zu untersuchen ist. Ein Großteil der Schlussfolgerungen des Buches sind Interpretationen von Rivera-Rideau, die zum einen oftmals sehr wohlwollend gegenüber den Künstler*innen ausfallen, zum anderen nicht immer überzeugen. So erhalten einzelne Nebensätze in Interviews mit Künstler*innen eine Bedeutung, die Rivera-Rideau nutzt, um deren gesamtes Werk in eine bestimmte Richtung zu interpretieren. Demgegenüber fehlt eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Gesamtwerk der behandelten Künstler*innen, so dass die problematischen Aspekte wie Hypermaskulinität, Sexismus und die Idealisierung von Luxusgütern als gesellschaftliches Statussymbol fast gar nicht aufgegriffen werden. Dies geschieht in Remixing Reggaeton vor allem dann, wenn die Kritiker*innen des Genres wiederum kritisch dargestellt werden. Die Kritik von Calle 13 am Habitus der Kollegen ist beispielsweise ein Beleg dafür, dass diese Auseinandersetzung durchaus innerhalb des Genres stattfindet und dass soziale Probleme wie Armut und Drogenhandel auch anders thematisiert werden können, als immer nur den eigenen Erfolg zu idealisieren. Auch wenn viele Gegner*innen des Reggaetón rassistische Stereotype bemühen, sollte dies nicht dazu führen, dem Genre insgesamt einen Freifahrtschein auszustellen und es romantisierend zu verklären. So stellt Remixing Reggaetón viele Zusammenhänge zwischen Identitätsbildung und künstlerischer Perfomance her, die Interpretationen Rivera-Rideaus bleiben jedoch an einigen Stellen nur vage belegt und sind dadurch nicht immer überzeugend.

Insgesamt liefert Remixing Reggaetón allerdings eine tiefgreifende Darstellung des Genres von seiner Entstehung bis ungefähr 2010 und stellt dessen Entwicklung in einen größeren Zusammenhang von Migration, ethnischer und kultureller Identität, Repression und Ausgrenzung in Puerto Rico und den USA und ergründet den Einfluss der Kommerzialisierung. Dabei wird deutlich, dass die Musikrichtung trotz all ihrer Widersprüchlichkeiten herrschende Ordnungen in Frage stellen und dabei neue Räume für marginalisierte Gruppen eröffnen kann. Rivera-Rideau schließt ihr Buch dementsprechend: „Reggaetón besteht also nach wie vor auf der Schaffung einer inklusiveren und gerechteren puertoricanischen Gesellschaft“.

  • 1. im Original englische Textstellen von der ila-Redaktion übersetzt
  • 2. Diese Kapitel sollen hier vernachlässigt werden, da beide Künstler*innen in eigenen Artikeln behandelt werden.