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Lernprozesse

Ehemalige soziale AktivistInnen aus Quito sind mittlerweile politische FunktionsträgerInnen

Quito verzeichnet wie alle lateinamerikanischen Großstädte vielfältige Initiativen von Basisorganisationen, Kooperativen und Nichtregierungsorganisationen, die seit vielen Jahren als Antwort auf die krisenhaften Veränderungen der Gesellschaft und die unzureichende Daseinsfür- und -vorsorge lokaler wie nationaler Regierungen, zur Selbsthilfe greifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern und ihre Lebensbedingungen zu verbessern – im Bereich der Wohnraumversorgung, der Schaffung von Arbeitsplätzen, des kulturellen Lebens und der Freizeitgestaltung. Viele von den sozialen Organisationen Quitos waren 2008 aktiv am Prozess der Verfassunggebenden Versammlung von Montecristi beteiligt – meist als Teil des Regierungsbündnisses Alianza País und haben das Referendum für die Verabschiedung der Verfassung unterstützt. Heute sind etliche führende VertreterInnen dieser Bewegungen Abgeordnete in der Nationalversammlung oder im Stadtrat Quitos, oder haben Regierungsämter übernommen. Welche Erfahrungen haben sie in ihrer neuen Rolle als Funktionsträger im öffentlichen Dienst gemacht? In welcher Weise wird ihre Amtsführung von ihrer politischen Sozialisation als soziale AktivistInnen geprägt?

Barbara Scholz

María Hernández wurde im August 2009 von Bürgermeister Augusto Barrera zur Geschäftsführerin der Verwaltungszone Quitumbe im Süden der Hauptstadt ernannt, einem Gebiet mit derzeit ca. 291 000 Einwohnern, das hohe Zuwachsraten verzeichnet und bis 2020 seine Bevölkerungszahl vermutlich verdoppelt haben wird. 58 Prozent der BewohnerInnen leben in Armut, ein erheblicher Anteil sind MigrantInnen aus ländlichen Regionen. Die Grundlagen für das politische Engagement von María Hernández finden sich den 90er Jahren, in denen sie aktiv an der Besetzung des Hügels Itchimbía am östlichen Altstadtrand durch eine Wohnungsbauselbsthilfegruppe teilnahm und von 1996 bis 2006 Vorsitzende des Bewohnerkomitees war. 2004 wurde sie in den Stadtrat von Quito gewählt und war seitdem auch Vorsitzende des Netzwerks von Frauengruppen Mujeres por la Vida sowie Sprecherin des Urbanen Forums, einer Koordinationsplattform von sozialen Basisgruppen und NRO.

Das Selbsthilfeprojekt auf dem Itchimbía bestand acht Jahre illegal, von 1995 bis 2003, bis zur Überführung in eine legale Wohnbausiedlung in unmittelbarer Nachbarschaft. Angeführt wurde die Landbesetzung von der Kooperative San Juan Bosco, die 1994 von Mitgliedern der Coordinadora Popular de Quito, einem Netzwerk von 20 Basisorganisationen und kirchlichen Basisgemeinden, gegründet worden war. Den damaligen politischen Kontext der Besetzung, die nicht die einzige, aber möglicherweise die erfolgreichste in Quito war, prägten die Erhebungen der Indígenas 1990 und 1995, die von der Coordinadora aktiv unterstützt wurden, sowie der Kampf gegen die Vorhaben der Regierung, die Staatsbetriebe insbesondere der sogenannten strategischen Sektoren (Energie, Telekommunikation etc.) zu privatisieren.

Im Zuge dieser politischen Mobilisierungen kristallisierte sich bei der Coordinadora die Suche nach einer Verankerung der Bewegung in konkreten Zielsetzungen und Projekten heraus, mit denen beispielhaft Alternativen für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse aufgezeigt werden konnten. Das Thema Wohnen bot sich hier an, angesichts des hohen Wohnraumbedarfs der armen Bevölkerungsschichten und der nahezu vollständigen Abwesenheit öffentlicher Programme. Lediglich zwei Prozent des Staatshaushalts wurden damals für das Wohnungsbauprogramm CAVIP der Banco Ecuatoriano de la Vivienda zur Verfügung gestellt, ohne nennenswerte Auswirkungen auf die tatsächliche Nachfrage.

1994/95 ging aus der Coordinadora die Wohnungsbaukooperative San Juan Bosco hervor, die innerhalb kurzer Zeit 200 Familien aus dem Altstadtviertel La Tola aufnahm, die dort hochgradig beengt und unter prekären hygienischen Bedingungen in Inquilinatos (Mietskasernen) gelebt hatten. Als sie ein Jahr vergeblich nach erschwinglichen Wohnraumangeboten oder Baugrund gesucht hatten – kommunale Programme gab es nicht, ebenso wenig bezahlbare Grundstücke –, entwickelte die Kooperative ein Nutzungskonzept für den Hügel Itchimbía. Das im Eigentum der staatlichen Sozialversicherung, der Kirche und der Kommune befindliche Areal wurde als Müllhalde für Bauschutt und Krankenhausabfälle aus dem nahegelegenen Hospital Eugenio Espejo genutzt. Städtische Planungen aus den 50er Jahren sahen für das Gelände einen Park vor, was die Kooperative, als sie den Vorschlag für einen „Ökologischen WohnPark Itchimbía“ erarbeitete, gar nicht wusste. Trotzdem wurde das Vorhaben von der Stadtregierung ignoriert, sodass die Kooperative 1995 zur Selbsthilfe schritt und 250 Familien, über 1000 Personen, das Gelände besetzten. 

Geschaffen wurden acht Nachbarschaften mit jeweils einer zentralen Gemeinschaftsfläche sowie Kleinstwohnungen von neun Quadratmetern mit Gemüsegärten. In Ermangelung von Energieversorgung sowie Trink- und Abwassernetzen wurden kreative Lösungen entwickelt: Die Wasserversorgung erfolgte von einer riesigen Zisterne aus über Schläuche, zur Heißwasserbereitung wurde Sonnenenergie genutzt, als Toiletten wurden Trockenlatrinen errichtet. Einen Schwerpunkt bildete der Umweltschutz, u.a. wurden 2000 Bäume gepflanzt, urbane Landwirtschaft betrieben, und als wichtigste Maßnahme erfolgte in jahrelanger, sonntäglicher Freiwilligenarbeit die Beseitigung der Müllhalde. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Acción Ecológica wurden Programme der Umweltbildung und Schulung von Multiplikatoren umgesetzt. Verbindendes Element und Voraussetzung für diesen Prozess waren die konstanten Bemühungen um die Konsolidierung der sozialen Organisation, maßgeblich waren hier neben den freiwilligen Arbeitseinsätzen auch die wöchentlichen Schulungen der BewohnerInnen, ebenso die Maßnahmen zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit auf dem Gelände und seinen Zugängen.

Insgesamt erlebte das Projekt drei verschiedene Bürgermeister, Jamil Mahuad, Roque Sevilla und Paco Moncayo, sowie mehrere Räumungsversuche durch die Kommune, die mit gewaltfreiem Widerstand verhindert wurden. So ketteten sich Frauen und Kinder an die Häuser oder Männer gruben sich 48 Stunden bis zur Brust in den Zufahrtswegen ein und blockierten die Bulldozer. Infolge dieser Aktion, die international für Aufsehen sorgte, begann erstmals der Dialog mit der Stadtverwaltung unter dem Bürgermeister Roque Sevilla, der Durchbruch wurde allerdings erst unter Paco Moncayo erreicht. Nach einem langjährigen Verhandlungsprozess wurde 2002 die Errichtung einer Wohnsiedlung am Osthang des Hügels für die 200 verbliebenen Familien vereinbart, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Park. Errichtet wurden Apartment-Häuser mit Wohnungen von 84 m² für 5600 US-Dollar (Ecuador hat keine eigene Währung mehr, Zahlungsmittel ist der US-Dollar – die Red.), im Rohbau übergeben und finanziert durch Kredite und Mittel aus der 1999 geschaffenen öffentlichen Wohnbauförderung. Grundstücks- und Erschließungskosten wurden von der Stadt vorfinanziert und von der Kooperative in drei Jahren abbezahlt.
Die Kredite wurden von der Handelskammer vergeben und es gelang, Sonderkonditionen für die Kooperative zu erkämpfen, die vielen, normalerweise nicht „kreditwürdigen“ Mitgliedern eine Finanzierung ermöglichte. Dazu gehörten die Erlassung von Bürgschaften, die Akzeptierung der Garantie der Kooperative für ihre Mitglieder, eine doppelte Hypothek auf das Grundstück als Sicherheit für die Finanzierung der Erschließungskosten und der Wohnungen.

Zeitgleich übernahm die Kommune die Errichtung des Parks Itchimbía, der heute auf 54 Hektar vielfältige, naturnahe Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten bietet. Er beherbergt u.a. ein stadtweit bekanntes Veranstaltungs- und Ausstellungszentrum, den „Glaspalast“, eine aus der Altstadt umgesiedelte Markthalle in (übrigens deutscher) Stahlbauweise aus dem 19. Jahrhundert. Im Hinblick auf die Replizierbarkeit merkt María Hernández an, dass sie die Landbesetzung als Mobilisierungsmechanismus wegen des Aufwands und der sozialen Kosten nie wiederholt haben. Hingegen war das Projekt der Ausgangspunkt für die Implementierung eines erfolgreichen Modells armutsorientierten Wohnungsbaus, das von anerkannten NRO und sozialverantwortlichen Beratungsinstitutionen weiterhin angewandt wird. 2006 bildete es die Grundlage für die Gründung des Netzwerks Contrato Social para la Vivienda, mit Beteiligung von NRO, der Bauwirtschaft, Basisorganisationen und der Kommune, das als Beratungsinstanz für die Entwicklung von Strategien und Projekten im sozialen Wohnungsbau fungiert.

Die Coordinadora Popular de Quito ging 2006 in das Foro Urbano über, eine Plattform von engagierten Einzelpersonen und Basisgruppen. Innerhalb des Urbanen Forums bestehen verschiedene thematische Netzwerke, von denen der Zusammenschluss von Frauengruppen Mujeres por la Vida der aktivste ist. Das Urbane Forum stellte vier der 130 Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung und unterstützte aktiv die Kampagne zum Referendum über die neue Magna Charta. Die Erfahrungen mit dem Projekt Itchimbía bilden die programmatische Grundlage für die jetzige Amtsführung von María Hernández als Mitglied der Stadtverwaltung. Die soziale Organisation und Partizipation der Betroffenen ist ihrer Ansicht nach unabdingbare Voraussetzung für jedwede Maßnahme der öffentlichen Hand. Entsprechend setzt sie den Schwerpunkt ihrer Amtsführung auf die Unterstützung und Stärkung der Selbstorganisation von Interessengruppen und nennt verschiedene aktuelle Beispiele: so die Umsiedlung des Barrios Stella Maris nahe dem Gelände der staatlichen Erdöldepots oder die Rehabilitierung des Marktes Las Cuadras. In beiden Fällen wurden die Maßnahmen in enger Abstimmung mit den NutzerInnen entwickelt, womit anfänglicher Widerstand überwunden und die Umsetzbarkeit der Maßnahme gesichert werden konnte.

María Hernández empfindet es als dringlich, dies als gegenseitigen Lernprozess zwischen Stadtverwaltung und Basisorganisationen zu begreifen, der es ermöglicht, die verschiedenen Organisationskulturen in Übereinstimmung zu bringen. Effizienzvorstellungen, Verfahrensvorschriften und finanzielle Rahmenbedingungen der öffentlichen Verwaltung stünden der Dynamik partizipativer Abstimmungsprozesse häufig diametral entgegen. Weiterhin müssten die Verwaltungszonen als dezentrale Einheiten der Stadtverwaltung gestärkt werden, sowohl in ihrer Finanzausstattung als auch in ihren hoheitlichen Aufgaben. Derzeit herrscht ein vertikales Verhältnis zur Zentralverwaltung, und sektorale Kompetenzen der Fachverwaltungen behindern eine effiziente, integrale Administration des Territoriums.
Zuzuhören, sich in die Lage der Betroffenen zu versetzen und sich ihre Perspektive zu eigen zu machen, muss nach ihrer Ansicht die Grundlage für das Handeln der Kommune bilden und sie hält es für unabdingbar, Spielräume für konsensorientierte und ergebnisoffene Abstimmungsprozesse zu schaffen und zu verteidigen.

Barbara Scholz, Stadt-und Regionalplanerin, arbeitet als CIM-Fachkraft im Sekretariat für Habitat und Wohnen sowie im Institut für Städtebau des Hauptstadtdistrikts Quito.