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Das gegenwärtige Modell kann Perus Probleme nicht lösen

Interview mit dem Sozialisten Javier Diez Canseco über die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen

Am 10. April 2011 finden in Peru Präsidentschaftswahlen statt. Derzeit liegen mit dem Ex-Präsidenten Alejandro Toledo, Keiko Fujimori, der Tochter des früheren Diktators, und Limas Ex-Bürgermeister Lus Castañeda drei rechte bzw. neoliberale KandidatInnen in den Umfragen vorne. Die Linke, die mit Susana Villarán immerhin seit kurzem die Bürgermeisterin von Lima stellt, hat keine auch nur halbwegs aufschlussreiche Kandidatur am Start, einige linke Gruppen unterstützen den schillernden Nationalisten Ollanta Humala, der derzeit in den Umfragen auf dem vierten Platz liegt und eine kleine Chance hat, die zweite Runde zu erreichen. Über die fünfjährige Regierungszeit des „Sozialdemokraten“ Alan García, die aktuellen KandidatInnen und die Agonie der peruanischen Linken sprachen Gert Eisenbürger und Gaby Küppers Anfang Januar mit Javier Diez Canseco. Der einstige Frontmann der linkssozialistischen PUM und der inzwischen zerfallenen Izquierda Unida (Vereinigte Linke) entstammt einer alten Politikerdynastie. Er ist in Peru nicht nur als Politiker, sondern auch als Menschenrechtler und Analytiker hoch angesehen. Umso mehr überraschte es uns, dass er bei den Wahlen Ollanta Humala unterstützt und auf dessen Wahlliste für den Kongress kandidiert.

Gert Eisenbürger
Gaby Küppers

Demnächst finden in Peru Präsidentschaftswahlen statt. Welche Bilanz ziehst du aus der Regierung Alan García?

Meiner Ansicht nach hat die Regierung Alan García das bis dahin vorherrschende neoliberale Modell fortgeführt und vertieft. Den Rest von sozialdemokratischem Diskurs, den er bis zu seiner Präsidentschaft noch pflegte, hat er abgelegt. Für Alan García ist Modernisierung gleich Fortschritt, wie ein Zug, der von einer Lokomotive gezogen wird, die aus transnationalen Unternehmen und ausländischen Großinvestitionen besteht. Diese brächten das Land voran, während Kleinbesitz, Gemeinschaftsbesitz, wie der von BäuerInnen und Indígenas, ein Hindernis für Fortschritt und Entwicklung seien. Diese Bevölkerungsgruppen hätten nicht die notwendigen Mittel, um ihren Besitz in Wert zu setzen. Mit anderen Worten, sie haben kein Kapital. Deswegen müsse das Kapital von großen Unternehmen kommen, die die Rohstoffvorkommen ausbeuten und damit Entwicklung schaffen.

Diese Politik, die in eine Zeit sehr hoher Preise für Rohstoffe fällt, hat dazu geführt, dass Peru ökonomisch wächst. Das begann unter der Regierung Toledo und setzte sich unter Alan García fort. Heute ist dieses Wachstum besonders auffällig, weil wir weltweit in einer Krise stecken, die 2008 augenfällig wurde und sich 2009 sehr stark niederschlug. In dem Jahr ist unsere Wirtschaft nicht gewachsen, kaum ein Prozent, aber wir schrieben anders als andere Länder keine negativen Zahlen. Dieses Jahr wird das Bruttoinlandsprodukt wieder um achteinhalb oder neun Prozent steigen.

Es handelt sich aber um ein Wachstum ohne Umverteilung des gewonnenen Reichtums – das ist das erste Problem. Große Teile der Bevölkerung bekommen davon nichts ab. Das zweite Problem ist, dass dieses Wachstum wenige Arbeitsplätze schafft, denn es beruht auf Rohstoff ausbeutenden Industrien wie Bergbau und Gasförderung, die mit wenigen Arbeitskräften auskommen. Der gesamte Bergbau Perus, der mehr als 55 Prozent des Exports ausmacht, beschäftigt nicht mehr als 70 000 bis 80 000 Leute. Ein drittes Problem besteht darin, dass der forcierte Abbau von Rohstoffen zu Konflikten mit jenen Sektoren führt, deren nachhaltige Wirtschaftsformen dadurch bedroht werden. Der Landwirtschaft etwa wird das Wasser entzogen oder es fließt verunreinigtes und vergiftetes Wasser über die Äcker. Die Bergbauunternehmen eigneten sich Land der indigenen und bäuerlichen Gemeinden an und vertreiben diejenigen, die es bisher bewirtschaftet haben, in informelle Erwerbsformen und Armut. Viertens handelt es sich um ein Modell, bei dem das Wachstum mit einer enormen Besitzkonzentration einhergeht. In Peru sind die besten Böden, auf denen Bewässerungslandwirtschaft betrieben wird, heute in weniger Händen als vor der Landreform von Velasco Alvarado (1968-1975). Heute kontrolliert eine einzige Familie, die Gloria-Gruppe der Rodríguez Banda, das gesamte Tal von Chicana oder Chicama, besitzt mehr als 60 000 Hektar allein in diesem Landstrich und vergrößert ihren Besitz noch weiter. Beim Bergbau und im Finanzwesen kann man den gleichen Konzentrationsprozess von Besitz und Reichtum beobachten. Damit einher geht ein Prozess des Ausverkaufs von Land und Werten an ausländische Besitzer. Das bedeutet, dass die Akkumulation nicht im Land stattfindet, sondern außerhalb.

Deswegen ist der Wirtschaftsaufschwung fragil, hat geringe Auswirkungen auf den Wohlstand im Land selbst, die Rohstoffe werden nicht in Peru weiterverarbeitet, es findet keine Industrialisierung statt, es werden keine eigenen Technologien entwickelt, auch wenn einige Sektoren gewachsen sind, wie etwa die Exportlandwirtschaft. Aber es werden nicht mehr Lebensmittel für den eigenen Bedarf angebaut, sondern Luxusagrarprodukte (wie etwa Spargel, der per Flugzeug nach Europa kommt und im Winter in den hiesigen Supermärkten verkauft wird – die Red.). Damit gewährleistet man keine Nahrungsmittelsicherheit. Während die Exportlandwirtschaft wächst, sind mehr als ein Drittel der Kinder chronisch unterernährt. Das schafft einen Konflikt zwischen einem Land, das wächst, und den Erwartungen eines bedeutenden Teils der Bevölkerung, bei dem die Früchte dieses Wachstums nicht ankommen, obwohl sie täglich hören, dass das Land vorankommt. Dazu kommen zwei Themen, über die wenig geredet wird, nämlich Schmuggel und Drogenhandel, zwei Sektoren der illegalen Ökonomie, die meines Erachtens viel zum Wirtschaftswachstum und zum Immobilienboom im Land beitragen.

Angesichts dieses ganzen Prozesses steht das Land heute vor zwei grundsätzlichen Optionen. Die eine ist, das Modell fortzuführen. Deren BefürworterInnen kündigen an, dass sie eine Art von Umverteilung vornehmen werden. Aber das haben alle Regierungen bisher auch schon gesagt und nichts getan. Damit tragen sie die Verantwortung für die gegenwärtige Konzentration des Reichtums.

Die VertreterInnen der anderen Option meinen, dass sich das Modell selbst ändern muss. In wirtschaftlicher Hinsicht müsste der Binnenmarkt gestärkt und die Kontrolle über die Bodenschätze zurückgewonnen werden, und zwar nicht nur die Kontrolle über Gewinne, um sie für Bildung, Gesundheit, Unterstützung für landwirtschaftliche und soziale Programme oder Infrastruktur abzuschöpfen, sondern es muss grundsätzlich der politische Gestaltungsspielraum zurückgewonnen werden, damit hier entschieden werden kann, was Bestimmung und Nutzen der vorhandenen Bodenschätze sind. Zur zweitgenannten Option gehört auch eine Steuerreform, um eine Umverteilung des Einkommens durchführbar zu machen. Ausländische Investitionen sollten an Bedingungen geknüpft werden, so dass Gewinne nicht komplett abgezogen werden. Das könnte Technologietransfer sein, Aus- und Weiterbildung einheimischer Arbeitskräfte, Investition in die Industrialisierung und nicht nur in den Abbau von Rohstoffen usw. Ein anderes Modell bedeutet auch eine Veränderung des politischen Systems, die das alles erst ermöglicht, nämlich durch bessere Organisation der Gesellschaft, Sicherung von Gewerkschaftsrechten und Verhinderung des enormen Missbrauchs, der von den Firmen, die Rohstoffe ausbeuten, gemeinsam mit dem Finanzkapital betrieben wird. So hohe Zinsen wie in Peru werden sonst nirgends in der Welt bezahlt. Die Banco Azteca verlangt sage und schreibe 180 Prozent Zinsen im Jahr für einen Kredit zum Kauf eines Fernsehers. Die Handelskette Ripley, chilenisches Kapital, berechnet nur 70 Prozent.
Leider aber liegt die Trennlinie zwischen den politischen Lagern im Land heute nicht dort, wo man das meinen und wünschen könnte. Der Mehrheit der PeruanerInnen ist meines Erachtens nicht klar, dass tiefgreifende Veränderungen notwendig sind. Ein Teil der Bevölkerung hat Angst vor instabilen Verhältnissen, die ein Wandel erst einmal mit sich bringen würde. Sie wären für eine Umverteilung, aber ohne viele Veränderungen.

Wo ist in dieser Situation die Kandidatur der Linken, die die von dir genannte zweite Option hochhält? Die drei führenden KandidatInnen in den Umfragen, der Ex-Bürgermeister von Lima Castaneda, die Fujimori-Tochter Keiko und der 2005/06 kläglich abgetretene Alejandro Toledo, stehen mit Nuancen für das gleiche Modell – Option eins – und liegen in Umfragen nahe beieinander. Dann kommt lange nichts...

Die Gemengelage ist heute eine andere als 2006, als Toledo korruptionsbelastet seine Präsidentschaft beendete. Heute übersteigt das „Weiter so“ den Wunsch nach Veränderung. Das ist eine enorme Herausforderung für die Sektoren, die Veränderung wollen. Sie haben derzeit als politische Kräfte nur Gana Perú, die Allianz des Nationalismus von Ollanta Humala mit Teilen der Linken und regionalen Bewegungen. Das hat enge Grenzen, aber so stellt sich die Situation in Peru heute dar. Jetzt bleibt abzuwarten, ob diese Bewegung stark genug wird, um in die zweite Runde zu kommen und in die nationale Debatte als Wasserscheide die Frage des „Weiter so“ oder Veränderung des weite Teile der Bevölkerung ausschließenden Modells im heutigen Peru einzubringen.

Die Regierung redet eine ganz andere Sprache und wirbt auf ihren Plakaten damit, dass Millionen BürgerInnen erstmals einen Wasseranschluss hätten, dass ganze Dörfer erstmalig frei seien vom Analphabetentum, dass die PeruanerInnen also etwas hätten von der boomenden Wirtschaft. Stimmen die Zahlen oder handelt es sich um Vorspiegelung falscher Tatsachen?

Nein, es hat durchaus Investitionen in Infrastruktur gegeben, etwa die interozeanischen Straßen, obwohl deren Bau dreimal so teuer war wie vorgesehen. Heute gibt es mehr Krankenhäuser, mehr Menschen mit Zugang zu Trinkwasser. Ist die Bildung besser geworden? Nein. Gerade wurden die Ergebnisse der Pisa-Studie für Peru bekannt. Sie zeigt, dass die Schulausbildung in Peru ein Desaster ist. Die Beziehung der Politik den LehrerInnen gegenüber ist von Repression und Drohungen, statt von Förderung geprägt. Erziehungsprogramme sind ineffizient. Es gab keinen Versuch, Erziehung mit Ernährung und Gesundheit zu verknüpfen. Und es gab keinerlei positive Entwicklungen in diesem Bereich. Zudem haben sich die Arbeitsbedingungen der Mehrheit der PeruanerInnen nicht verbessert. Löhne und Gehälter waren eingefroren. Nach fast vier Jahren wurde der Mindestlohn gerade um 50 Soles (1 Euro = 3,6 Soles) im Monat erhöht, eine lächerliche Summe. Heute verfügt die Mehrheit der Lohnabhängigen nicht über formale persönliche Arbeitsverträge, sie haben kein Recht auf Urlaub und Sozialversicherung, die Länge des Arbeitsverhältnisses wird nicht angerechnet. Das ist eine phänomenale Ausbeutung der Arbeitskraft.

Der Unterschied zwischen der Darstellung auf den Plakaten und der Realität wird in Umfragen deutlich. Wenn die Leute tatsächlich das spüren würden, was auf den Plakaten über die Regierung erzählt wird, wie kann es dann sein, dass der Präsident heute 30 Prozent Zustimmung genießt, aber 64 Prozent ihn ablehnen? Es ist richtig, dass bestimmte Arbeiten durchgeführt wurden, aber die Leute denken erstens, dass diese Arbeiten nicht ausreichen und sie in weiten Teilen der Bevölkerung nicht ankommen, während einige wenige sich die Taschen mit dem Reichtum des Landes füllen, ohne ihm zu geben, was ihm gebührt.

Derzeit gut in den Umfragen liegt Keiko Fujimori, die sich ausdrücklich in die Tradition ihres Vaters stellt, der wegen schwerwiegender Delikte hoffentlich für immer im Gefängnis sitzt. Warum hat ausgerechnet sie offenbar gewisse Chancen, Präsidentin Perus zu werden?

Jede Regierung, die eine so brutale Inflation beendet, wie die, die das Land am Ende der ersten Regierung Alan Garcías (1985-1990) beutelte, ist populär, denn sie bringt den Leuten Sicherheit. Wenn du die Erfolge hinzurechnest, die Fujimori gegen den Sendero Luminoso (extrem sektiererische maoistische Organisation, die in den 80er Jahren einen Krieg gegen den peruanischen Staat und die sozialen Bewegungen führte, der über 70 000 PeruanerInnen das Leben kostete – die Red.) gelangen, ist die Erklärung vollständig: Alberto Fujimori gab wirtschaftliche Sicherheit und politische Sicherheit. Obwohl er gleichzeitig die Bedingungen für Chancengleichheit zerstörte und die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnete. Außerdem hat er aus meiner Sicht sehr erfolgreich den Klientelismus gefördert. Das heißt, er kombinierte einen extremen Neoliberalismus mit einem populären Klientelismus in den armen Gebieten des Landes. Dorthin ließ er sich regelmäßig im Hubschrauber bringen und verteilte gebrauchte Kleidung und Lebensmittelpakete. Ich glaube, das erklärt die 17 oder 18 Prozent, auf die Keiki Fujimori im Moment kommt. Diese Zustimmung ist ein Produkt des genannten Klientelismus, der Entpolitisierung und der Erinnerung an eine Sicherheit, die die Leute nach einer bitteren Phase der Instabilität infolge von Hyperinflation und Terrorismus wahrnahmen. Ich glaube zudem, dass in diesem Land die Werte verloren gegangen sind. Hier denken die Leute: „Er klaut, aber er tut was. Den wähle ich. Klauen tun alle, aber er macht wenigstens etwas.“ Das ist eine tiefgreifende Krise der Ethik.

Das erklärt, wieso der Fujimorismus im Moment bei 17 oder 18 Prozent liegen kann – am Ende werden es weniger sein. Das Wahlbarometer wird sich noch verändern. Ich denke, dass auch Castaneda sehr an Zustimmung verlieren wird. Er ist ein ganz schlechter Kandidat; ihm wurden mehrere schwere Korruptionsfälle nachgewiesen, die ihn belasten und noch mehr belasten werden. Toledo wird meines Erachtens zulegen, während Keiko Fujimori zurückfällt. Möglich, wenn auch nicht sicher ist, dass Humala soviel zulegt, dass er in die zweite Runde kommt. Wenn sich tatsächlich diese Möglichkeit öffnet, gäbe die zweite Runde Gelegenheit für eine polarisierende Debatte über die beiden Visionen der Zukunft Perus. Damit sage ich nicht, dass ein Sieg für die Option eines anderen Peru tatsächlich machbar ist. Aber es würden bessere Bedingungen geschaffen.

Damit räumst du der Linken nur einen minimalen Platz ein. Dabei hat die Linke gerade in Peru ganz andere Zeiten erlebt. Deine eigene Partei, die PUM, war in den 80er Jahren eine Linkspartei neuen Typs, die international bei der Linken Beachtung fand, und die heute zersplitterte Linke war in der Izquierda Unida vereint.

Anders als in anderen Ländern Lateinamerikas hat die Linke eine Niederlage erlebt, die strategische Folgen hatte. In Peru kamen verschiedene Faktoren zusammen. Zum einen die Hyperinflation, die Alan García hinterließ und die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen enorm schwächte. Letztere wurden dann durch den Neoliberalismus Fujimoris nochmals gebeutelt. Ich glaube, dass die Linke eine politische Niederlage erlitten hat, weil sie keine politische Antwort hatte auf die Krise der ersten Regierung Alan Garcías. Das drückte sich in etwas sehr Dramatischem aus, dass nämlich das Gros der Linken 1990 nicht nur für Fujimori stimmte, sondern dass anschließend maßgebliche VertreterInnen der Linken die Schockpolitik Fujimoris und die Einführung des neoliberalen Modells unterstützt haben. Im ersten Kabinett Fujimoris waren drei Minister der Linken, und sie erschienen im Fernsehen und baten, dass Gott uns beistände bei der Anwendung einer Maßnahme, die an einem Tag die Preise um 480 Prozent erhöhte, was das System der Preise und Gehälter im Land komplett zerstörte. Damit wurde ein Prozess der Stabilisierung eingeleitet, allerdings zum Preis einer stark anwachsenden Ungleichheit.

Ich glaube, das zeigte die tiefgreifende ideologische Entwaffnung eines großen Teils der Linken. Diejenigen, die wir damit nicht einverstanden waren, waren nicht in der Lage, eine Alternative zu entwickeln. Wir haben uns aus dem Leitungsgremium der damaligen Izquierda Unida (Vereinigte Linke) zurückgezogen, aber wir waren nicht fähig, eine Antwort zu geben.

Warum? Die Linke in Peru hat eine einseitig auf das Ökonomische konzentrierte Geschichte, eine Geschichte gewerkschaftlicher Forderungen statt eines allgemeinen politischen Protests. Unter Fujimori und nach ihm hat sich der Niedergang der Linken fortgesetzt. Vor zwei, zweieinhalb Jahren begannen dann Versuche einer Neuformierung der politischen und sozialen Koordination der sozialen Bewegungen, die mit politischen Kräften zusammenarbeiteten. Wir sind soweit gegangen, den Nationalismus, die Bewegung Ollanta Humalas, in diese Koordination zu integrieren.

Aber diese Koordination hat es aus meiner Sicht wieder nicht geschafft, die politischen Themen ins Zentrum zu rücken. Ich meine damit das Thema eines neuen Modells, das Thema einer Verfassunggebenden Versammlung, die Rückgewinnung der Kontrolle über unsere Rohstoffe als politische Kampagne. Die Koordination hat sich in Protesttagen mit einer großen Dosis von Gewerkschaftsforderungen verzettelt. Am Ende hat sich der Nationalismus aus der Koordination ausgeklinkt. Die indigenistischen Bewegungen glaubten, dass es die Chance eines peruanischen Evo Morales gäbe, und haben sich ebenfalls von der Koordination verabschiedet. Statt zu versuchen, sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen, spaltete sich der Versuch letztlich wieder auf in den Nationalismus, eine Plattform der Linken und die indigenistischen Bewegungen. Keine von ihnen schaffte es jedoch zu wachsen. Denn sie haben keine alternative gemeinsame Idee hervorgebracht. Damit war die Möglichkeit einer breiteren gemeinsamen Front vergeben.

Der Nationalismus hat meines Erachtens den Fehler begangen zu glauben, die unteren popularen Schichten bereits hinter sich zu haben, ohne sie zu organisieren und sie mit einem zugkräftigen ideologischen Programm zusammenzuschweißen. Er sah die Linke nur als belanglosen Ballast, der ihm beim Fortkommen hinderlich sei. Ich glaube, das war ein falscher Ansatz. Umgekehrt denke ich, dass auch die Linke einiges dazu beigetragen hat, dass die Verständigung scheiterte. Einige Strömungen der Linken oder links von der Mitte waren zum Teil offen gegen Humala. Ich meine damit etwa die Bewegung von Marco Arana (katholischer Priester, der gegen die Praktiken der Bergbauunternehmen kämpft – die Red.).

Kurz gesagt, die Linke ist nicht über ihr angestammtes Umfeld hinausgekommen und die indigenistische Bewegung hat eine sehr sektiererische Position eingenommen. Das hat dazu geführt, dass wir nun unter sehr komplizierten Vorzeichen und gespalten in den Wahlkampf starten. Die Bewegung Neue Linke (Movimiento Nueva Izquierda) ist aus dem Spiel. Sie haben sich selbst entschieden, auszusteigen und auf ihre eigene Karte zu setzen, als Fuerza Social, eine Kraft der Mitte. Marco Arana ist ebenfalls aus dem Spiel. Der Rest der Linken hat sich auf eine Allianz mit dem Nationalismus eingelassen, ebenso mehrere Regionalbewegungen.

Birgt diese Entscheidung für eine Allianz der Linken mit dem Nationalismus, den wir zur Rechten zählen, nicht große Gefahren?

Ich finde nicht, das man den Nationalismus Humalas der Rechten zurechnen kann. Das ist ein Nationalismus, der die Kontrolle über die Bodenschätze zurückfordert, eine Steuerreform anstrebt, die Macht der Monopole und Oligopole beschneiden und die Freihandelsverträge revidieren will. Ich halte das für einen Vorschlag, der auf eine demokratische Regierung zielt, national in dem Sinne, dass im Land sozial umverteilt werden muss. Der Plattform liegt ein grundsätzliches Übereinkommen zugrunde. Natürlich stünde der Kampf, dies alles umzusetzen, erst noch bevor, sofern die Plattform gewänne. Aber ich glaube, die Ausgangsbedingungen dafür sind unendlich viel besser als beim Experiment Lugo in Paraguay. Meines Erachtens können die Führungsfiguren dieser Bewegung so viel Gewicht haben, wie es seinerzeit die BefürworterInnen einer Regierung Correa vor den Wahlen in Ecuador hatten, auch wenn man beide Prozesse nicht umstandslos vergleichen kann. Wenn man sich das Team des Plan de Gobierno von Humala ansieht, stellt man fest, dass 90 bis 95 Prozent Leute sind, die aus der Linken stammen und die progressiv denken. 

Man muss das Ganze vor dem Hintergrund sehen, dass die politischen Kräfte im heutigen Lateinamerika sehr stark von Caudillos geprägt sind. Man denke nur an Correa in Ecuador, Chávez in Venezuela und, mit allem gebührenden Unterschied, auch Evo Morales in Bolivien. In Peru ist das nicht anders. Die meisten Parteien haben als Wiedererkennungszeichen die Anfangsbuchstaben der Namen ihrer KandidatInnen.
Das ist bei der Rechten genauso wie bei Susana Villarán (der neuen linken Bürgermeisterin von Lima – die Red.), Arana oder Humala. Das hat mit der Schwächung kollektiver Strukturen zu tun, mit einer Politik, die immer mehr über die Medien vermittelt und immer weniger programmatisch ist und zunehmend von einigen wenigen EntscheidungsträgerInnen abhängt.

Ollanta Humala war vor einiger Zeit auf Europareise, wo er sich sehr skeptisch gegenüber Integrationsinitiativen wie die Andengemeinschaft zeigte. Auch Menschenrechte schienen ihm kein wirklich debattierenswertes Thema. Mit dem Bergbau hatte er keine Probleme, will sagen, auch die Ökologiefrage interessiert ihn nicht sonderlich. Mit anderen Worten, Kernthemen für einen wirklichen Wechsel spielen für ihn keine Rolle.

Nun, Humala ist der einzige Politiker, der 2006 gesagt hat und bis heute daran festhält, dass die Empfehlungen der Wahrheitskommission (über die Menschenrechtsverletzungen während des Krieges zwischen dem Militär und Sendero Luminoso, in dem beide Seiten brutal gegen die Zivilbevölkerung vorgingen – die Red.) bindenden Charakter haben sollten. KeinE andereR PolitikerIn im Land hat das vertreten. Dabei handelt es sich bei Humala um jemanden, der aus den Streitkräften kommt, was solch eine Position doppelt schwierig macht, da die Militärs im Wahrheitsbericht alles andere als gut wegkommen.
Humala ist weder ein begnadeter Redner noch ein Intellektueller. Sein Aufstieg hat ganz andere Gründe und hat, wie bei uns allen, sein Für und Wider. Ich finde schon, dass er beim Thema Menschenrechte eine Position hat. Er hat ebenso deutlich gemacht, wie der Fujimorismus durch Korruption Moral und Ethik der Streitkräfte zerstört hat. Auch das erscheint mir wichtig.

Selbst Susana Villarán, deren Projekt gar nichts mit Humala zu tun hat, hat während ihres Wahlkampfes erklärt, dass die Vorwürfe, die Humala mit Menschenrechtsverletzungen in Madre Mía und in anderen Gebieten in Verbindung bringen, in denen seine Einheit stationiert war, geklärt und vom Gericht eingestellt worden sind.

Das Interview führten Gert Eisenbürger und Gaby Küppers am 5. Januar 2011 in Lima.