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Drohen und verunsichern

Interview mit Miguel Jugo, Vorsitzender der peruanischen Menschenrechtsorganisation APRODEH

Mehr als 70 Prozent der aktuellen sozialen Konflikte in Peru haben mit vorenthaltenen Mitentscheidungsrechten bei Großprojekten, meist im Bergbau, zu tun. Seitens des Staates und der Justiz werden soziale AktivistInnen eingeschüchtert und mit Anklagen überzogen. Häufig geht es dabei um den Schutz der Interessen ausländischer Unternehmen. Die Liste der Firmen, auch europäischer, die der Staat vor den AnwohnerInnen schützt, ist lang. Private Sicherheitsdienste, etwa auch die schwedische Securitas, sind gern zu Diensten. Deren Angestellte rekrutieren sich vielfach aus Ex-Sicherheitsagenten und Marinesoldaten aus der Fujimori-Zeit. Sie tragen kriegstaugliche Waffen, da es ja gilt, das im Bergbau benutzte Dynamit zu schützen. Aber auch das Ausspionieren gehört zu ihrem Geschäft, so etwa in geradezu grotesker Weise Ende 2006 bei der NRO Grufides in Cajamarca (vgl. Interview S. 17). Beweise gegen den Auftraggeber, Mittelsleute der kanadischen Bergbaufirma Newmont, wurden der Justiz übergeben, doch das Verfahren verlief im Sande. Gert Eisenbürger und Gaby Küppers sprachen im Januar mit Miguel Jugo, dem Driektor der Menschenrechtsorganisation APRODEH, deren Mitglieder selbst immer wieder Zielscheibe von Drohungen und Verleumdungen sind.

Gert Eisenbürger
Gaby Küppers

Die Regierungszeit Alan Garcías geht gerade zu Ende. Welche Menschenrechtsthemen standen im Vordergrund? 

Aus meiner Sicht hat sich die Regierung Alan García ganz wesentlich als eine Gegnerin der Menschenrechte positioniert. Sie hat einerseits versucht, vor dem Hintergrund der Prozesse gegen Fujimori (diktatorischer Präsident Perus 1990-2000) und sein Umfeld Amnestien zu erwirken; zum anderen rückte ein neues Thema immer weiter in den Vordergrund, nämlich die Kriminalisierung von sozialen Protesten gegen die Nichtanerkennung von Mitsprache- und Entscheidungsrechten. 

Die Verurteilungen Fujimoris waren nur deswegen möglich, weil es international große Erwartungen gab. Chile hatte ihn ausgeliefert; internationale Beobachter kamen zu den Prozessen. Das hat den Richtern in gewisser Weise Unabhängigkeit verschafft. Unter den Präsidentschaften von Valentín Paniagua und später Alejandro Toledo fand noch bis etwa 2006 eine Demokratisierung Perus statt. Dann schlug Alan García im August 2006 die Wiedereinführung der Todesstrafe vor. Hätte er sich durchgesetzt, wäre Peru aus dem Interamerikanischen Menschenrechtssystem ausgeschlossen worden und er sowie verschiedene Minister aus seinem Kabinett wären einer weiterhin möglichen Strafverfolgung wegen Menschenrechtsverletzungen endgültig entgangen. 

Eine Amnestie stand für Alan García und die De-facto-Koalition zwischen der regierenden APRA und den Fujimoristen ganz oben auf der Tagesordnung. Man darf nicht vergessen, dass im Kabinett Leute wie Vizepräsident Luis Giampetri und Verteidigungsminister Rafael Rey Rey1 vertreten waren und sind. Das entsprechende Dekret 1097, das zur Niederschlagung der meisten Prozesse geführt hätte, musste im September 2010 auf nationalen und internationalen Druck hin zurückgenommen werden. 

Soweit zur „historischen“ Agenda. Auf der „neuen“ Agenda geht es ganz wesentlich um soziale Konflikte. Deren Zahl ist in Peru sehr hoch. Das hat mit einer Vielzahl von Rechten zu tun, die den Menschen vorenthalten sind. Nach unseren Zahlen gab es unter der Regierung Alan García 76 Tote bei sozialen Konflikten, von denen 49 Zivilpersonen und 27 Polizisten sind. Das ist eine erschreckende Zahl. Sie hat sich verfünffacht, wenn man sie mit den 15 Toten in der Zeit zwischen 2001 und 2006 vergleicht. Im Kontext rasant steigender Bergbau-, Energie und Wasserprojekte berufen sich immer mehr Gemeinschaften auf das Recht der Befragung vor deren Inangriffnahme. 

Häufig sind es Indígenas, aber auch Gemeinschaften, die sich nicht als Indígenas betrachten, wollen eine Rolle bei Entscheidungen über den Abbau von Bodenschätzen – und unter welchen Bedingungen – spielen. Doch für die Regierung kommt das überhaupt nicht in Betracht. Sie sieht keinen Bedarf an ernsthaften Befragungen und daran, sozialen Konsens herbeizuführen. Ganz im Gegenteil, die Zustimmung wird dadurch gesucht, dass Protestierende ausgegrenzt, Protest kriminalisiert wird. 

Die Menschenrechtsbewegung hatte im Hinblick auf die Fujimori-Prozesse durchaus Erfolge zu verzeichnen. Bei der „neuen“ Agenda ist das Bild düsterer?

 Im Hinblick auf die „historische“ Agenda waren die Urteile gegen Fujimori und Gräueltaten wie die Morde von Barrios Altos in der Tat Meilensteine. Hier spielte die Haltung der Richter eine herausragende Rolle. Aber in der Rechtsprechung hat es seither dramatische Veränderungen gegeben. So war bei Fujimori letztlich nicht mehr entscheidend, ob er den direkten Befehl „Tötet sie!“ gegeben hat. Danach aber haben Richter immer wieder geurteilt, dass es eine direkte Tötungsorder geben müsse, um Verantwortlichkeiten festlegen zu können. Beim Verschwindenlassen ist es so ähnlich: Es wird ein Haftbefehl für die verschwundene Person verlangt, den es aber gar nicht geben kann. Das ist eine absurde Logik. Wenn Verwandte und Familie den Verschwundenen noch begleiten konnten, ehe er/sie in eine Kaserne oder Polizeistation verschleppt wurde, gelten sie als befangen, ihre Aussagen werden nicht akzeptiert. Diese Haltung der Richter ist neu. In diesem Bereich gab es eindeutig Rückschritte. 

Beim Fujimori-Prozess gab es genügend Leute, die überzeugt waren, dass er schuldig war. Also konnte man ihn verurteilen, ohne Probleme zu bekommen. Bei den späteren Prozessen gegen Militärs gab es eine öffentliche Kampagne von Seiten des Präsidenten, des Vizepräsidenten, des Verteidigungsministers. Die Militärs würden verfolgt, hieß es, obwohl sie das Land doch vor dem Terrorismus beschützt hätten. Diese Logik schüchtert die Richter offensichtlich ein und sie suchen Wege, sie nicht zu verurteilen. Bei der „neuen Agenda“, also den sozialen Konflikten, ist der Fall Pedro Condori bezeichnend. Pedro Condori ist ein Bergarbeiterführer in Casacalpa, dem schuldhafte Tötung – und zwar als geistiger Urheber – vorgeworfen wurde. Was war geschehen? Eine Gruppe um Condori hatte einen Streik organisiert. Die Polizei kam. Viele Bergarbeiter kletterten daraufhin die Abhänge hoch und warfen von dort Steine auf die Straße. Einer der Steine traf einen Polizisten tödlich. Condori wurde festgenommen und die Zeitungen schrieben: „Das ist der Mörder des Polizisten!“ Condori blieb sieben Monate im Gefängnis, als geistiger Urheber des Mordes.

Wir haben mit dem Richter über den Fall gesprochen. Er hat uns wörtlich gesagt: „Wollen Sie, dass ich Condori freilasse und die Presse mich daraufhin fertigmacht?“ Wir darauf: „Nein, wir wollen nur, dass Sie Ihrer Pflicht nachgehen. Was die Presse mit Ihnen macht, ist nicht unser Problem. Aber wir können Sie dagegen verteidigen. Nur müssen Sie sich zunächst zu einer angemessenen Haltung durchringen.“ Ich habe bei einer Sitzung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission den Fall angesprochen. Einer der leitenden Richter entgegnete mir: „Nein, das kann man so nicht sagen. Wir Richter lassen uns nicht unter Druck setzen, weder von der Presse noch von der Politik.“ Die Sitzung ging zu Ende und wir verließen den Saal. Da nahm er mich beiseite und sagte: „Sie haben ja Recht.“ Ich darauf: „Aber wieso können Sie das nicht im Saal sagen?“ Und er: „Wir lösen das in Lima.“ 

Tatsächlich wurde Condori freigelassen, aber nach sieben Monaten! Dabei war er nicht mal vor Ort und derjenige, der den Stein geworfen hatte, war identifiziert worden. (Kurz nach dem Interview kam Pedro Condori wieder ohne klare Anklage in Haft.) 

Wie wird sozialer Protest in Peru kriminalisiert? 

Wir haben in Peru eine recht seltsame Situation. Es gibt sehr harte Gesetze, aber sie werden meistens nicht angewendet. Beispielsweise ermöglichen geltende Gesetze, dass die Teilnahme an einer Demonstration als Akt der Nötigung gelten kann, wofür man vor Gericht gestellt werden kann. Ein Führer der Frente de Defensa de Moquegua, Zenón Cueva, sollte laut Staatsanwaltschaft zu 35 Jahren Freiheitsentzug wegen Entführung (!) verurteilt werden – der Prozess läuft noch. Es gibt rund 2000 Führer sozialer Bewegungen, gegen die Verfahren laufen, aber verurteilt im Gefängnis sind nicht mehr als zehn. Das heißt, der wesentliche Punkt ist die Drohung und dann das Verfahren. 

Wie viele mögliche Täter wurden im Falle der Zusammenstöße 2009 in Bagua im Amazonasgebiet, wo neben einer bis heute nicht ermittelten Zahl von Indigenen 23 Polizisten umgekommen sind, ins Gefängnis gesteckt? Drei. Gegen wie viele läuft ein Verfahren? 125. So spielt sich das ab: Sie strengen ein Verfahren gegen dich an und da hängst du dann. Ende 2010 wurden drei soziale Führer verurteilt, drei weitere freigesprochen. Zu den Freigesprochenen zählte ein Priester, Padre Mario Bartolini, der angeklagt wurde, weil er in einer Messe gesagt hatte, Alan García sei ein Völkermörder. Der zweite war Carlos Flores, Direktor eines lokalen Radio- und Fernsehsenders, dem zu Last gelegt wurde, dass er über den Streik im Amazonasgebiet berichtet hatte. Die Strafverfahren gegen sie liefen seit 2009. Für drei ist es gut ausgegangen, drei andere wurden zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, das heißt, sie müssen jeden Monat bei den Behörden vorstellig werden und unterschreiben. So läuft das hier ab. 

Es hängt immer das Damoklesschwert über dir, es kann immer sein, dass du verhaftet wirst. Meistens passiert am Ende doch nichts, aber die Verunsicherung ist Teil der Strategie gegen sozialen Protest. Die jüngste Eskalation ist das am 25. September 2010 veröffentlichte Dekret 1095. Es erlaubt den Streitkräften, soziale Konflikte zu kontrollieren. Bislang wurde es noch nicht angewendet, auch bei heftigeren Konflikten, aber man kann nicht voraussehen, was passiert. Bei denjenigen, die wegen der toten Polizisten in Bagua verhaftet wurden, gibt es überhaupt keine Beweise, dass sie die Täter waren. Die schwerwiegendste Anklage darunter ist Waffenbesitz, worauf maximal fünf Jahre stehen. Eine weitere Anklage stützt sich lediglich auf ein Foto, auf dem ein Verdächtiger zusammen mit einem danach verschwundenen Polizisten zu sehen ist, mehr nicht. Wenn es keine weiteren Beweise gibt, muss er freikommen. Aber die Drohung ist heftig. 89 Personen werden gesucht, gegen neun besteht expliziter Haftbefehl. Es gibt soziale Führer, gegen die 14 oder 15 Verfahren laufen. Umgekehrt können diejenigen, die die Morde an sozialen AktivistInnen zu verantworten haben, davon ausgehen, dass es nie zu einer Verurteilung kommt.

  • 1. Vizepräsident Luis Giampetri war 1986 als Admiral der Marine verantwortlich für Gefängnismassaker. Rafael Rey Rey, Verteidigungsminister 2009-2010, verteidigte vor allem das Vorgehen der Armee im schmutzigen Krieg unter Fujimori und verantwortet die Armeeintervention im Juni 2009 in Bagua/Amazonas.

Das Interview mit Miguel Jugo führten Gert Eisenbürger und Gaby Küppers am 5. Januar 2011 in Lima.