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Rio im Selbstversuch

Der Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“ der türkischen Autorin Asli Erdogan
Gert Eisenbürger

Wer Asli Erdogans Roman „Die Stadt mit der roten Pellerine“ in die Hand nimmt, wird zunächst einmal fremdeln, denn dieser Blick auf Rio unterscheidet sich radikal von dem meisten anderen, was über diese Stadt geschrieben wurde. Erdoðans Geschichte einer dramatischen Hassliebe eröffnet nicht nur einen anderen Zugang zu der Stadt, sondern beleuchtet auch die Probleme einer Migration in einen anderen Kulturkreis hinein.

Irgendwann Mitte der neunziger Jahre kommt die türkische Naturwissenschaftlerin Özgür nach Rio de Janeiro, nicht als Touristin, sondern mit einem Arbeitsvertrag einer brasilianischen Universität. Diesen Job kündigt sie nach kurzer Zeit, bleibt aber in Rio und versucht, sich als Englischlehrerin über Wasser zu halten. Dies gelingt ihr jedoch immer weniger. Sie kann kaum noch die Miete für ihre Wohnung im Künstlerviertel Santa Teresa aufbringen, fürs Essen reicht es häufig nicht mehr. Man könnte sagen, Özgür ist in Rio gestrandet. Dabei ist sie dort alles andere als glücklich. Sie fühlt sich dieser Stadt nicht gewachsen, kann sich mit dem Elend, der Gewalt, der sexualisierten Atmosphäre sowie der für sie unerträglichen Hitze auf der einen und der sozialen Kälte auf der anderen Seite nicht abfinden. Rio nimmt ihr jede Form von Gewissheit – alles was sie gelernt hat, was sie glaubte zu wissen und letztlich alles was sie ist, erweist sich als untauglich, um dort zu bestehen. Das gilt auch und gerade für die von den Frauen Rios gelebte Weiblichkeit, deren unbedingte Körperlichkeit ihr bedrohlich und faszinierend zugleich erscheint. Dieses Angezogen- und gleichzeitig Abgestoßensein bestimmt ihre gesamte Haltung der Stadt gegenüber: „Rio, das Extreme, Widersprüche und die Maßlosigkeit liebt, ist von betörender Schönheit. Es stürzt sich erbarmungslos auf den Menschen, macht ihn trunken, treibt ihn in die Enge. Rio ist Herr über die erschreckende Magie der Masken Afrikas. Die Stadt hingegen, in der Özgür geboren und aufgewachsen war, glich einem silbernen Amethystarmreif: steif, vornehm, geheimnisvoll, mit Patina überzogen.“ (S. 61)

Die Allgegenwart des Todes in Rio bildet das Kontinuum in der Beschreibung verschiedener Szenen und Situationen: Erschossene, die auf der Straße liegen, der verzweifelte Todeskampf verhungernder Obdachloser auf den Bürgersteigen, die Gesichter der Todgeweihten, die in absehbarer Zeit an Krankheit und Entkräftung sterben werden. All das ist in Rio sichtbar, die Menschen gehen einfach vorüber, ihre entwickelten Selbstschutzmechanismen lassen sie dieses Elend ausblenden. Auch Özgür bleibt nicht stehen, doch die Bilder lassen sie nicht los, verfolgen sie in ihren Gedanken und Träumen. In diesen Passagen wird das Buch sehr persönlich, mitunter verstörend persönlich, denn auch die Autorin hat Mitte der Neunziger zwei Jahre in Rio gelebt, dort zunächst an der Katholischen Universität gearbeitet, dann ihre wissenschaftliche Laufbahn als Atomphysikerin beendet und sich dem Schreiben gewidmet. Bei Asli Erdogan war es aber – anders als bei ihrer Romanfigur Özgür – zumindest teilweise auch ein politisches Exil.

Die Favelas, die in Santa Teresa fast an ihre Wohnung grenzen, sind für Özgür die Essenz ihres Rio, die Orte, wo Lebenslust, ja Lebensgier und der Tod so unglaublich nahe beieinander liegen.

Dabei ist „Die Stadt mit der roten Pelerine“ alles andere als eine Sozialreportage. Die beschriebene Gewalt und der sichtbare Tod – die natürlich real sind und nicht imaginiert – sind für die Autorin auch Metapher. Der Roman ist voller mythischer und religiöser Bezüge. In ihrem sehr lesenswerten Nachwort stellt Karin Schweißgut diese Bezüge – sowohl auf die Antike, das Christentum, afroamerikanische Spiritualität, nicht aber auf den Islam – sehr anschaulich dar. Der immer beklemmender werdende Spaziergang Özgürs durch die Stadtteile Santa Teresa und Lapa, der den gesamten zweiten Teil des Buches ausmacht, wird so betrachtet zum Kreuzweg, womit auch ein Hinweis auf das Ende des Romans gegeben ist.

Darüberhinaus ist „Die Stadt mit der roten Pelerine“ auch ein Roman über das Schreiben. Denn um mit ihren Erfahrungen fertigzuwerden, beginnt Özgür mit der Arbeit an einem Roman, der für sie zunehmend zum Halt in ihrem von Nöten und Ängsten geprägten Leben wird. Im Buch sind immer wieder – kursiv gesetzt – Passagen aus Özgürs Roman, deren Hauptperson die Ich-Erzählerin Ö. ist, eingeflochten. Dies treibt die Handlung voran und ermöglicht einen permanenten Wechsel der Perspektive 

Je stärker man sich auf den Roman einlässt, desto mehr merkt man, wie vielschichtig er ist. Trotz seiner depressiven und teilweise selbstquälerischen Grundstimmung vermag er es zudem, die LeserInnen in seinen Bann zu ziehen, auch wenn man sich mit Blick auf Özgür gelegentlich die Frage stellen kann, warum sie sich das alles antut. Doch diese Frage ist für MitgrantInnen und Exilierte müßig. Eben das unterscheidet Özgür von den EuropäerInnen und US-AmerikanerInnen mit Rückflugticket, die Rio den Rücken kehren können, wenn es ihnen zu heftig wird.

Erschienen ist „Die Stadt mit der roten Pelerine“ in der „Türkischen Bibliothek“ des Unionsverlags, die in den letzten Jahren zwanzig wichtige türkische Romane in deutscher Sprache zugänglich gemacht und damit die Möglichkeit eröffnet hat, eine ungeheuer spannende Literaturszene kennenzulernen und auf aufregende Bücher zu stoßen. Asli Erdogans Rio-Roman gehört zweifellos dazu. 

Asli Erdogan: Die Stadt mir der roten Pelerine, Übersetzung: Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch. Mit einem Nachwort von Karin Schweißgut, Unionsverlag, 2. Auflage, Zürich 2008, 204 Seiten, 19,90 Euro