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Ein Land ohne Brücken

José María Arguedas' Meisterwerk „Die tiefen Flüsse“ endlich wieder auf Deutsch lieferbar
Gert Eisenbürger

Im zwanzigsten Jahrhundert ist eine ganze Reihe großer lateinamerikanischer Romane erschienen. Einige davon waren für mich echte Leseerlebnisse. Am stärksten beeindruckt hat mich dabei „Die tiefen Flüsse“ von José María Arguedas. Das Thema des Romans, der im spanischen Original (Los ríos profundos) bereits 1948 veröffentlicht wurde, ist ein ganz klassisches. Der Ich-Erzähler Ernesto beschreibt, wie er vom Kind zum Jugendlichen heranreift, damit also die entscheidende Phase seines Erwachsenwerdens. Doch bei Arguedas ist vieles anders als bei den meisten autobiographischen Romanen über diesen Lebensabschnitt. Es geht zwar durchaus darum, wie ein Jugendlicher seine persönliche Identität und seinen Platz in der Gesellschaft findet. Jedoch steht er sich dabei nicht vornehmlich selbst im Wege und muss seinen Charakter entsprechend anpassen. Vielmehr ist es die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit Perus mit ihrer strikten Trennung der ethnischen Gruppen und ihrem manifesten Rassismus, die ihm keinen Raum bietet.

Die Biographie Ernestos gleicht in groben Zügen der des Autors José María Arguedas. Ernesto ist ein junger weißer Peruaner, Sohn eines sozial engagierten Rechtsanwalts. Als der Vater aus politischen Gründen verfolgt wird (die Mutter wird nicht erwähnt, vermutlich weil sie wie die Mutter des Autors starb, als er noch ein Kleinkind war), kommt der Junge in die Obhut von Verwandten. Weil sie ihn dort misshandeln, flieht er und findet in einer indigenen Gemeinde Zuflucht. Dort findet er echte Zuwendung. Die Gemeinschaft wird der positive Ort der Kindheit. Als der Vater zurückkehrt, zieht Ernesto mit ihm mehrere Jahr umher. Sie wandern durch die Dörfer, wo sich der Vater – meist indigene – Mandanten sucht, die er in Konflikten mit Großgrundbesitzern anwaltlich vertritt. Damit schafft er sich natürlich keine Freunde im Establishment und muss die Orte, in denen er und sein Sohn vorübergehend leben, meist nach kurzer Zeit wieder verlassen.

Als Ernesto 14 Jahre alt ist, teilt ihm der Vater mit, dass er eine gute Ausbildung brauche. Es solle deshalb in dem Kleinstädtchen Abancay bleiben, dort eine von Franziskanern geleitete Schule besuchen und im angeschlossenen Internat leben. Der Leiter des Internats, Pater Linares, sei ein ausgezeichneter Lehrer und Prediger und werde von Menschen der Region, insbesondere den Indios, als der „Heilige von Abancay“ verehrt.

Traurig und widerwillig tritt Ernesto in die Schule und das Internat ein, lieber wäre er weiterhin mit dem Vater über Land gezogen – trotz der prekären Bedingungen, unter denen sie dabei lebten. Es fällt Ernesto sehr schwer, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Im Internat leidet er unter den Machtspielchen und der Grausamkeit einiger älterer Schüler. Den meisten, die aus Abancay und Umgebung kommen, gilt er als suspekter Fremder. Überall in der Schule ist der Rassismus gegenüber den Indios spürbar, der Ernesto ungemein kränkt, da er sich trotz seiner weißen Hautfarbe den Indígenas verbunden fühlt und in der Welt der andinen Mythen zu Hause ist.

Die im Internat allgegenwärtige Gewalt manifestiert sich nicht nur in der Einschüchterung Jüngerer und Prügel für Schwächere, sondern auch in sexueller Aggression gegen eine geistig zurückgebliebene Küchenhilfe. Einige Internatsschüler lauern der Frau regelmäßig im Hof auf und zerren sie in die Latrinen, wo sie sie brutal vergewaltigen. Ernesto, aber auch viele andere Schüler sehen das mit Entsetzen, betrachten die Vergewaltigungen aber vor allem als Akte entfesselter Sexualität, die sie auch in sich selber spüren und zu unterdrücken suchen.

Die alltägliche Brutalität des Internatslebens wird durch zwei Ereignisse durchbrochen. Das erste ist ein Aufstand mestizischer und indigener Frauen in Abancay gegen die lokalen Behörden, als diese behaupten, es gäbe kein Salz. Dabei verschachern sie es an Großgrundbesitzer, die es dem Viehfutter beimischen. Die Frauen, angeführt von den Chicheras, den Herstellerinnen und Verkäuferinnen des traditionellen alkoholischen Getränks Chicha, dringen in das Gebäude der Salzbehörde ein, entwaffnen die lokalen Gendarmen und verteilen das vorgefundene Salz an die Leute am Ort und die abhängigen Indígenas der umliegenden Haziendas. Ernesto ist – anders als die Padres und die meisten seiner Mitschüler – begeistert vom Vorgehen und machtvollen Auftreten der Chicheras und schließt sich ihrem Zug an.

In der Beschreibung des „Salzaufstands“ gelingt Arguedas eine bildhafte Schilderung der politischen Strukuren und besonders der Rolle der katholischen Kirche. Schon vorher wird der „Heilige von Abancay“, der Pater und Schulleiter, in einzelnen Szenen entmystifiziert, wenn deutlich gemacht wird, wie eng er mit den Großgrundbesitzern verbändelt ist. Beim „Salzaufstand“ wird endgültig klar, wo er steht. Er verurteilt das angebliche gewalttätige Vorgehen der Chicheras gegen die gottgewollte Ordnung. Als wenige Tage nach dem Aufstand Militär in Abancay einrückt, das Salz konfisziert und die Chicheras festnimmt und sexuell misshandelt, begrüßt er dieses Vorgehen ausdrücklich. Den völlig verarmten abhängigen Indígenas, denen das Salz wieder abgenommen wird, predigt er Demut und Gottvertrauen und ermuntert die Großgrundbesitzer, ihnen etwas Salz zu überlassen, damit sie sehen, dass sie nur im Gehorsam, nicht aber vom Aufstand etwas zu erwarten haben.

Ernesto verfolgt die Geschehnisse mit zunehmendem Entsetzen: die Predigten des Padre, die Demütigung der Indios durch die Salzgeschenke und die Strafaktionen der Militärs gegen die Chicheras. Seine glühende Bewunderung gilt Doña Felipa, ihrer Anführerin, die zusammen mit einer Kollegin rechtzeitig vor Ankunft der Militärs aus Abancay flieht. Den Militärs, die eine Strafexpedition ausschicken, um sie festzunehmen, gelingt es nicht, ihrer habhaft zu werden.

Das zweite – noch dramatischere – Ereignis ist der Ausbruch eines tödlichen Fiebers in der Region. Es ist offensichtlich zuerst in einem Dorf aufgetreten. Die erste, die in der Stadt erkrankt, ist die zurückgebliebene Küchenhilfe, die offensichtlich auch ihre „Sexualpartner“ infiziert hat. Als die Frau am Fieber stirbt, bricht im Internat und der Stadt Panik aus. Das Internat wird vorübergehend geschlossen und die Schüler werden zu ihren Familien geschickt. Für Ernesto ist dies der ersehnte Moment der Befreiung aus seinem Gefängnis.

Obwohl der Roman sehr genau die gesellschaftliche Realität des ländlichen Peru um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts beschreibt, ist er an keiner Stelle pädagogisch. Arguedas erklärt nichts, alles ergibt sich aus der Geschichte, dem Agieren der Personen. Der jugendliche Ernesto sieht aufgrund seiner besonderen Biographie als Einziger keine Hierarchie zwischen Weißen, Mestizen und Indios. Alle anderen – seien es seine Mitschüler, seien es die Padres im Internat – haben die rassistische Struktur der Gesellschaft verinnerlicht, auch wenn Letztere in süßen Worten den Indios predigen und sie auf ein besseres Jenseits vertrösten. Die vergleichsweise breiten Naturbeschreibungen, mit denen ich in Romanen sonst eher wenig anfangen kann, sind kein Selbstzweck oder eine Passion des Autors, sondern veranschaulichen die Weltsicht und die Kosmovision der andinen Indígenas, in denen jedes Tier, jeder Baum und jeder Fluss eine besondere Bedeutung hat.

Arguedas' Roman entstand vor über 60 Jahren. Peru hat sich in dieser Zeit rasant verändert. Die in „Die tiefen Flüsse“ geschilderte Welt wird man dort heute auch in einer ländlichen Kleinstadt nicht mehr antreffen. Dennoch bin ich der Meinung, dass das Buch hochaktuell ist. Es stellt in bemerkenswerter Klarheit die Desintegration einer Gesellschaft dar, in der eine Lebensweise und eine politisch-religiöse Ideologie hegemonial sind und in der andere Lebens- und Weltsichten als minderwertig gesehen werden. Gleichzeitig ist der dominante Lebensstil für die Mehrheit der Bevölkerung – die Indígenas – nie erreichbar, egal wie sehr sie sich anstrengen und anpassen. Was Arguedas für den Mikrokosmos Abancay beschreibt, gilt heute für die globalisierte Welt. Arguedas bleibt aber nicht bei der Kritik stehen, sondern zeigt auch den kulturellen Reichtum der anderen, der indigenen Welt. Dabei gelingt es ihm weitgehend, Romantisierungen zu vermeiden. Im Roman begegnen uns keine edlen Wilden, sondern Menschen, deren Leben und Weltsicht von der bäuerlich-andinen Welt geprägt sind, und die ist durchaus heterogen. Beim Nomadenleben mit dem Vater hat Ernesto/Arguedas sehr früh gelernt, wie sehr sich die Traditionen, Umgangsformen, Tänze und Lieder der Menschen unterscheiden, je nachdem ob sie im andinen Hochland, in Tälern mit mildem Klima oder im warmen Tiefland leben. Der Protagonist/Autor war von klein auf mit der zweiten, der „geheimen Nation“ der Indígenas, wie sie der große bolivianische Regisseur Jorge Sanjinés in einem seiner besten Filme genannt hat, vertraut.

Arguedas war keineswegs der einzige peruanische bzw. lateinamerikanische Schriftsteller, der die Lebensweise und die Diskriminierung der Indígenas thematisiert hat. Mit dem Indigenismus gab es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine einflussreiche literarische Strömung. Dessen AutorInnen waren weiße mittelständische Intellektuelle, die mit ihrer Kritik an der Diskriminierung der Indios und der Ignoranz der weißen Eliten ihre eigene gesellschaftliche Marginalisierung als schreibende Intellektuelle thematisierten. Die Darstellung der Indígenas ist bei diesen AutorInnen oft schematisch und/oder idealisierend. Arguedas war dagegen in beiden Welten zu Hause, im Ayllu, aber auch in den Universitäten, wo er lehrte. Er litt zeitlebens darunter, dass die beiden Welten nicht zusammenkommen konnten, dass Peru glaubte, seine indigenen Menschen und deren Kenntnisse marginalisieren zu können. Arguedas fühlte sich als Außenseiter und war ein zutiefst unglücklicher und melancholischer Mensch. Am 2. Dezember 1969 nahm er sich in Lima das Leben. Uns bleiben seine Bücher. Es ist dem Wagenbach-Verlag zu danken, dass er „Die tiefen Flüsse“ in einer preiswerten Taschenbuchausgabe neu aufgelegt und den deutschsprachigen LeserInnen wieder zugänglich gemacht hat. 

José María Arguedas: Die tiefen Flüsse, Übersetzung: Susanne Heintz, Wagenbach-Verlag, Berlin, August 2011, 288 Seiten, 12,90 Euro