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Problem oder Chance?

Alternde Bevölkerungen in Lateinamerika

Seit Ende der 60er-Jahre hat sich die demografische Entwicklung in den meisten Ländern Lateinamerikas und der Karibik stark verändert, mit erheblichen Auswirkungen auf das Bevölkerungswachstum und die Alterspyramide. Eine der tiefgreifenden Transformationen ist die zunehmende Alterung der Bevölkerung. Langsam werden aus jungen Gesellschaften erwachsene und aus diesen alternde.

Sandra Huenchuan

Nach den Schätzungen und Prognosen der Vereinten Nationen leben 2017 76,3 Millionen alte Menschen in Lateinamerika und der Karibik, das sind 12 Prozent der Bevölkerung. 2030 werden es 121 Millionen sein, die dann einen Anteil von 17 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. 2060 wird der Anteil der Alten an der Bevölkerung auf 30 Prozent und 234 Millionen Menschen ansteigen. Sowohl in absoluter als auch relativer Hinsicht wächst die Zahl der Menschen, die 60 Jahre und älter sind, sehr schnell. Zwischen 2017 und 2030 erhöht sie sich nach diesen Prognosen um durchschnittlich 3,5 Prozent pro Jahr, viel schneller als die Gesamtbevölkerung wächst. Zwischen 2030 und 2060 wird dieses Wachstum noch schneller erfolgen, mit durchschnittlich 5,1 Prozent jährlich.

Ein anderes wichtiges Charakteristikum dieser Gruppe der älteren Menschen ist, dass der Alterungsprozess auch innerhalb der Gruppe stattfindet. Wenn man diese Gruppe anhand des Alters aufteilt, zeigt sich, dass in den Ländern, die erst am Anfang der zunehmenden Alterung stehen, viel weniger Menschen leben, die 75 Jahre und älter sind. Das bedeutet, dass erst in letzter Zeit viele Menschen dieses Alter erreicht haben und zwischen 60 und 74 Jahre alt sind. Außerdem sind die Überlebenschancen für über 75-Jährige in diesen Ländern bisher nicht besonders hoch.

Andererseits ist die Armut unter den älteren Menschen in Lateinamerika geringer als die Armutsrate der Gesamtbevölkerung, vor allem in den Ländern, in denen Renten- und Pensionssysteme verbreitet sind, wie in Argentinien, Chile und Uruguay. In anderen Ländern ist die Armutsrate unter den alten Menschen genauso groß oder sogar größer als die der Gesamtbevölkerung, überwiegend in den Ländern mit niedrigen Leistungen der Sozialversicherungen. (vgl. www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---americas/---ro-lima/documents/public...)

Das geringe Ausmaß an sozialen Sicherungssystemen in vielen Ländern der Region führt zu einer großen sozialen Benachteiligung der SeniorInnen. Ein beträchtlicher Anteil der Menschen, die 60 Jahre und älter sind, hat kein eigenes Einkommen. Frauen sind davon noch stärker betroffen als Männer. Besonders besorgniserregend ist die Situation in Guatemala, wo 37 Prozent der älteren Bevölkerung kein eigenes Einkommen haben. Ähnlich sieht es in El Salvador mit 30 und Venezuela mit 29 Prozent aus.

Bezüglich der Pflege wird sich der Bedarf in Lateinamerika durch die Alterung in den nächsten Jahrzehnten erheblich verändern. Sind es derzeit noch ganz überwiegend Kleinkinder, die Pflege und Betreuung benötigen, werden dies in den nächsten Jahrzehnten immer mehr alte Menschen sein, wie die Grafik rechts zeigt. Dieser Wandel findet in einem Kontext statt, in dem es immer weniger Menschen gibt, um den Pflegebedarf zu decken.

Wie man in der Grafik sieht, gab es im Jahr 2000 einen riesigen Bedarf an Pflege, auf 100 potenzielle PflegerInnen kamen 35 Pflegebedürftige, überwiegend waren diese 0 bis 6 Jahre alt. In den nächsten vier Jahrzehnten sinkt der Bedarf rapide, um danach wieder anzusteigen, diesmal aufgrund der wachsenden Gruppe der über 75-Jährigen, die sich zwischen 2000 und 2050 verdreifacht haben wird. Das bedeutet, dass die Region zurzeit einen sehr großen Bedarf an Kinderbetreuung hat, sich aber die Gruppe der Pflegebedürftigen stark verändert, es wird im Vergleich weniger Kinderbetreuung erforderlich sein, dafür werden immer mehr alte Menschen pflegebedürftig. Dieser Prozess verläuft in den einzelnen Ländern der Region allerdings sehr unterschiedlich.

Tatsächlich zeigt sich die klassische Heterogenität der lateinamerikanischen Länder auch im Pflegebedarf. In Cuba beispielsweise ist der Bedarf zu Anfang des Jahrtausends sehr viel geringer als im Durchschnitt, weil der Anteil der Kinder dort seit Jahren sinkt. Aber der Bedarf steigt ab 2010 signifikant an und ab 2040 noch weiter, weil immer mehr ältere und sehr alte Menschen hilfsbedürftig sein werden, 2050 wird der Anteil 60 Prozent des Gesamtbedarfes ausmachen. Das andere Extrem ist Guatemala, das im Jahr 2000 sehr viel mehr Pflegebedarf hat als der Durchschnitt in der Region, und das wird bis 2050 so bleiben, hauptsächlich weil Betreuung für die Kinder gebraucht wird. Bis zum Ende der Periode wird 86 Prozent der Pflege für die Betreuung von Kindern, mit einem starken Anteil der unter 6-Jährigen, aufgebracht werden müssen. 2050 wird der Anteil der Alten an der Gesamtbevölkerung in Guatemala den Stand erreichen, den er in Cuba 40 Jahre vorher hatte.

In der englisch- und niederländischsprachigen Karibik haben Langzeitpflegedienste mit häuslicher Betreuung die längste Tradition (Anguilla, Antigua und Barbuda, Niederländische Antillen, Aruba, Barbados, Bahamas, Dominica, Trinidad und Tobago u.a.).

Seit einigen Jahren wird in Lateinamerika und der Karibik viel in den Aufbau stationärer Pflegeeinrichtungen und Tagespflegedienste investiert, dennoch gibt es hier noch sehr viel zu tun. Zahlreiche Länder haben sich dabei auf die gesetzliche Regelung von Einrichtungen für die Langzeitpflege wie Pflegeheime konzentriert (Antigua und Barbuda, Niederländische Antillen, Aruba, Argentinien, Chile, Costa Rica, Cuba, El Salvador, Guatemala, Honduras, Mexiko, Panama, Dominikanische Republik, Uruguay sowie Trinidad & Tobago und viele andere mehr). Trotzdem ist in den meisten Fällen die gesetzliche Regelung schwach und bezieht sich außerdem nur auf Verwaltungsmaßnahmen. Eine genauere Untersuchung zeigt, dass diese Rechtsvorschriften die Rechte und Grundfreiheiten der alten Menschen nicht im vollen Umfang garantieren, es gibt sehr häufig Beschwerden und Anzeigen über die Behandlung der HeimbewohnerInnen.

Eine der wichtigsten Herausforderungen der nächsten Jahre in Lateinamerika und der Karibik wird die Ausweitung des Zugangs zu den Sozialsystemen sein. Die Einkommensverteilung in der Region ist ausgesprochen ungleich, mehr als anderswo in der Welt. Diese ungerechte Verteilung zeigt sich auch in den Sozialsystemen. Angesichts des demografischen Wandels müssen die Aufgaben der Familie, des Marktes und des Staates neu definiert werden. Die sozialen Sicherungssysteme müssen neu geplant werden, um auf die Konsequenzen der demografischen Transformationen zu reagieren und zugleich die Bedürfnisse einer sich wandelnden Gesellschaft zu antizipieren.

Das aktuelle Szenario weist dabei sehr große Hindernisse auf. Die überwiegende Mehrheit der alten Menschen hat keinen Zugang zu Renten oder Pensionen, die den Ausfall der Einkünfte im Alter kompensieren könnten. Dazu kommt, dass auch heute nur ein Teil der arbeitenden Bevölkerung sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten ausübt, was zu einer mangelnden Absicherung der zukünftigen Generationen führt. Eine Form, um Armut im Alter zu vermeiden, besteht darin, Einkünfte über eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu generieren. Jedoch sind die Einkünfte sehr gering und die Sicherheitsvorkehrungen prekär. Deshalb ist es nach wie vor die Familie, die die ökonomischen Risiken im Alter trägt, und zwar nicht nur was die informelle Geldüberweisung betrifft , sondern auch Dienstleistungen aller Art (gemeint sind Kochen, Waschen, Alltagshilfe, Pflege), denn die meisten alten Menschen in der Region haben nicht die Mittel, diese auf dem Markt zu kaufen.

In der Region lässt sich eine langsame Anpassung der Gesundheitssysteme an die Anforderungen aus dem demografischen, epidemiologischen und technologischen Wandel beobachten, der zu einem Anstieg der Gesundheitskosten und -ausgaben geführt hat. Aber weiterhin hat der größte Teil der Bevölkerung keinen Zugang zu einem geeigneten und qualitativ guten Gesundheitssystem. Außerdem ist die medizinische Versorgung sehr ungleich verteilt. Selbst wenn die alten Menschen eine Krankenversicherung haben, führt das nicht automatisch dazu, dass sie eine medizinische Einrichtung aufsuchen können, wenn sie sie benötigen. Die gegenwärtige Generation der Alten hat große Schwierigkeiten, Medikamente zu erschwinglichen Kosten zu erwerben und die Gesundheitsversorgung zu bekommen, die sie benötigen, oder auch eine geprüfte und kontrollierte Langzeitpflege zu erhalten, bei der ihre Rechte und Grundfreiheiten auch bei steigender Abhängigkeit respektiert werden. All dies sind große Sorgen, die ihre Autonomie sehr einschränken.

Auf der anderen Seite haben sich auch die Familienstrukturen durch den demografischen Wandel sehr verändert. Bisher waren es die Familien, die ihren Mitgliedern im Alter emotionale, ökonomische und soziale Unterstützung gewährten, weshalb sie allgemein als die soziale Entität angesehen werden, die für ihre Pflege und soziale Integration zuständig ist (Villa, 2004). Jedoch haben die stetige Verringerung der Familiengröße, die extreme soziale Diversifizierung der letzten Jahrzehnte, die Überforderung durch ständig neue Aufgaben, weil die Staaten ihrer Verantwortung in immer mehr Bereichen nicht mehr nachkommen, dazu geführt, dass die Institution Familie diese exzessiven Forderungen nicht mehr erfüllen kann, wenn sie nicht die dafür notwendige Hilfe bekommt.

Die hier beschriebenen Bedingungen treffen auf ein Zukunftsszenario, in dem die über 60-jährige Bevölkerung immer mehr zunimmt, die Gesellschaft immer älter wird und die demografische Abhängigkeit wächst. Zugleich sind die jüngeren Bevölkerungsteile noch nicht alle Teil des Arbeitsmarktes und verfügen nicht über die erforderliche Ausbildung und Produktionskapazität, um von der sogenannten ersten demografischen Dividende zu profitieren, die das wirtschaftliche Wachstum fördert (dadurch dass viele aktive junge Menschen zugleich in den Arbeitsmarkt drängen, während wenig alte Menschen zu versorgen sind). Wenn sich an diesen Verhältnissen nichts ändert, wird das Auswirkungen haben auf die Finanzierung der Sozialsysteme und die Möglichkeiten, durch private und öffentliche Ersparnisse für das Alter vorzusorgen.

Man muss mit der klassischen Vorstellung vom Altern als Problem brechen und darin eine Chance sehen, die durch eine konzertierte und effektive Aktion der öffentlichen Stellen und der BürgerInnen ergriffen werden kann. Bevor die angestrebte Gleichstellung erreichbar wird, gilt es jedoch eine endlose Zahl an Problemen zu lösen. Aber wie es Alicia Bárcena, Geschäftsführerin von CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika), bei der Eröffnung der letzten Sitzungsperiode sagte: „Je mehr die Ungleichheit in unserer Region ansteigt, desto größer wird das Verlangen nach Gleichheit, vor allem, wenn der Verlauf der Geschichte in den Bankrott führt, die Welt in eine Krise taumelt und die Zukunft eine Kehrtwendung einfordert.”

Alte Menschen dürfen nicht außerhalb der Gleichberechtigungsagenda stehen. Nicht nur weil ihr Anteil an der Bevölkerung schnell ansteigt, sondern vor allem weil ihre Ausgrenzung dem Bedürfnis nach demokratischeren und pluralistischeren Gesellschaften entgegenstünde. Die lassen sich nur durch Inklusion und sozialen Zusammenhalt erreichen.

Sandra Huenchuan ist Expertin für soziale Alterungsprozesse bei CELADE, der Abteilung für demografische Entwicklung der CEPAL, einer UN-Organisation zur Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Lateinamerika und der Karibik.