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Angekommen und doch nicht gerettet

Zwei Bücher über Menschen, für die das Exil in Brasilien tödlich endete
Gert Eisenbürger

Der in den USA lebende Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Robert Cohen (Jg. 1941) hat mit seinem 2009 erschienenen Roman „Das Exil der frechen Frauen“ den drei Kommunistinnen Ruth Berlau, Maria Osten und Olga Benario ein literarisches Denkmal gesetzt. Alle drei Frauen wurden 1942 ermordet, Maria Osten wurde Opfer des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion, Ruth Berlau und Olga Benario fielen der Vernichtungsmaschinerie der Nazis zum Opfer.

Insbesondere das Schicksal von Olga Benario hat den Autor weiter beschäftigt und ihn zu zwei weiteren Buchveröffentlichen angeregt. 2013 gab er unter dem Titel „Die Unbeugsamen: Briefwechsel aus Gefängnis und KZ“ die Korrespondenz zwischen Olga Benario und ihrem brasilianischen Mann Luis Carlos Prestes heraus, in diesem Jahr nun das Buch „Der Vorgang Benario. Die Gestapo-Akte 1936-1942“.

Die 1908 als Kind jüdischer Eltern in München geborene Olga Benario zog bereits als 17-Jährige zu ihrem Freund Otto Braun nach Berlin. Dort intensivierte sie ihre bereits in München begonnene Aktivität im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands, der Nachwuchsorganisation der KPD. 1926 wurde sie wegen ihrer politischen Aktivitäten verhaftet und verbrachte zwei Monate in Untersuchungshaft. Später wurde dann Braun inhaftiert. Olga Benario befreite ihn am 11. April 1928 mit einigen ihrer GenossInnen aus dem Gefängnis Moabit und floh mit ihm nach Moskau. In der Sowjetunion wurde sie Kader der Kommunistischen Internationale (Komintern) und erhielt dafür auch eine militärische Ausbildung. 1934 kam sie in Moskau mit Luis Carlos Prestes (1898-1990) zusammen. Der ehemalige Hauptmann der brasilianischen Armee war in seinem Heimatland zu diesem Zeitpunkt bereits eine Legende.

1924 hatte er mit anderen Militärs zum Sturz der oligarchischen Regierung aufgerufen. Das gelang zwar nicht, aber die Machthaber vermochten es bis 1927 auch nicht, die Columna Prestes, die den sie durch das gesamte Land verfolgenden Truppen stets einen Schritt voraus war, zu zerschlagen. Erst als die meisten seiner Mitkämpfer an Cholera erkrankten, musste Prestes aufgeben und floh mit seinen Getreuen ins bolivianische beziehungsweise argentinische Exil. Dort wurde er Kommunist. 1931 ging er nach Moskau, um mit Unterstützung der Komintern einen neuen Aufstand in Brasilien vorzubereiten. Olga Benario und eine Reihe internationale KommunistInnen, darunter die Deutschen Arthur und Elisabeth Ewert, wurden ihm als UnterstützerInnen zugewiesen.

Zwischen Olga Benario und Prestes entwickelte sich bald auch eine Beziehung. Ob die beiden in der Sowjetunion geheiratet haben, wurde später Gegenstand aufgeregter diplomatischer Noten, da Olga Benario als Ehefrau eines Brasilianers die brasilianische Staatsbürgerschaft erworben hätte.

Der Aufstand in Brasilien endete 1935 mit einer schweren Niederlage und lieferte dem rechtspopulistischen Präsidenten Getulio Vargas den Vorwand, eine Repressionswelle gegen die Linke einzuleiten und endgültig eine Diktatur zu errichten. Prestes und Olga Benario konnten zunächst untertauchen, wurden aber im März 1936 verhaftet. Während Prestes in Brasilien inhaftiert wurde (er kam 1945 frei und stand danach 35 Jahre lang an der Spitze der „Brasilianischen Kommunistischen Partei“ PCB) ließ das Vargas-Regime die hochschwangere Olga Benario im September 1936 nach Deutschland deportieren. Das gleiche Schicksal erlitt auch Elisabeth Ewert. Da beide Frauen nicht nur Kommunistinnen, sondern auch Jüdinnen waren, bedeutete das ihr Todesurteil. Elisabeth Ewert starb im Herbst 1939 im KZ Ravensbrück, Olga Benario wurde im April 1942 in Bernburg vergast.

Das Buch „Der Vorgang Benario. Die Gestapo Akte 1936-1942“ ist keine Dokumentensammlung, wie Robert Cohen im Vorwort erläutert: „Die Gestapodokumente bestehen aus ermüdend sich wiederholenden Formeln und Floskeln, stereotypen Wendungen, Abkürzungen und Aktenzeichen, zwischen denen der Sinn des Mitgeteilten zu verschwinden droht, die aber auch selber Teil dieses Sinn sind.“ Deshalb hat er aus den 2000 Blättern der Akte rund 250 ausgewählt und sie gekürzt und sprachlich bearbeitet: „Die Bearbeitung sollte weder die Absurditäten und Banalitäten zum Verschwinden bringen, noch die Nazisprache glätten, sondern im Gegenteil ihre Spezifik deutlicher hervortreten lassen.“ (S. 29)

Das ist ihm augenscheinlich gelungen. Wenn man die Geschichte Olga Benarios kennt (wenn das nicht der Fall ist, kennt man sie spätestens nach der Lektüre der lesenswerten Einleitung), weiß man, dass am Ende des Buches deren Ermordung steht, die Akte also die Vorbereitung eines Mordes beschreibt. Weil an der Haft und der Ermordung nichts „korrekt“ war, verstören die einzelnen Aktenvermerke, indem sie bürokratische Korrektheit und Normalität suggerieren. Wir lesen, was die ihr zugesandten Päckchen enthielten, was in den an sie gerichteten beziehungsweise von ihr geschriebenen Briefe stand, welche Bücher sie bekommen durfte und welche nicht, ob sie eine Zeitung beziehen konnte (man gestattete ihr ein Abo der NS-Postille „Völkischer Beobachter“) und wie diese zu bestellen und bezahlen war. Die Gestapo forschte sogar ernsthaft nach dem Verbleib von zwei Büchern, die zugelassen wurden, aber offensichtlich beim Versand verloren gegangen sind. Genauso bürokratisch-formal sind die medizinischen Berichte über den Verlauf von Schwangerschaft, Geburt und der Entwicklung des Babys, um das man sich sorgte, weil man negative Schlagzeilen in der internationalen Presse befürchtete, sollte ihm etwas zustoßen. Die immer wieder gestellte Frage, ob eine Ehe zwischen Olga Benario und Prestes bestehe, war nicht nur diplomatisch heikel, weil sie dadurch Bürgerin eines anderen Staates gewesen wäre, sondern hat ganz offensichtlich die sexuellen Phantasien der Gestapo-Männer beflügelt. Da wird einmal gemutmaßt, sie sei Prestes nur als Mitarbeiterin „zur Verfügung gestellt worden“, das andere Mal, die Eheschließung sei „aller Wahrscheinlichkeit nach vorgetäuscht, denn die Benario kann sich nicht einmal auf den Hochzeitstag besinnen, der doch immerhin insbesondere für eine Frau ein Ereignis ist“. Dann vermutet man, die Beziehung beruhe „auf rein erotischer Basis“ oder sie dürfte mit Prestes „als dessen hervorragende politische Gehilfin in wilder Ehe gelebt haben“. Da sie offensichtlich glauben, dass Menschen kommunistischer Überzeugung und/oder jüdischer Herkunft einen Hang zu Promiskuität haben, artikulieren die geheimen Staatspolizisten auch immer wieder Zweifel, ob Prestes der Vater des Kindes von Olga Benario ist, müssen das aber akzeptieren, weil der gegenüber den brasilianischen Behörden die Vaterschaft anerkannt hat und die beiden zum Zeitpunkt der Empfängnis nachweislich zusammengelebt haben.

Zwischen den bürokratischen Vermerken flammt immer wieder der Sadismus der Gestapo-Schergen auf, wenn sie anordneten, die „verstockte Kommunistin“ und „Volljüdin“ Olga Benario strenger zu behandeln, ihr mit der Wegnahme ihres Kindes drohten und ihr die „Vergünstigungen“, wie den Zugang zu Büchern, den „Völkischen Beobachter“ oder die Erlaubnis, Briefe zu schreiben und zu empfangen, einschränkten oder strichen.
Es finden sich auch mehrfach Verhörprotokolle, die belegen, dass alle Versuche der Gestapo, Olga Benario umzudrehen und zu Aussagen zu bewegen, scheiterten. Obwohl die Gestapo das sicherlich niemals vorhatte, zeichnet sie in der Akte das Bild einer mutigen Frau und einer liebevollen Mutter, die auch in der Haft ihre Würde verteidigte, ihre Peiniger immer spüren ließ, dass sie sie verachtete, und selbst in schwierigsten Momenten standhaft blieb.

Bemerkenswert ist, wie ernst die Gestapo die internationalen Solidaritätskampagnen für die Freilassung Olga Benarios nahm. Entsprechende Aufrufe und Briefe finden sich immer wieder in der Akte und bis 1938/39 waren die ausländischen Reaktionen von Menschenrechtsgruppen den Nazis erkennbar unangenehm. Zwar konnten die Solidaritätsaktionen die Ermordung Olga Benarios nicht verhindern (nach Beginn des Krieges hatte sich die Situation ohnehin grundlegend geändert), aber sie trugen immerhin mit dazu dabei, dass Anita Leocádia, das Kind von Olga Benario und Luis Carlos Prestes, nicht das gleiche Schicksal wie ihre Mutter erlitt, sondern im Januar 1938 im Alter von 14 Monaten in Berlin ihrer brasilianischen Großmutter übergeben wurde. Anita Leocádia Prestes lebt heute 80jährig in Rio de Janeiro.

Während Olga Benario nach Brasilien ging, um dort an der Vorbereitung eines Aufstandes gegen den Mussolini-Bewunderer Getulio Vargas mitzuwirken, sah Stefan Zweig wie Tausende anderer verzweifelter Flüchtlinge in Europa in Brasilien weniger eine Diktatur als ein Land, in dem sie dem Terror der Nazis entkommen konnten. Obwohl Brasilien in den dreißiger Jahren eine stark antisemitisch geprägte Einwanderungspolitik betrieb, fanden doch mehr als 10 000 jüdische Flüchtlinge dort Aufnahme, auch wenn viele dafür ihre jüdische Herkunft verschweigen und ihr Visum als Katholiken oder Protestanten beantragen mussten. Der international bekannte Autor Stefan Zweig hatte dieses Problem nicht, er bekam auch als Jude schnell einen unbefristeten Aufenthaltsstatus, weil man von ihm die Veröffentlichung eines Buches mit einer positiven Darstellung Brasiliens erwartete. Die Zweigs ließen sich 1940 im 60 Kilometer nördlich von Rio de Janerio gelegenen Petropolis nieder. Die auf 800 Meter Höhe gelegene Stadt war bei EuropäerInnen beliebt, weil es dort nicht so heiß war wie in der damaligen brasilianischen Metropole. Doch weder die Schönheit der Natur noch das angenehme Klima erleichterten es dem melancholischen Schriftsteller Zweig, sich in Brasilien heimisch zu fühlen. Seine österreichische Heimat fehlte ihm ebenso wie sein deutschsprachiges Lesepublikum. In der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1942 nahm er sich in Petropolis zusammen mit seiner Frau Lotte das Leben.

Dabei gehörte Stefan Zweig nicht zu jenen Flüchtlingen, die im Exil völlig vereinsamten. Davon zeugt „Sein letztes Adressbuch“, das jüngst im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen ist und für jemanden, der auf der Flucht ist, überraschend viele Einträge enthält. Was aber kann einE LeserIn von heute mit einem Adressbuch von 1941/42 anfangen? Wenn es tatsächlich nur die Adressen und Telefonnummern von Zweigs Bekannten enthielte, vermutlich wenig, es sei denn, jemand beschäftigt sich intensiv mit dem Leben und Werk Zweigs.

Aber das sehr schön gestaltete Buch enthält nicht nur ein komplettes Faksimile des handschriftlichen Adressbuchs, sondern erzählt zu jedem Eintrag eine Geschichte, manchmal nur wenige Zeilen mit den wichtigsten biographischen Angaben, manchmal mehrere Seiten über das Leben der Person und ihre Beziehung zu Stefan Zweig. Zudem sind dem Adressbuch drei interessante Essays über den Bekanntenkreis Zweigs während seines Exils, über die „fehlenden Namen“, das heißt diejenigen, mit denen Zweig früher Umgang hatte, zu denen der Kontakt aber offenbar abgebrochen war oder wurde, und eine kurze Biographie Zweigs.

Ähnlich wie die Gestapo-Akte im Fall von Olga Benario bietet auch die Veröffentlichung eines Adressbuches einen ganz besonderen Zugang zum Schicksal eines Menschen und der Umgebung, in der er gelebt hat. Über Zweig erfahren wir so, dass er objektiv keineswegs vereinsamt war, sondern mit zahlreichen Menschen in Kontakt stand, die es aber nicht vermochten, die Mauer von Verzweiflung und Depression, die ihn zunehmend umgab, einzureißen.