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Teuflische Schatten

Ein deutschsprachiger Roman über Guatemala
Christiane Treeck

Im vergangenen Oktober brachte der Horlemann-Verlag eine Rarität heraus: ein aktuelles belletristisches Buch über Guatemala. Besser gesagt: über das Phänomen einer der großen Jugendbanden, der Mara Salvatrucha oder auch „MS 13“, die einerseits tatsächlich in hohem Maße in die herrschende Kriminalität Mittelamerikas und somit auch Guatemalas involviert sind, die jedoch auch seit geraumer Zeit häufig als die vermeintlich Hauptverantwortlichen zur Verschleierung eben dieser politisch-sozialen Gegebenheiten instrumentalisiert und stilisiert werden.

Der Autor des Buches, Andreas Böhm, 1965 in Bern in der Schweiz geboren, lebt als freier Autor und Journalist überwiegend in Guatemala, wo er auch Journalistik studiert hat.

Böhm selbst beschreibt den Inhalt seines Buches „Teuflische Schatten. Zwei Frauen gegen die Mara Salvatrucha“ in einer E-Mail so: „Die Handlung dreht sich um die Themen Menschenrechte und Bandenkriminalität in Mittelamerika. Anhand des Schicksals zweier mutiger Frauen erzählt es die aktuelle und wahre Geschichte einer guatemaltekischen Familie, deren Leben durch die Begegnung mit der Mara Salvatrucha in einen tödlichen Strudel gerät. Eine abwechslungsreiche und teilweise sehr dramatische Lektüre, die auch dazu dienen soll, auf das Klima von Gewalt und Straflosigkeit in vielen lateinamerikanischen Staaten aufmerksam zu machen. (…)“ 

Die Geschichte, wie sie der Verlag komprimiert: „(…) Die junge Sandra verliebt sich in Tino, ein Mitglied der Bande, und verbringt mehrere Jahre an seiner Seite, dem Tod oft näher als dem Leben. Ihre Mutter María Bernarda stemmt sich schon früh gegen diese Beziehung, denn sie ahnt die Bedrohung für ihre gesamte Familie. Sie arbeitet mit der Polizei zusammen und nimmt sogar aktiv an Gerichtsverfahren gegen Bandenmitglieder teil. Ihren Mut muss sie im Jahr 2007 mit dem Leben bezahlen. Für Sandra ist dies der Scheidepunkt, an dem sie ihr jahrelanges Schweigen aufgibt und endgültig mit der Mara Salvatrucha bricht. Sie sagt gegen die Mörder ihrer Mutter aus, obwohl sie weiß, dass sie damit selbst zur Zielscheibe wird. Noch heute schwebt die mögliche Rache der Mara Salvatrucha wie ein böser Schatten über ihrem Leben.“

Grundlage des Buches sind, so die Erläuterungen, eine Reihe von Interviews, die Andreas Böhm mit jener Sandra López geführt hat. Der Aufbau des Buches besteht in der ausführlichen Rekonstruktion der Biographie von Sandra in gewöhnlich ein bis zu sechs Jahre umspannenden Kapiteln. Nach einem lobenden und in die Thematik grob einführenden, wesentliche Aspekte benennenden Vorwort des in Guatemala lebenden und in der hiesigen „Guatemala-Szene“ bekannten Journalisten Andreas Boueke beschreibt Böhm seinen ersten Besuch bei Sandra López in Palencia aus seiner eigenen Perspektive. Danach beginnt gleich der Rückblick auf das Leben der Interviewten. Über einige Kapitel hinweg irritierte bis verärgerte mich der mir unglaubwürdig scheinende Detailreichtum des Berichtes, ich erwartete wohl eine Art biographische Erzählung im O-Ton, die meines Erachtens keine für die Vorstellungskraft von Guatemala-Neulingen nötigen Erläuterungen und Beschreibungen des Lokalkolorits zu beinhalten hat. Erst mit der Zeit ergriff mich dann der Sog der spannungsreich und lebendig geschriebenen Geschichte und versetzte mich tatsächlich in die mir vertraute guatemaltekische Wirklichkeit mit ihren Gerüchen, Landschaften, Klimaeindrücken und Geschmäckern. Sandra scheint in ihrem Bericht über ihr Leben nichts auszulassen und erwartet kein Mitleid angesichts ihrer familiären Verhältnisse und den daraus entstehenden Lebensumständen mit anhaltenden Entbehrungen, Gewalterfahrungen und Schicksalsschlägen, mit denen sie von klein auf konfrontiert ist und von denen sie sich nicht unterkriegen lässt.

Andreas Böhm gelingt es exemplarisch und persönlich, einen realitätsnahen Einblick in den Alltag vieler guatemaltekischer Familien zu geben. Gleichzeitig ist dieser Einblick aufgrund der zugrundeliegenden Subjektivität der Berichtenden eingeschränkt und muss es sein, denn die vielen Zusammenhänge und Hintergründe der Geflechte von Banden, Polizei, Drogenclans, Politik und Wirtschaft, die in den mittelamerikanischen Ländern wuchern, sind nicht nur für diese Familien undurchschaubar. Zudem wird klar, dass sich Böhm auf eben Sandras Perspektive konzentriert, an der er das Dilemma der Gratwanderung der Heranwachsenden im Getriebe von Gewalt und sozialer Benachteiligung veranschaulicht. Familienfotos und Kopien von Zeitungsartikeln über einige der im Buch genannten Festnahmen bzw. Tode von Bandenmitgliedern stellen zum Ende des Berichts klar, dass es sich in diesem um tatsächliche Geschehnisse handelt.

Ohne die kriminelle Gewalt, die von den Jugendbanden in Guatemala und den Nachbarländern exerziert wird, gutheißen oder gar beschönigen zu wollen, tönt mir auch nach der Lektüre der Titel des Buches „Teuflische Schatten. Zwei Frauen gegen die Mara Salvatrucha“ immer noch als reißerisch, das Phänomen der Gangs in Mittelamerika zu sehr vereinfachend und plakativ. Entgegen des entstehenden Eindrucks und der in der Öffentlichkeit üblichen Darstellung stellt sich nämlich beim näheren Hinsehen einmal mehr heraus, dass man nicht verallgemeinernd von „den“ Jugendbanden sprechen kann. Zu viele Grautöne und Verflechtungen zu anderen Gruppierungen verwischen die feststellbaren Grenzen. So umfasst die populäre Bezeichnung „Mara“ sowohl Cliquen Jugendlicher, die Dritten gegenüber harmlos sich die Langeweile auf der Straße vertreiben, als auch den Prinzipien des Organisierten Verbrechens gehorchende Auftragskillergruppen, deren Mitgliedermehrheit allein vom Alter her längst nicht mehr als „Jugendliche“ tituliert werden können. 

Nach einem gelungenen Hauptteil des Buches mit der biographischen Erzählung von Sandra, versucht Andreas Böhm im Abspann eine historische Einordnung der vorliegenden Gewaltgeschichte in die Geschichte der Gewalt Guatemalas. Dabei stoßen zum Teil die Wortwahl (z.B. „indianische Bevölkerung“) unangenehm auf sowie die tendenziöse bis falsche Darstellung des internen bewaffneten Konflikts – für Böhm ist dieser in Guatemala anerkannte Begriff euphemistisch für den von ihm benannten Bürgerkrieg, in dem „(…) marxistische Guerillagruppen den meist von autoritären Armee-Generälen geführten Staat mit Waffengewalt [bekämpften]“. Anstatt von selbst durch die von der UNO begleitete Wahrheitskommission (CEH) berichteten 200 000 Toten und Verschwundenen und über eine Million Vertriebenen spricht Böhm von „an die 150 000 Menschen, die ihr Leben verloren haben.“ Und aus den mittlerweile mindestens 665 bekannten und von der CEH bereits mit 444 rapportierten Massakern an indigenen Dörfern macht der Autor „200 indianische Dörfer“, die von der Armee zerstört worden seien. 

Aussagelos und somit fragwürdig erscheint mir auch die Argumentation Böhms, dass das „ethnische Element eine nicht unwichtige Rolle“ dabei spiele, dass sich die Jugendlichen von den herrschenden Gesellschaftsschichten diskriminiert fühlten, „denn bei den meisten Bandenmitgliedern handelt es sich um Maya oder Mestizen.“ Zum einen – ohne darüber streiten zu wollen, dass in Guatemala die lateinamerikanischen „Mestizen“ als „Ladinos/as“ bezeichnet werden – besteht der Diskriminierungsabgrund ja gerade zwischen Indígenas und Ladinas/os, derweil letztere die benannten „herrschenden Gesellschaftsschichten“ ausmachen. Dass es „Maya oder Mestizen“ sind, die die Bandenmitglieder seien, ist indes kein „ethnisches“ Phänomen, sondern Spiegel der gesellschaftlichen Mischung. Die von den Jugendlichen empfundene Ausgrenzung beruht letztlich auf der alle Jugendlichen betreffenden fehlenden Sozialpolitik. Diese wird von all jenen unabhängig der kulturellen Zugehörigkeit erlebt, deren Angehörige finanziell nicht in der Lage sind, ihnen Alternativen zu bieten. Zum anderen ist die Heranziehung des vermeintlich „ethnischen Elements“ insofern hinfällig, da schon die zahlenmäßigen Angaben der mutmaßlichen Bandenmitglieder stets auf Schätzungen beruhen. Über die „ethnische“ Zugehörigkeit gibt es erst recht keine stichhaltigen Erhebungen. Letztlich können also die Mitglieder der Banden nur „Maya oder Mestizen“ sein. 

Unpassend erscheint nicht zuletzt der Hinweis des Autors, dass „Guatemala nach wie vor eines der faszinierendsten Reiseziele dieser Welt ist, welches jährlich Hunderttausende von Touristen anzieht. Unberührte (…) Urwälder, ein imposantes Hochland mit (…) pittoresken Dörfern, in denen die ursprüngliche Maya-Kultur mit ihren farbenprächtigen Kostümen noch lebendiger Alltag ist, (…)“ – mit dieser folkloristischen Beschreibung begibt sich Böhm auf das Niveau eines Hochglanz-Reiseprospekts und lässt jeglichen Respekt vor der Realität der Bevölkerung vermissen. Ähnlich arrogant wirkt sein Resümee im Anschluss daran, dass „auch für die Guatemalteken gelte“: „Ein besseres Land wird einem nicht geschenkt, man muss täglich daran arbeiten. Sie werden lernen müssen, sich nicht mehr von einer korrupten Politikerklasse manipulieren zu lassen, sondern Apathie und Angst zu überwinden, um sich aktiv für ihr Land einzusetzen. (…)“

Ja, Böhm schildert alltagsnah, respektvoll und einfühlsam – deswegen wohl mein Stolpern über die benannten Unbeholfenheiten im Epilog – die Lebensumstände einer von vielen guatemaltekischen Familien in der guatemaltekischen Realität, zu der es neben der krassen sozialen Ungleichheit gehört, dass viele PolizistInnen korrupt sind, das Justizsystem mehr als unzulänglich ist und die politischen Verantwortlichen mehrheitlich in erster Linie ihre persönlichen Interessen verfolgen denn eine Idee von politischer Verantwortung haben. Und man muss sich als BürgerIn dagegen unter Lebensgefahr auflehnen, um zu seinem/ ihrem Recht zu kommen. Nichtsdestotrotz ist es in meinen Augen etwas irreführend bis vermessen, dieses Buch als eines zu beschreiben, dessen Handlung sich um das Thema Menschenrechte dreht. 

Dennoch, Böhms Buch ist definitiv eine lohnenswerte Lektüre, die unromantisch die Lebenswelt der guatemaltekischen Unterschicht und somit gesellschaftlichen Mehrheit an einem Beispiel darstellt und auch den Guatemala-Fremden eine wirklichkeitsnahe Idee über den Alltag in einem Land wie Guatemala verschafft. Die dafür nötige Vorstellungskraft der LeserInnen wird dabei angeregt durch die genaue Beschreibung dieser Wirklichkeit. Zusammen mit dem flüssigen Erzählstil und der gelungenen Dramaturgie erlaubt Böhm der Leserin dadurch den Eindruck, ganz nah am Geschehen dran zu sein und es fast fühlbar mitzuerleben.

Andreas Böhm – Teuflische Schatten. Zwei Frauen gegen die Mara Salvatrucha, 298 Seiten mit s/w Fotos, Horlemann Verlag, Berlin 2011, 19,90 Euro

Christiane Treeck, Dipl.-Psychologin, langjährige Redakteurin des Nachrichtendienstes über Guatemala ¡Fijáte!, promoviert politikwissenschaftlich über die subjektiven Entscheidungshintergründe ehemaliger Jugendbandenmitglieder in Guatemala.