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Cumbia ≠ Cumbia ≠ Cumbia

Ein städtisches Musikgenre und sein politischer Wandel am Beispiel Peru

Cumbia ist nicht gleich Cumbia. Mal war sie Tanzvergnügen der Mittelschicht, mal die Musik der armen Vorstädte, dann wieder besonders andin, immer wieder sexistisch prollig, inzwischen mitunter Punk. Der Musikethnologe Julio Mendívil streift durch die Geschichte der Cumbia in seinem Heimatland Peru.

Julio Mendívil

Vor einigen Tagen war ich überrascht, im Radio „La cumbia di chi cambia“ zu hören, den neuen Hit von Adriano Celentano, in dem der berühmte italienische Barde die Polit-Skandale seines Landes kritisiert. Nicht gelogen: Ich war nicht verwundert, dass es in Italien politische Skandale gibt; noch weniger, dass die italienischen Liedermacher diese zum Thema machen, denn der soziale Protest war im italienischen Liedgut immer präsent. Dafür bürgen Interpreten vom Format eines Pino Daniele, Fabrizio De André oder Claudio Lolli, um nur einige Beispiele zu nennen. Ich war vor allem davon überrascht, dass Adriano Celentano seinen politischen Zwist im Cumbia-Rhythmus präsentiert. Das ist außerdem kein Einzelfall. Die Cumbia, wie Rap oder Heavy Metal, ertönt in dieser postmodernen Welt allerorten. Was bei der plötzlichen Cumbia-Welle aber am meisten erstaunt, ist der Anklang von popularem Widerstand, der dabei mitschwingt. Wie konnte dies geschehen?

In Deutschland sind es Gruppen wie La Papa Verde oder Los Chupacabras, die von „Cumbias ohne Grenzen“ singen. In Frankreich ist es Sergent García, in Argentinien sind es die Kumbia Nabis oder Los Dragones, die Revolutionen und Widerstand zum Sound von tumba, timbales1 und güiros2 propagieren. Was ist mit der Cumbia, zunächst eine traditionelle afrokolumbianische Musik, passiert, dass sie zu einem Symbol der lateinamerikanischen Kulturrevolution geworden ist? 

Die Wendung, die die Cumbia in der postmodernen Musiklandschaft genommen hat, ist nicht leicht zu erklären. Aber man kann durchaus behaupten, dass das Prestige der Cumbia hier in Europa mit der tiefen Verwurzelung in der Bevölkerung zu tun hat, die das Genre fast auf dem gesamten amerikanischen Kontinent kennzeichnet. Die Cumbia ist heute ein internationales Genre mit unterschiedlichen und voneinander abweichenden Facetten, sei es in der kolumbianischen Karibikregion, wo ihr eigentlicher Entstehungsort ist, im „sehr mexikanischen“ Monterrey, in Buenos Aires, Santiago, Lima oder in Anden-Städten wie Huancayo oder La Paz. Nichtsdestotrotz wird diese Musik, die heute als der direkteste Ausdruck der Bevölkerung gilt, nicht immer als würdig angesehen, den Kampf der lateinamerikanischen Armen zu repräsentieren. Beim Versuch, das Auftauchen einer Cumbia mit politischen Anklängen zu erklären – ein Phänomen, das sich sowohl in Europa wie in Lateinamerika zeigt -, ist es geraten, die lokalen Entwicklungen unter die Lupe zu nehmen, die die Cumbia in unseren, also den lateinamerikanischen, Ländern, verwandelt haben. 

Ich habe weder das Wissen noch die Autorität, um das gesamte Panorama der Cumbia in Lateinamerika zu erfassen. Dafür wäre eine beachtliche interdisziplinäre Anstrengung erforderlich. Deshalb möchte ich in diesem Beitrag – sozusagen als Beispiel – ausführen, wie die Cumbia über die Jahre hinweg in der Vorstellungswelt meines Heimatlandes Peru ihren gesellschaftlichen Rang verändert hat. Mir liegt daran aufzuzeigen, dass die Cumbia ihre Position in der peruanischen Gesellschaft ständig ändert und dass sie infolgedessen auch keine „eigenen“ Werte in sich trägt, die sie volksnäher oder politischer als andere musikalische Ausdrucksformen machen. Bei meinem Streifzug werde ich mich sowohl auf Fachliteratur als auch auf meine persönlichen Erinnerungen beziehen. Von Anfang an möchte ich klarstellen, dass meine Sicht der Entwicklung der peruanischen Cumbia als das verstanden werden soll, was sie ist: eine persönliche und subjektive Sicht. 

Die Cumbia, die ich in meiner Kindheit kennengelernt habe, war nicht mit den einfachen Leuten, sondern mit dem Mittelstand assoziiert. Ich erinnere mich, dass nach dem Sieg der cubanischen Revolution und der Wirtschaftsblockade, der das Castro-Regime danach unterworfen wurde, die Schallplattenindustrie zur kolumbianischen Cumbia gegriffen hat, um das Loch, das die cubanische Musikproduktion hinterlassen hatte, zu stopfen. Die Sonora Santanera und das Orchester von Lucho Bermúdez machten in den 60er Jahren kolumbianische Themen wie „El orangután“, „La pollera colorá“, „La piragua“ und andere Cumbias bekannt, allerdings nicht im traditionellen Cumbia-Stil – mit Trommeln, flauta de millo (Rohrflöte) und Gesang –, sondern mit Arrangements für Blechblasinstrumente und „tropikalischer“ Percussion – tumbas, bongos und timbales. Sie wurde damals just auch als música tropical, tropische Musik, bezeichnet, die Zuschreibung, mit der die karibische Musik in Hollywood vermarktet wurde. Die Präsenz der Cumbia in den Medien war in diesen Jahren so groß, dass sie bald von den unterschiedlichen sozialen Gruppen überall in Peru gehört wurde. Folge davon war, dass in den peruanischen Andendörfern die Blasmusikgruppen neben huaynos3, marineras4 und Walzern kolumbianische Cumbias zu spielen begannen, wie es der peruanische Musikethnologe Raúl Romero in seinem Buch Andinos y tropicales vermerkt hat.

Aber diese Cumbias, die man in den Anden spielte, fanden auf dem Schallplattenmarkt kein Echo. Es war ein anderer Cumbia-Typ, der sich allmählich in der urbanen Musikszene durchsetzte. Ich meine damit die ersten Gruppen peruanischer Cumbia, die in den 60er Jahren entstanden, wie z.B. Enrique Delgado und Los Destellos, die erstmalig eine andere Zusammensetzung aufwies als die, die aus Kolumbien gekommen war: mit E-Gitarren (oft verzerrt mit Effektgeräten), E-Bass und timbales. Diese Instrumentierung, die klar vom britischen Mersey Beat beeinflusst war, setzte sich schnell durch und wurde typisch für die peruanische Cumbia, die es bis in die Aufnahmestudios schaffte. Die Bedeutung von Enrique Delgado und der Gruppe Los Destellos beschränkte sich aber nicht nur auf die instrumentale Zusammensetzung der peruanischen Cumbia, sondern beeinflusste auch die Musikform als solche: Sie experimentierten als erste mit peruanischen Rhythmen und vermischten klassische andine Themen, die auf der pentatonischen Molltonleiter gründen, mit dem afrokolumbianischen Cumbia-Rhythmus. Es ist richtig, dass diese Musik bei den einfachen Leuten beliebt war, aber – zumindest in meiner Erinnerung – wurde sie auch vom Mittelstand in der Hauptstadt gehört. Dieser sah sie als eine Form moderner Musik, d.h. als urbane Pop-Musik, die nach dem Vierergespann aus Liverpool kam.

Aber wenn die peruanische Cumbia mit Enrique Delgado und der Gruppe Los Destellos schon eine Verheißung war, so führte die Suche nach einem neuen Sound in den 70er Jahren dazu, dass die Cumbia einen eigenen Charakter bekam. Gruppen wie Los Pakines und Los Mirlos in Lima verwendeten das Format, das aus Kolumbien gekommen war, und initiierten einen eigenen Lima-Stil. Unterdessen suchte die Gruppe Juaneco y su Combo Inspiration in der Musik ihrer Region und kreierte die amazonische Cumbia. Aber zweifelsohne war es die Band El Grupo Celeste, die einen Stil schuf, der die Entwicklung der Cumbia in Peru entscheidend geprägt hat: die andine Cumbia. El Grupo Celeste nahm zahlreiche Elemente der Andenmusik auf, wie die dominierenden Molltonarten und die pentatonischen Melodien, und machte die Cumbia in den Großstädten Perus, die voll von Zuwanderern aus den Andendörfern waren, zur Musik der kleinen Leute. Arturo Quispe, einer der wichtigsten Cumbia-Kenner, sagt in seinem berühmten Essay La cultura chicha en el Perú, dass dieser musikalische Wandel eine klare gesellschaftliche Verlagerung zur Folge hatte, denn die Cumbia wurde in dieser Generation zur Musik der BewohnerInnen der Armenviertel, die in Peru pueblos jóvenes genannt werden. Dies spiegelt sich sowohl in den Texten als auch in der kulturellen Vorstellungswelt wider. 

In den 80er Jahren wurde die Cumbia mit Gruppen wie Chacalón y La Nueva Crema, Los Shapis, Grupo Alegría, Pintura Roja, Génesis und Los Walkers noch populärer und wurde dann als andines Musikgenre und ausschließlich urbane und populäre Ausdrucksform betrachtet. Um den Erfolg abzusichern, griffen viele dieser Gruppen auf eine einfache Formel zurück: Sie interpretierten einen erfolgreichen huayno – das berühmteste andine Musikgenre – mit Cumbia-Rhythmus. Andere, wie die Bands Los Shapis oder Grupo Alegría, nahmen die Strukturen der Andenmusik, um eigene Themen zu komponieren und über die Nöte und Kämpfe der Zuwandererfamilien in den Küstenstädten zu singen. Es ist symptomatisch, dass sich diese Gruppen bemühten, sich von der Bezeichnung „Cumbia“ zu trennen. Cumbia wurde durch „Chicha“ ersetzt, dem Namen des Inka-Getränks aus Mais, das auch heute noch in den Anden zubereitet wird. Die Volksetymologie hat diese Bezeichnung auf einen Huayno der Gruppe Los Demonios del Mantaro mit dem Titel „La chichera“ zurückgeführt. Dabei begleitete dieses Orchester die Andenmelodie mit maracas (Rasseln) und timbales, was der bekannte Huayno-Interpret Ernesto Sánchez Fajardo, el Jilguero del Huascarán, bereits mit Erfolg ausprobiert hatte. 

Heute ist es unmöglich nachzuvollziehen, wie der Name wirklich entstanden ist. Jedoch kann man sehr wohl sagen, dass die Chicha zu einem Massenphänomen geworden war und es in jenen Jahren schaffte, das Interesse der linken peruanischen Intellektuellen zu wecken. Der Anthropologe Carlos Iván Degregori definierte sie als Musikgenre, das am besten die peruanidad, die peruanische Eigenheit, ausdrückt, weil sie moderne bzw. westliche Elemente (die E-Gitarre), andine Elemente (die pentatonischen Melodien) und afrikanische Elemente (die tropische Percussion) zusammenbringt. Von diesem intellektuellen Interesse beeinflusst, versuchten Los Shapis und andere Andengruppen eine neue Bezeichnung für die Definition ihrer Musik durchzusetzen, denn das Wort Chicha hatte für viele den Beiklang von „kulturell minderwertig“, oder, wie Quispe sagt, war ein Synonym für das Informelle, schlecht Gemachte, oder habe sogar den Anklang von „verwahrlost“. So wurde aus der Chicha die Cumbia Tropical Andina, die „tropikalische“ Andencumbia, oder ganz einfach die Cumbia Peruana, die peruanische Cumbia.

Aber die Koketterie der intellektuellen Elite mit der Cumbia war nur eine Eintagsfliege. Auf der einen Seite gelang es der apristischen Regierung von Alán García sich den volksnahen Charakter der Cumbiabewegung anzueignen: Sie vergab so genannte Chicha-Kredite an provinzielle Kleinunternehmer und Straßenverkäufer. Auf der anderen Seite zeigte der bewaffnete Binnenkonflikt, der von Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) ausgelöst worden war, dass die Cumbia nicht beanspruchte, der Soundtrack der Revolution zu sein, sondern vielmehr der des Kleinunternehmens.

In den 90er Jahren erreichte das Genre mit der so genannten Technocumbia einen neuen Höhepunkt. Alberto Fujimori erkor sie zur offiziellen Musik der Wahlkampagne, mit der er seine Diktatur fortsetzen wollte. Vom Staatsapparat unterstützt füllten Sängerinnen wie Rossy War oder Ruth Karina den Raum, den die Andencumbia-Gruppen hinterlassen hatten. Beide Interpretinnen sind für diesen neuen Wandel paradigmatisch: Sie reformierten die Cumbia musikalisch, indem sie Einflüsse des Tex-Mex-Sounds von Selena aufnahmen und so einen Prozess der desandinización der peruanischen Cumbia initiierten, also sie ihres Anden-Charakters beraubten. Musikalisch bedeutete dieser Umschwung ein Verdrängen der E-Gitarre, die die Cumbia seit Los Destellos geprägt hatte, um den Keyboards und dem elektronischen Schlagzeug mehr Präsenz zu verschaffen. Ein anderes Merkmal dieser Strömung war der systematische Einsatz der weiblichen Sinnlichkeit – die bis dahin im Genre nicht ausgebeutet worden war –, die nun bei Konzerten und in den Texten in den Vordergrund rückte. So wurde das Bild des strammen Provinzlers, das die andine Chicha geprägt hatte, von dem der „feurigen“ Sängerin, mit knappen Kleidern und herausforderndem Blick, ersetzt. Mit diesem Wandel begann auch die Mittelschicht, die peruanische Cumbia zu tanzen, wenn auch mit einer gewissen ironischen Distanz. Diese Entwicklung wurde durch die Präsenz von argentinischen oder bolivianischen Boy Groups verstärkt.

Aber trotz der Instrumentalisierung durch die Fujimori-Diktatur und trotz der konservativen Akzente einiger Interpreten hat sich die Cumbia als ein Genre des Marginalen erhalten und ist deshalb weiterhin die Musik von MigrantInnen aus den Anden und von anderen Armen in der Hauptstadt Lima. Deshalb hat der andine Punk-Rock von Gruppen, die aus dem armen Milieu stammen, wie etwa Los Mojarras oder La Sarita, die Cumbia als kulturellen Bezugspunkt genommen, um die bürgerliche Kultur Limas zu provozieren und aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mit unbeugsamer Haltung holen diese Punk-Gruppen die fortschrittlichen Aspekte der Cumbiabewegung wieder hervor – ihren volksnahen Charakter, ihre proletarische oder informelle Vergangenheit –, um den Kampf der Andenvölker zu repräsentieren und gegen die Ungerechtigkeit in unseren Ländern anzusingen. Ich glaube, dass es dieser Kampfgeist ist, den Künstler wie La Papa Verde, Sergent García oder Adriano Celentano in ihren Liedern aufnehmen, obwohl die Cumbia, ehrlich gesagt, nicht nur die Stimme der Mittellosen ausdrückt und obwohl sie, wie ich hier versucht habe aufzuzeigen, auch schon dumme Loblieder auf die Mittelschichten, die Fujimori-Diktatur und auf die üppigen Hüften von Latinas besungen hat.

  • 1. verschiedene cubanische Trommeln
  • 2. „Ratschgurke“, Percussioninstrument
  • 3. Traditionelle Musik aus den Anden, vor allem in Bolivien und Peru populär
  • 4. Musik und Tanz von der Nordküste Perus

Julio Mendívil ist derzeitiger Vertretungsprofessor für Musikethnologie an der Universität Köln und im Vorstand der IASPM-LA (International Association for the Study of Popular Music/Latinamerica) • Übersetzung: Bettina Reis