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Fundstücke aus der Zukunft

Lateinamerikanische KünstlerInnen auf der documenta 13

Alle fünf Jahre pilgern sie alle nach Kassel, kunstinteressierte BildungsbürgerInnen, Schulklassen, Weltreisende in Sachen Kunst, PolitaktivistInnen, Selbstdarsteller, Eigenbrötler und Sinnsuchende. 750.000 sollen es diesmal werden, die sich an den 100 Tagen im documenta-Sommer 2012 zeitgenössische Kunst ansehen.

Laura Held

Ich gebe zu, ich war voreingenommen. Ich hatte den Hund mit dem bemalten Bein gesehen, die Diskussion darüber verfolgt, ob Erdbeeren und Hunde wählen sollen, und gelesen, dass diesmal kein Konzept das Konzept sei. „Das Rätsel der Kunst besteht darin, dass wir nicht wissen, was sie ist, bis sie nicht mehr das ist, was sie war“, orakelt die diesjährige documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev in ihrem einleitenden Essay im documenta-Katalog. Erwartete mich also reiner Zirkus, ein sinnfreies Megaevent, ein aufgeblähtes Medienspektakel?

So beschloss ich, mich nur auf die lateinamerikanischen KünstlerInen zu konzentrieren. Ein weiser Entschluss, denn sie glänzen nicht nur mit beeindruckenden Werken und durch sehr präsente Abwesenheiten, sondern sind auch an zwei Tagen gerade noch zu bewältigen. Denn diese documenta ist sehr weit verstreut, nicht nur an den klassischen Orten Fridericianum, documenta-Halle, Neue Galerie sind Kunstwerke zu sehen, sondern überall in der ganzen Stadt, in der Karlsaue, einem weitläufigen Park, im Kulturbahnhof, im Ottoneum und in der Orangerie, in ehemaligen Bäckereien und Bunkern, auf Weinbergen (Weinberge in Nordhessen, ist das schon der Klimawandel? – d. Säz) und in Parkhäusern. Auch in Kabul, Alexandria und Kairo sowie im kanadischen Banff findet documenta statt.

Da die meisten lateinamerikanischen KünstlerInnen abseits des Zentrums ausstellen, kann frau hier tatsächlich Kunst erlaufen und erleben. Zuerst könnte man sich die monumentalen Skulpturen des erst 32-jährigen argentinischen Shootingstars Adrián Villar Rojas anschauen (er vertrat u.a. Argentinien auf der Biennale in Venedig 2011). Riesengroße Überreste eines gestrandeten Raumschiffes liegen im frisch hergerichteten Weinberg herum, eine halbverweste Katze, menschenähnliche Astronauten, die meinen geliebten Comic-Helden Veronique und Valerian ähneln – dieselben schönen, langgestreckten Körper. Allerdings tun sie rätselhafte Dinge, starren in ein leeres Viereck, sind unter einem riesigen Krieger aus fernen Welten begraben, säugen ein Ferkelchen. Menschen wandern zwischen den Fundstücken aus einer anderen Welt herum, versuchen die Vergangenheit aus der Zukunft zu enträtseln.

Unter dem Weinberg liegt der Bunker, ein tunnelartiges Labyrinth, das im 19. Jahrhundert zur Lagerung von Eis und Bier und im 2. Weltkrieg als Luftschutzbunker benutzt wurde. Dort wird der Film eines Happenings des Duos Allora & Calazadilla (die US-Amerikanerin Jennifer Allora und der Kubaner Guillermo Calazadilla, die beide in Puerto Rico leben) gezeigt. An einem Schalttag, dem 29.2.2012, wurde aufgenommen, wie eine Flötistin auf einer 35 000 Jahre alten Flöte spielt, die aus einem Gänsegeierknochen geschnitzt wurde. In Gegenwart eines lebenden Gänsegeiers (Raptor's rapture).

Um dorthin zu gelangen, muss man einen Helm aufsetzen und durch die engen Tunnel stolpern, unterwegs hört man, wie ein kleines Mädchen vergeblich darum fleht, noch in den Bunker eingelassen zu werden (eine märchenhafte Klanginstallation des afghanischen Künstlers Aman Mojadidi). Dunkelheit, Tunnel, Höhle bedeuten Angst und Schutz zugleich. Hier geht es um Orte, die sich in Räume verwandeln. Räume, wie die Höhle in Süddeutschland, in der vor vielen, vielen Jahren eine einsame Melodie erklang, belagerte Räume im Krieg – im Zweiten Weltkrieg, in Afghanistan und all die anderen Räume, die sich in unserer Vorstellung in dunklen, beengten Orten bilden. In der Höhle können wir die Gegenwart überleben, um dann in eine Zukunft hinauszugehen, von der wir feststellen müssen, dass sie schon vorbei ist.

Die lange Suche nach dem Raum des in Mexiko lebenden belgischen Künstlers Francis Alÿs warf neue Rätsel auf. Dieser Nachfolger von Sisyphos, der 2002 mit 500 Freiwilligen eine Sanddüne in Lima versetzte und 2004 eine Linie aus grüner Farbe auf der Waffenstillstandslinie zog, auf die sich 1948 Israel und die Arabische Legion geeinigt hatten, hatte in einer ehemaligen Bäckerei kleine Bilder mit bunten Rechtecken aufgehängt und ein in Kabul gedrehter Film lief auf einem Fernseher. Überhaupt sind Afghanistan und die Kasseler Zerstörung im Zweiten Weltkrieg sehr präsent auf dieser documenta. Kabul und Kassel, Zusammenbruch und Wiederaufbau ist eines der Leitmotive. In der früheren Bäckerei sind nicht nur Alltagsszenen aus Kabul im flackernden Fernseher zu sehen (und in Kabul wird zeitgleich ein Film des Künstlers gezeigt), es befindet sich auch ein Gedicht an der Wand der Bäckerei, das daran erinnert, wo verschiedene Künstler (von Beuys bis Tatlin) sich 1943 befanden und was sie taten.

In der Neuen Galerie, vormals Königliche Gemäldegalerie, sind drei sehr unterschiedliche lateinamerikanische Künstler ausgestellt, die jenseits von Kassel-Kabul überzeugen. Die zum Niederknien schönen Skulpturen der brasilianischen Bildhauerin Maria Martins stehen außerhalb dieses documenta-Raums. Von dieser vielseitigen, bereits 1973 verstorbenen Künstlerin (u.a. Malerin, Designerin, Autorin, Surrealistin, Zen-Buddhistin) werden acht zeitlose Bronzeskulpturen aus den Jahren 1946-66 gezeigt. Phantastische Wesen, in denen sich Mensch, Tier und Pflanzen in tropische Formenvielfalt auflösen. Prometheus verschwindet im Lianendschungel, eine Pflanze füttert eine andere, ein Hahn wird zum Instrument, das er selber spielt. Im selben Raum gegenüber eine Installation der mexikanischen Künstlerin Adriana Lara, eine der vielen mexikanischen Konzeptkünstlerinnen dieser documenta. Sie hinterfragt in ihren Werken den Status des Kunstwerks (so stellte sie 2008 eine täglich neu in den Ausstellungsraum geworfene Bananenschale aus, die von einem Wärter bewacht wurde) und damit auch den gesamten Kunstbetrieb. Für die documenta schuf sie mit Unpurposely with Purpose ein raumhohes Wandgemälde, das an einen grau-rot-schwarzen Teppich erinnert, mit verschieden strukturierten Oberflächen. Dahinein sind unregelmäßige Vierecke geschnitten. Dahinter scheint die weiße Wand durch. Bilder seien das, steht im Führer, anderer möglicher Ausstellungen. Im Film zum Teppich begleitet eine Kamera diese weißen leeren Bilder bei einem Tanz durch verschiedene Räume. Adriana Lara spielt mit der Idee von einer Ausstellung (der documenta?), allerdings heben die Skulpturen von Maria (so ihr Künstlername) die Wirkung ihrer Installation teilweise auf.

Völlig anders das Werk des guatemaltekischen Künstlers Aníbal López oder A-153167, wie er seit 1997 seine Werke signiert. (Es ist seine Ausweisnummer) In einem kleinen Gang läuft ein Film in einem Fernseher, der seinen Beitrag dokumentiert: In einer öffentlichen Aktion in der ersten documenta-Woche interviewt zunächst der Künstler, später die Zuschauer einen sicario, einen Auftragsmörder, den López aus Guatemala mitbrachte, um mit ihm die gesellschaftliche und politische Situation in Zentralamerika zu repräsentieren. Hinter einem durchsichtigen Schleier spricht der Mann und beantwortet brav alle Zuschauerfragen: Was verdient ein Auftragsmörder? Hat er sich schon mal geweigert, jemanden zu ermorden? Was hat er von Kassel gesehen? Was würde er am liebsten tun, wenn er nicht morden müsste? López führt auf diese Weise den alltäglichen Krieg der paramilitärischen Banden gegen die Bevölkerung vor, die dafür bezahlt werden, den Status Quo aufrechtzuerhalten. Die Zuschauer werden dabei zu freiwilligen AkteurInnen seiner Performance: Ihre ernsthaft-naiven Fragen zementieren die gesellschaftliche Realität.

Hinaus aus den weißen Räumen in den Karlsaue-Park, in dem eine ganze Reihe freistehende Holzhäuser mit künstlerischen Projekten errichtet wurde. Nicht zu vergessen das Dschingis-Khan-Restaurant am Ende des Parks, das während der documenta zum Aufenthaltsort für Schriftsteller wird, darunter der mexikanische Romancier Mario Bellantin (geb. 1960) und der chilenische Dichter Alejandro Zambra (geb. 1975). Ich begebe mich direkt ins Sanatorium des Mexikaners Pedro Reyes, der dort eine provisorische Klinik eingerichtet hat, in der man unentgeltlich und ohne lange Wartezeiten Termine für acht verschiedene Therapien ausmachen kann. Man kann sich gegen Gewalt impfen lassen, es gibt eine Paartherapie, Voodoo, Mudras und das philosophische Kasino. Da Vodoo oder Goodoo leider ausgebucht war, nahm ich an einer Gruppentherapie zu philosophischen Fragen teil, zusammen mit einem Paar aus Mexiko. JedeR stellte drei Fragen und bekam drei Antworten, wobei man selber aussuchen konnte, ob lieber aus dem philosophischen Gebäude des Nahen Osten, des klassischen Altertums, der Renaissance, des deutschen 19. Jahrhunderts oder der Aktualität. Nicht nur die Antworten selber, wie z.B. „You can choose to live in a dream, to face reality, or turn one into the other (Erasmus)“, sondern auch die Diskussion in der Gruppe war sehr anregend und erweiterte den Horizont. Zumindest unsere Gruppe verließ das Sanatorium mit fröhlichen Gesichtern, obwohl die lauten Schreie aus dem Nebenraum bei der Gewalttherapie schon ein wenig irritierten. Pedro Reyes versucht mit seinen Werken immer direkt in die gesellschaftliche Realität einzugreifen, um sie zu verändern. 2008 sammelte er in Culiacán, Mexiko, 1527 Schusswaffen ein, die gegen Haushaltsgeräte getauscht werden konnten. Diese wurden plattgewalzt, eingeschmolzen und in Spaten verwandelt, mit denen dann 1527 Bäume in der Stadt gepflanzt wurden (Palas por Pistolas). 

Wenig dahinter ist die Time/Bank des Künstlerduos e-flux (Julieta Aranda (Mexiko) und Anton Vidokle (Moskau). Es geht um eine Zeitbank, hier werden Stunden einer Tätigkeit (Gärtnern, Übersetzen, Computer installieren) gegen eine andere getauscht. Solche Tauschbörsen gibt es inzwischen an vielen Orten in der Welt, hier gibt es zusätzlich noch eine kleine Ausstellung mit Film- und Diaprojektionen, die über die Geschichte der Tauschwirtschaft erzählen und über wenig bekannte, aber erfolgreiche Projekte, anonymes Geld gegen tatsächliche Zeit einzutauschen. Das e-flux-Projekt ist auch im Internet präsent:http://e-flux.com/timebank.

Das multimediale Gesamtkunstwerk Here und there, in das die in Italien geborene brasilianische Künstlerin Anna Maria Maiolino das ehemalige Gärtnerhaus verwandelte, konnte ich leider nicht sehen, denn um 20:00 Uhr schließt die documenta ihre Türen und die Häuschen werden abgeschlossen.

Am nächsten Tag wollte ich dann doch ins Fridericianum, wo sich das Brain der documenta 13 befindet. Vorher aber suchte ich im Parkhaus nach den Überresten der Pyramide, die die brasilianische Künstlerin Renata Lucas quer über die gesamte Anlage des Friedrichsplatzes gelegt hat. Die Pyramide ist ein Ort, der nur in der Vorstellung existiert, aber die Ecken aus Gussbeton sind teilweise in Kellern sichtbar, so im Keller des Fridericianums und auch in einem Parkhaus. Nach langem Suchen fanden wir (es fanden sich mehrere Suchende) ein mit Klebestreifen markiertes Dreieck auf dem Boden und einige Überwachungskameras, die Kassel nach einem Neutronenangriff zeigten. Alle Häuser waren noch da, keine Menschen (außer uns), Sand wehte über die Straßen und legte sich auf die Häuser. Die Zukunft wird schon wieder begraben. Sind wir die einzigen Überlebenden? Und was ist mit der Pyramide? Aus welcher Zeit stammt die?

Da sich vor dem Brain (mit Werken von 27 KünstlerInnen!) in der Rotunde des Fridericianums lange Warteschlangen gebildet hatten, verzichtete ich darauf, die Bilder des chilenischen Nebelfängers Horacio Larrain Barros und die Keramiken der Paraguayerinnen Juana Marta Rodas und Julia Isidrez anzuschauen und stieg, abseits der Massen, hoch in den Zwehrenturm. Ganz oben hat die in Berlin lebende mexikanische Konzeptkünstlerin Mariana Castillo Deball einen eigenen Raum. Für die documenta schuf sie eine großformatige geschwungene Plastik mit „Unbequemen Dingen, die einen ausschließen“. Hier wurden die verschiedensten Fundstücke zusammengepresst, Gips, Sand, Stein, Textilien, Werkzeuge, Scherben, ein Hammer… eine Art Landkarte einer Zukunft, die man verpasst hat. 2011 zeigte die Künstlerin im Grimme-Museum in Kassel 30 Schutzumschläge zu Büchern, die noch nicht existieren oder vielleicht in dieser anderen Zukunft gerade gelesen werden. Zur documenta finden Veranstaltungen statt, wo diese „Bücher“ der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Von Büchern handeln auch die Werke in den darunter liegenden Stockwerken des Turms. Die im Mittelmeerraum lebende Künstlerin Emily Jacir zeigt in ex libris in durchsichtigen Glas gepresste ex-libris aus einigen Tausend der insgesamt 30 000 Bücher, die 1948 von Israel aus palästinensischen Wohnungen und Bibliotheken geraubt wurden und von denen sich heute ca. 6000 als „herrenloses Gut“ in der Nationalbibliothek in Jerusalem befinden. Angeregt wurde sie durch die Bücher der kurhessischen Bibliothek, die die Kriegsereignisse im Zwehrenturm überlebten und durch die Rückführungsbemühungen der US-Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg. Ebenfalls angeregt durch Bibliotheksbücher aus Kassel, diesmal aber welche, die bei den Bombenangriffen halb verbrannten, wurde Michael Rakowitz (auch im Zwehrenturm, im Erdgeschoss, der Relikte dieser Bücher zusammen mit Fundstücken der in Afghanistan gesprengten Buddhastatuen zeigt. Teile seiner Installation finden in Afghanistan statt, wo Steinmetzkurse im Tal der zerstörten Buddhafiguren stattfinden. In Kassel zeigt Rakowitz auch Teile eines Meteoriten von 1954.

Ein weiterer Meteorit kam nicht nach Kassel. Ursprünglich hatten die argentinischen Künstler Guillermo Faivovich und Nicolás Goldberg geplant, den 37 Tonnen schweren Meteoriten El Taco aus Argentinien nach Kassel zu transportieren, aber nach Protesten von Anthropologen und indigenen Gemeinden ließ sich das Projekt nicht verwirklichen. Vor 4000 Jahren regnete es in Argentinien Meteoriten, die viel älter und dichter sind als die Erde selbst. Die Künstler zeigen stattdessen auf dem Friedrichs-Platz einen rostigen Aluminiumquader und im Fridericianum die Protestbriefe sowie einen Film, in dem sie auf dem Meteoriten herumklettern und versuchen, ihn zu verschieben. Sie hatten schon im Vorfeld der documenta durch die Proteste ihren großen Auftritt, die Presse berichtete breit über die Aktion. Carolyn Christov-Bakargiev schlägt im Presseheft gar vor, die Angelegenheit vom Standpunkt des Meteoriten zu betrachten. „Welche Art von kosmischem Staub verbindet Argentinien und Kassel in diesem Aufprall von Abwesenheit oder in diesem abwesenden Aufprall?“

Auch der mexikanische Künstler und Taoist Abraham Cruzvillegas glänzte durch Abwesenheit. Im Katalog stand, er sei im Fridericianum, und dort war er nicht zu finden. Es hieß, er tauche immer irgendwo in Kassel auf, „eine warme Plastik, die das Leben als Blind Date akzeptieren will“, wie er selbst schrieb. 
Zu finden war der mexikanische Konzeptkünstler Mario García Torres. Er ist seit einigen Jahren auf der Spur des italienischen Künstlers Alighiero Boetti und dessen Hotel One, das dieser von 1971 bis 1977 in Kabul jährlich einige Monate betrieb. Nach 30 Jahren – sowjetischer Einmarsch, Boetti war tot, Taliban und US-amerikanischer Einmarsch – schienen alle Spuren zerstört. 2006 schrieb García Torres dem (abwesenden, weil 1997 gestorbenen) Boetti mehrere Faxe in besagter Angelegenheit. 2010 schließlich fuhr er nach Kabul, fand das Hotel und richtete es wieder her. Eine audiovisuelle Dokumentation darüber, die verblichenen und fast unlesbaren Faxe sowie ein in Afghanistan gefertigter Teppich von Boetti bilden García Torres Beitrag zur documenta. Boettis Weltkartenteppich Mappa sollte ursprünglich auf der documenta 5 1972 ausgestellt werden, wurde aber nicht rechtzeitig fertig. Diese vielfältigen, realen und gedachten Verknüpfungen zwischen Kabul und Kassel passen natürlich gut in die diesjährige documenta. Leider ist die 52 Minuten lange Dokumentation von García Torres, die aus einer Reihe von unscharfen Fotos von Kabuler Straßenszenen besteht, langweilig.

Im Ottoneum, dem naturkundlichen Museum, wurde das Erdgeschoss für die documenta freigeräumt. Dort bespielt die Brasilianerin Maria Thereza Alves mit der Geschichte des Chalco-Sees in Mexiko-Stadt den größten Raum. Dieser See war zu vorspanischer Zeit dank der Insel Xico eine blühende Landwirtschaft, wurde 1890 durch die paramilitärischen Truppen des Spaniers Íñigo Noriega den überwiegend indigen Gemeinden gewaltsam fortgenommen und trockengelegt. Nach der mexikanischen Revolution wurden Teile des Landes zurückgegeben, später ein Wasserhebewerk gebaut, das das Grundwasser über einen Kanal nach Mexiko-Stadt lenkte. Landsenkungen waren die Folge, der See bildete sich teilweise neu, aber Umweltverschmutzung, belastetes Wasser und Risse im Kanal gefährden aktuell die EinwohnerInnen. Der neue See soll wieder begraben werden. Diese überaus komplexe Geschichte stellt Alves mit Modellen dar, die den See, den Kanal, die Umgebung darstellen, an den Wänden wird die Geschichte erzählt und Fotos der Mitglieder des Museo Comunitario gezeigt, die für den See kämpfen. Das Ganze wirkt auch wie ein Heimatmuseum, das eine beindruckende und bedrückende Geschichte erzählt. In einem Aquarium schwimmen Axolotl-Fische, die nur in diesem See vorkommen. Ist das Kunst? Auf jeden Fall zeigt es eine Vergangenheit (den See), die die Zukunft sein könnte, die aber durch Besitzgier, Industrie und Korruption schon wieder vergangen ist.

Zum Ende ein Höhepunkt: auch im Hauptbahnhof, an dem heute nur noch Regionalzüge halten, findet documenta statt. In der hintersten Ecke des Nordflügels, vorbei an etlichen Laderampen, hat der Venezolaner Javier Téllez Artauds Höhle gebaut. Antonin Artaud war ein französischer Theatermensch (Schauspieler, Regisseur, Dramatiker und Theoretiker), der Teile seines Lebens in einer geschlossenen Anstalt verbrachte. Man muss sich durch einen sehr dunklen Gang tasten und gelangt in eine steinerne Höhle, in der ein Film läuft. Dort zeigt Javier Téllez einen Film, den er zusammen mit den PatientInnen einer psychiatrischen Klinik in Mexiko-Stadt in- und außerhalb der Klinik drehte. Der Künstler beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Frage, was normal und was geisteskrank oder pathologisch ist (seine Eltern waren beide Psychiater). Diese PatientInnen spielen sich selbst und ihren Alltag und sie führen Artauds Stück Die Eroberung von Mexiko auf. Getreu den Grundsätzen von Artauds Theater der Grausamkeit mit wenig Hilfsmitteln und als Verdoppelung der Wirklichkeit. Es ist nicht nur eine wütende Anklage gehen den grausamen Umgang mit psychisch kranken Menschen, die eingesperrt werden, sondern auch ganz großes Kino. Diese DarstellerInnen entwickeln eine beklemmende Präsenz in der dunklen Höhle. Vielleicht sind sie die Einzigen, die die Zukunft erleben, in deren Resten wir nach Spuren suchen.

 

Ein Rundgang über die documenta 12 findet sich in ila 308 (September 2007).