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Die Sprache der Wolken

Natalia Toledo

Wenn ich gefragt werde, welche Sprache ich denn spreche, sage ich, ich spreche Wolke. Alle fragen, wie kann man Wolke sprechen. Die Zapoteken sagen, ihre Sprache diidxa'za steigt von den Wolken herab – diidxa' ist das Wort und za Wolke. Vielleicht weil die Wolken Tiere und Dinge an den Himmel malen, können wir Zapoteken mit Worten malen.

Also ich kann sagen, ein Teil von mir kommt von den Wolken. Mir gefällt diese Metapher, denn die Wolken richten sich nach dem sanften und warmen Südwind, aber sie nehmen auch Gestalt an unter dem braunen Wind, der uns im Winter beutelt. Jedenfalls sind wir Wechselwesen, so wie die Wolken vorüberziehen und sich andere bilden.

Die Sprache des Windes. Wenn wir über die indigenen Sprachen Mexikos sprechen, müssen wir auf ihre wichtigste Quelle hinweisen – die mündliche Überlieferung, das Wissen eines Volkes, übermittelt und vererbt durch das gesprochene, erzählte Wort. Geschichten oder Ereignisse eines Ortes oder einer Region, der Klatsch über Leute, Legenden, Mythen, Sprichwörter, Lieder, die von einer Generation zur nächsten weitererzählt wurden, um das kollektive Gedächtnis zu bewahren. Für die indigenen Völker war es ein Mittel, ihre Kenntnisse, ihre Art, die Welt wahrzunehmen, zu behüten, damit wir zukünftigen Generationen wissen könnten, wer wir sind und woher wir kommen. Heutzutage sind wir das Ergebnis eines Synkretismus, Reinheit gibt es nicht und unsere Sprachen sind ein lebendiger Körper in dauernder Bewegung. Wir stehen in Kontakt zu anderen Kulturen und jeder Kontakt ist ansteckend, im Guten wie im Schlechten. Mehr als fünfhundert Jahre sind seit der Conquista vergangen, aber die goldenen Fäden, die die Geschichte der Urvölker Mesoamerikas zusammenhalten, leben weiter.

In der Ära der Konquista wurden Codices zerstört, die in ihren Zeichnungen auf Tierfellen und Stoffen viele Glaubensvorstellungen unserer Vorfahren darstellten. Die Spanier nannten die Geschichten, die die Indigenen erzählten, Teufelszeug, weil sie die Vielfalt, den Reichtum und das tiefe Wissen, das darin lag, nicht verstanden. Sie wollten die katholische Religion durchsetzen, und die Indigenen begannen, diese auf dem Wege der mündlichen Überlieferung weiterzugeben, um ihre Identität und ihre Kultur nicht zu verlieren. So konnten sie überleben und wir ihre Sicht der Welt erfahren. Indigen sein ist kein abstrakter Begriff der Vergangenheit, genauso wenig nur ein Klang oder eine Form, es ist auch eine Weltanschauung.

Meine Poesie hat sich aus diesen ersten Quellen genährt, von denen ich in meiner Kindheit zehrte und sie von den Lippen meiner Großmutter hörte: Geschichten, Märchen, Kochrezepte, zapotekische Lieder. Von ihr lernte ich das Wesen der zapotekischen Kultur, da liegt mein Ursprung.

Ich bin Dichterin und wurde in Juchitán, Oax., im Süden des Isthmus von Tehuantepec geboren, einer Stadt von 100.000 EinwohnerInnen, in der Mehrzahl zweisprachig aus strategischen Gründen, seit je ein Volk von Ackerbauern, Fischern, Kunstproduzenten, aber wir sind auch HändlerInnen. Ich bin also eine Juchiteca, die mit acht Jahren ihre Stadt verließ, und lebe seither in Mexico-Stadt, besuche aber immer wieder meinen Ort, wenn mein Herz es von mir fordert. Meine Muttersprache habe ich von den Frauen meines Hauses gelernt, sie haben mir die ersten zapotekischen Wiegenlieder vorgesummt. Ich erinnere mich an ihren schönen Klang, während der Inhalt nicht der allerzärtlichste war. Eines ging so: Tu gudiñe lii baduhuiini' gudiñi bixhoze laabe, pá quiñebe lii xti tiru gundisa ti guie bicaa lucuabe, was heißt: Wer hat dich, mein Kindchen, geschlagen, sein Vater hat es geschlagen; wenn er dich wieder schlägt, nimm einen Stein und schlag ihm den Kopf ein. Ein anderes: Gasisi nana, gasisi tata, cuana nu medio, chisisinu pandxiapa, sonso sonso mañoso, sonsa sonsa mañosa. Auf deutsch: Jetzt schläft die Großmama, jetzt schläft der Großpapa, wir klauen ihnen einen Fünfer für süßes Brot, o du schlauer Doofmann, o du schlaue Dooffrau.

Die Schönheit, der Humor, die Doppeldeutigkeit, die Musikalität und der Metaphernreichtum des Zapotekischen zeigen uns sein ästhetisches, poetisches Wesen. Für Stern sagen wir Himmelsfeuer, für Meeresufer Meereslippen. Zum Morgen sagen wir siadó guie' ru, der Tag ist eine Blume, die sich öffnet, und so ist jeder Tag für uns wie eine Blume. Wir brauchen viele gebrochene, verkürzte und einfache Vokale und gemeinsam mit den doppelten erzeugen sie einen sehr sinnlichen Ton. Es gibt auch viel Lautmalerei.

Meine Urgroßmutter Nazaria hatte die Gabe, Regen zu machen, und man erzählt sich, wie in Dürrezeiten die Bauern zu ihr kamen, um sie um Regen zu bitten. Es steht mir nicht an, solche Fähigkeiten meiner Urgroßmutter anzuzweifeln. Es hat immer besondere Wesen gegeben, die eine enge Beziehung zur Natur und ihren Energien besaßen, wie die Frauen, die die Fähigkeit haben, sich in Nahuales, bidxaa zu verwandeln – in Tiere.

Die Arbeit der Heilerinnen ist sehr wichtig für uns, sie kümmern sich um die geistige Gesundheit. Meine Mutter brachte mich immer erst zu einer Heilerin und dann zum Doktor. Von diesen häufigen Besuchen lernte ich, mich selbst zu heilen, zum Beispiel, wenn ich traurig war, die Traurigkeit zu lokalisieren, sie sitzt im Rücken, viele kleine Stacheln. Ein trockenes Maisblatt, in Wasser angefeuchtet, streichst du über den ganzen Rücken, so ziehst du die Traurigkeit heraus. Solches Wissen hat sich mündlich überliefert, du lebst es und gibst es weiter. 

Gegen Augenschmerzen träufelte mir meine Mutter die Milch einer gelben Blume aufs Auge, die heißt guie' bacua'. Sich Blumen auf die Augen zu legen, ist ein sehr schönes Bild und erinnert mich daran, wie wichtig es ist, dass wir das mündlich überlieferte Wissen bewahren, um es an unsere Kinder weiterzugeben, damit unsere Sprachen und unsere Kulturen immer eine lebendige Blume bleiben.

Übersetzung: Uwe Bennholdt-Thomsen