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Die Schuldenfrage ist eine Verteilungsfrage

Staatsverschuldung gilt heute als eines der zentralen Probleme der Weltwirtschaft

Auf dem CDU-Parteitag in Stuttgart 2008 prägte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel eine simple Lösung für das Staatsschuldenproblem, die bis heute wie ein Mantra wiederholt wird: „Man hätte hier in Stuttgart einfach nur eine schwäbische Hausfrau fragen sollen. Sie hätte uns eine ebenso kurze wie richtige Lebensweisheit gesagt, die da lautet: ‚Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.’“ Der Vergleich mit Privathaushalten ist bei PolitikerInnen beliebt, wenn sie der Wählerschaft die Nöte des Staatshaushalts erklären wollen. Dabei ist dieser Vergleich falsch. Denn ein Staatshaushalt folgt eigenen Regeln. 

Ingo Stützle

Wenn ein privater Haushalt einen Konsumentenkredit nimmt, um sich etwa eine Schrankwand zu kaufen, so handelt es sich um einen Akt des vorgezogenen Sparens. Der Haushalt spart nicht erst das Geld für das Möbel an und kauft es dann, sondern er nimmt Kredit, kauft die Schrankwand und zahlt dann den Kredit an die Bank zurück, inklusive Zinsen. Der Kredit macht den Haushalt also ärmer (denn er zahlt den Kaufpreis plus Zins an die Bank).

Der Staat hingegen nimmt Kredit und baut mit dem Geld zum Beispiel Straßen, Schulen, Telekommunikationswege. Er vergibt Subventionen für „Wachstumsindustrien“ und sichert per Militärausgaben die globalen Geschäfte seiner Unternehmen. Er verbessert so die Standortbedingungen für Unternehmen und versucht, Investitionen anzuziehen und rentabel zu machen. Schuldenfinanzierte Ausgaben können zudem die gesellschaftliche Nachfrage stärken, sodass eine Krise schneller überwunden wird. Die Aufnahme von Schulden ist also ein Mittel, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Solange das funktioniert, sind Staatsschulden kein großes Problem. Eine Regierung kann also dauerhaft mehr ausgeben, als sie einnimmt, weil sie mit den Ausgaben ihre Einnahmen erhöhen kann, denn Wirtschaftswachstum bedeutet steigende Steuereinnahmen. Insbesondere in den vergangenen Jahren hat das jedoch nicht funktioniert. Die Schulden wuchsen viel schneller als die Wirtschaftsleistung. Dies lag jedoch nicht an verschwenderischer Politik, im Gegenteil. In Deutschland zum Beispiel gingen die Staatsausgaben zwischen 1998 und dem Beginn der Krise 2008 in realer Rechnung (also abzüglich der Inflationsrate) sogar zurück. Die steigende Schuldenquote hatte zwei andere Gründe. Erstens sind die Steuern seit 1998 stark gesunken, vor allem die für Wohlhabende, Kapitalanleger und die Unternehmen. Der zweite Grund war die Krise selbst. Als die Wirtschaftsleistung Ende 2008 einbrach, sprang der Staat ein. Er nahm Kredite auf, rettete Banken und ersetzte die ausgefallene private Nachfrage durch Staatsnachfrage, um die Krise abzumildern. Dies ist auch gelungen. Dennoch stieg die Schuldenquote (bis 2010). Doch war dies kein Zeichen für staatliche Verschwendungssucht, sondern dafür, dass der Staat mit öffentlichen Geldern die Geschäfte der Unternehmen halbwegs am Laufen hielt.

Die Staatsverschuldung gilt inzwischen als eines der zentralen Probleme der Weltwirtschaft und hat damit die „Globalisierung“ abgelöst. Der Grund: Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg sind es nicht die sogenannten Entwicklungsländer, die eine Schuldenkrise erleben, sondern die etablierten Industriestaaten. Was aber sind Staatsschulden, wenn sie sich, wie gezeigt, von privater Verschuldung unterscheiden?

Die große Krise seit 2007 hat selbst bürgerlichen Medien vor Augen geführt, dass wir im Kapitalismus leben. Was diesen aber genau ausmacht, wird selten begriffen. Lässt man sich auf diese Frage ein, kommt man um die marxsche Ökonomiekritik nicht herum. Mit Karl Marx könnte man fragen: Warum nimmt das „ökonomische Dasein“ (Marx) des Staates die Form des Steuerstaates an? Was zeichnet überhaupt den modernen Staat aus und was ist der öffentliche Kredit? Vorkapitalistische Gesellschaften waren durch unmittelbare und persönliche Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse geprägt. So standen mittelalterliche Leibeigene in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Grundherrn, der dieses Verhältnis notfalls mittels eigener Gewalt durchsetzte. Dagegen treten die modernen LohnarbeiterInnen den KapitalistInnen als formell freie und gleiche EigentümerInnen gegenüber; sie sind aufeinander angewiesen und stehen gleichzeitig im Gegensatz zueinander. Daraus folgt die Notwendigkeit einer außerökonomischen Zwangsgewalt, die unter der Voraussetzung der Monopolisierung legitimer Gewaltausübung (Max Weber) die Rechtsform unpersönlich und öffentlich in Form der generellen Norm und des allgemeinen Gesetzes garantiert und durchsetzt. So setzt der Staat die gesellschaftlichen Gegensätze in Kraft und macht sie dauerhaft haltbar.

Die gesellschaftliche Notwendigkeit der „Form Staat“ (Johannes Agnoli) bringt zugleich die Frage nach seiner ökonomischen Existenz mit sich. Der Staat muss das, was er leistet, auch finanzieren. Die Analyse des Staates zeigt die Formen, wie Staat und Ökonomie miteinander verwoben sind, durch Geld und Recht. Die Steuern stellen das „zentrale Bindeglied zwischen ‚öffentlicher’ und ‚privater’ Wirtschaft, zwischen ‚Ökonomie’ und ‚Politik’“dar (Krätke 2009: 122), somit von Geld und Recht. Die Steuern sind eine eigenständige Kategorie der politischen Ökonomie, so wie der Staat als Steuerstaat ein „Wirtschaftssubjekt sui generis“ (Sultan 1932: 75) ist. Warum? Weil der Staat zumeist nicht selbst als Unternehmen an der Wertschöpfung unmittelbar beteiligt ist. Er garantiert nur die rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und partizipiert am Geschäftsgang der Privaten in Form eines Herrschaftsaktes. Das ist deshalb möglich, weil der Staat als dritte Instanz, als Herrschaftsapparat und Garant des Eigentums, dem Kapital und der Lohnarbeit gegenübertritt. Der Schutz des Eigentums ist immer nur gegenüber Dritten, Privatpersonen absolut. Dem Staat gegenüber ist er relativ. Dem Staat sind unter bestimmten Voraussetzungen Enteignungen möglich, wie etwa die Besteuerung.

Der Staat garantiert auf der einen Seite überhaupt erst die für den Warentausch adäquate Rechtsform, bricht aber auf der anderen Seite permanent mit seinem Steuermonopol und der Zwangsabgabe Steuer das Äquivalenzprinzip des Warentauschs. Die Besteuerung ist eine reine und einseitige Geldbewegung. Das Geld in Form von Steuern ist das einzige Objekt der Transaktion. Die Besteuerung ist ein regelmäßiger Eingriff in die private Verfügungsmacht über Eigentum und „ein einseitiger Akt der Herrschaft, den sich nur ein souveräner bürgerlicher Staat erlauben kann“ (Krätke 1984: 57). Als Herrschaftsakt, als fortlaufende Enteignung ohne jede spezielle Entschädigung unterliegt die Besteuerung somit einer besonderen Legitimationsnotwendigkeit. Für die staatliche Steuererhebung existieren verschiedenste Strategien der Legitimierung, die immer auch umkämpft sind beziehungsweise erkämpft werden müssen: Monopolisierung von Abgaben durch den Staat (nur er als Garant des Eigentums darf die Eigentumsgarantie relativieren), rationale, d.h. bürokratische Organisation des Steuerwesens, Mitsprache und Mitbestimmungsrechte, Kontrollrechte über die Finanzen, Erweiterung der politischen Repräsentation, umfassendes Steuer- und Ausgabenbewilligungsrecht in den Parlamenten. Vor allem findet aber ein ständiger Kampf um die Steuerausbeutung statt, ALSO wie die Steuerlast zwischen den Klassen verteilt ist. Die Steuern sind demzufolge nicht nur eine eigenständige Kategorie der politischen Ökonomie, sondern die Steuerausbeutung ist auch eine Ausbeutung sui generis. Wie der Steuerstaat somit auf der einen Seite notwendige Voraussetzung für die kapitalistische Produktionsweise ist, so ist er auf der anderen Seite ein ständiges Ärgernis, das immer wieder zu Steuerhinterziehung oder gar Steuerrevolten führt. Über die Steuererhebung entzieht der Staat der Gesellschaft Finanzmittel. Damit schädigt er implizit seine Steuerbasis. Zu ihrer Finanzierung greifen Regierungen daher auch auf Kredite zurück. Sie verzichten auf die Enteignung (Steuer) und leihen sich stattdessen das Geld. Die vorbürgerliche Staatsschuld ist nicht mit dem modernen öffentlichen Kredit vergleichbar, weil sie ein persönlicher Besitz war, ebenso wie der Staat kein öffentlicher und unpersönlicher Herrschaftsapparat, sondern eine Form personaler Herrschaft war. Systematisch lässt sich dies zeigen, wenn nach der Spezifik des Kredits im Kapitalismus gefragt wird. Es geht beim Kredit im Kapitalismus nicht um das Leihen und Borgen von Geld, das war bereits in vorkapitalistischen Zeiten verbreitet. Vielmehr geht es um die für die kapitalistische Produktionsweise besondere Form, dass Geld als Kapital die Hände wechselt. Das bedeutet zum einen, dass Geld im Kapitalismus nur deshalb zinstragendes Kapital ist, weil das Geld als Kapital benutzt werden kann. Es wird also in ein Geschäft investiert und die Zinsen werden aus dem Profit finanziert.

Nun wird der öffentliche Kredit nicht aus einem erwirtschafteten Profit finanziert. Die Spezifik des modernen Staates ist es gerade, dass er innerhalb der Gesellschaft nicht als Kapitalist fungiert. Der vom Staat aufgenommene Kredit fungiert weder als Kapital, noch wird er durch Profit beglichen. Der öffentliche Kredit wird aus Steuern finanziert. Die Staatsschuld setzt also den Steuerstaat und die „moderne Fiskalität“ (Marx) voraus. Erst die Steuer als gesetzlich gesicherter, dauerhafter Zugriff auf den Reichtum der Gesellschaft ermöglicht, dass die Verschuldung zu einer normalen Finanzierungsquelle des Staates wird. Als Steuerstaat ist er kreditwürdig, der öffentliche Kredit ist die Vorwegnahme zukünftiger Steuereinnahmen. Damit werden die Zinsen aber auch der ganzen Gesellschaft aufgebürdet, da sie die Quelle der zukünftigen Steuern ist.

Die Verschuldung bringt aber auch einen Vorteil mit sich. Während der Staat mit Steuern der Privatwirtschaft und den BürgerInnen liquide Mittel entzieht, die Nachfrage oder Investitionen bedeuten könnten, bieten die Staatsschulden als Wertpapiere für das Finanzkapital eine sichere Geldanlage. Die Staatsanleihen können zudem von den Geschäftsbanken bei den Zentralbanken als Sicherheiten gegen frisches Geld hinterlegt werden. Staatsschulden sind derart auch elementares Moment der Kreditgeldschöpfung. Aber nicht nur das. Staatsanleihen sind eine tragende Säule der Weltfinanzmärkte. Würden die Staaten tatsächlich sparen und irgendwann keine Schulden mehr machen, so bekämen die Finanzmärkte ein großes Problem. Denn bei all ihrer riskanten Spekulation mit Derivaten, Rohstoffen und Aktien kennen die Finanzanleger einen „sicheren Hafen”: Staatsanleihen, auf deren Wertbeständigkeit sie sich verlassen. Die Industriestaaten allein haben Anleihen in Höhe von mehreren 10 000 Milliarden Dollar ausgegeben, die quasi das Fundament der Weltfinanzmärkte bilden. „Moderne Finanzsysteme sind auf Staatsanleihen angewiesen“, so der DIW- Wochenbericht (44/2011). Staatsschulden sind also etwas mehr als bloß ein „Problem“.

Hört man den PolitikerInnen zu, so scheinen Schulden vor allem schlecht zu sein. Denn, so ihr Hauptargument, immer größere Anteile seiner Einnahmen muss der Staat für die Bezahlung der Zinsen ausgeben. Daher sollen die Schulden abgebaut werden. Schulden gelten als schlecht. Gleichzeitig aber macht der Staat immer neue. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man Staatsschulden als das betrachtet, was sie sind, ein Instrument, mit dem die Regierung einen bestimmten Zweck erreichen will: Wirtschaftswachstum. Mit dem geliehenen Geld finanziert der Staat seine Ausgaben. Vor allem versucht er, die Standortbedingungen zu verbessern und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Über das angemessene Volumen der Staatsverschuldung, wie hoch sie sein darf, kann man also nicht mehr sagen als: nicht „zuviel“. Dieses „Zuviel“ kennt in der Praxis einen Maßstab, das Wirtschaftswachstum. Ihm sollen Staatsschulden dienen, dieses Wachstum dürfen sie nicht beschädigen. Die Frage, ob Staatsschulden nun gut oder schlecht sind, läuft also auf die Frage hinaus: Wie gut oder schlecht ist kapitalistisches Wirtschaftswachstum?

Dass Staatsschulden das Wirtschaftswachstum erhöhen können, ist keine Streitfrage, sondern Fakt. Dabei ist es egal, ob die Schulden passiv hingenommen (bei Steuerausfällen) werden oder für „aktive Wirtschaftspolitik“ gezielt aufgenommen werden. Ebenso Fakt ist aber, dass es ein Problem ist, wenn den höheren Schulden kein entsprechend höheres Wirtschaftswachstum und keine höheren Staatseinnahmen gegenüberstehen und darüber immer größere Teile des Staatshaushaltes in die Schuldenbedienung fließen.

Staatsschulden sind also wie die Schulden von Unternehmen eine Art vorfinanziertes Wachstum. Über die staatliche Kreditaufnahme spekulieren Regierungen und ihre Geldgeber, die Finanzmärkte, darauf, dass die Schulden mehr Wirtschaftsleistung und mehr Staatseinnahmen generieren. Mit ihrer Verschuldung macht eine Regierung ihre Bevölkerung dafür haftbar, dass diese Rechnung aufgeht. Bebildert wird diese Haftung durch die Zahl „Staatsschulden pro Kopf der Bevölkerung“. Dass diese Rechnung aufgeht, dafür müssen andere einstehen. Dies sieht man besonders deutlich, wenn ein Staat Probleme mit der Schuldenbedienung bekommt und sparen will. Dieses Sparen trifft logischerweise immer dieselben, die Empfänger von staatlichen Transferleistungen, die Arbeitnehmer, die Konsumenten. Ge- und befördert werden dagegen die „Träger des Wachstums“, also die Unternehmen und die Finanzinstitute.

Angemerkt sei hier noch: Zwar wird ständig darüber geklagt, der Staat gebe zu viel aus. Selten kritisiert wird aber die Einnahmeseite, von wem er eigentlich Geld einnimmt, um seine Schulden zu bedienen, wer also für die Schulden (Zinsen) bezahlt. Hier ist die Entwicklung eindeutig. Seit Mitte der 70er-Jahre wird die Steuerbelastung vermehrt von den Lohnabhängigen (die auch zum großen Teil die Mehrwert- und Verbrauchersteuern zahlen) getragen. Die Belastung von Gewinnen und Vermögen hingegen sinkt. Die Steuerquote geht seit Jahrzehnten tendenziell zurück, die Vermögen wachsen. Man sieht: Steuerpolitik ist wesentlich Umverteilungspolitik. Die Lohnabhängigen wiederum, die zum Beispiel in Deutschland etwa zwei Drittel des gesamten Steueraufkommens tragen, zahlen also nicht bloß für den Großteil der Staatsverschuldung. Sie sollen sich außerdem in Lohnzurückhaltung üben und müssen gleichzeitig seit Jahren die Folgen der Kürzungen von staatlichen Sozialleistungen hinnehmen. Somit ist auch die Schuldenfrage eine Verteilungsfrage und nicht zuletzt eine Machtfrage.

Literatur: Krätke, Michael R. (1984): Kritik der Staatsfinanzen. Zur politischen Ökonomie des Steuerstaats, Hamburg. Krätke, Michael R. (2009): Kritik der öffentlichen Finanzen. Die Finanzkrise des Staates erneut betrachtet, in: Prokla 154, 39.Jg., H.1, 119-139. Sultan, Herbert (1932): Die Staatseinnahmen. Versuch einer soziologischen Finanztheorie als Teil eine Theorie der politischen Ökonomie, Tübingen.