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Walburga in den Anden

Gelungener Clash of Cultures: Das bolivianische Kinderbuch „Die Märchenhexe“
Britt Weyde

Ich glaube zutiefst daran, dass es mehr Wege der Begegnung als der Nicht-Begegnung gibt“, ist sich Rosalba Guzmán Soriano, Autorin von „Die Märchenhexe“, sicher. Eben jene Märchenhexe macht im Verlauf des jetzt auf Deutsch erschienenen Kinderromans sehr weitreichende, ja persönlichkeitsverändernde Begegnungen mit. Es beginnt damit, dass die Protagonistin Walburga (vom Blocksberg) unfreiwillig in Bolivien landet und die Welt nicht mehr versteht. Ihre KollegInnen aus dem westlichen Märchenkosmos sind in den Anden zwar zum Teil bekannt, doch real hat sie es hier mit ganz anderen Fabelwesen zu tun. Ein Kobold mit Strohhut ist ihre erste Bekanntschaft aus dem Reich der andinen Mythologie, doch während sie sich mit ihm ein kleines (verbales) Gefecht liefert, muss sie feststellen, dass sie ihrer Zauberkräfte beraubt ist – liegt es vielleicht an Übersetzungsproblemen? Dieses Rätsel wird sie nicht lösen. Das ist aber nicht weiter schlimm, denn sie lernt, sich in Bolivien durchzuschlagen, lässt sich auf die zunächst fremde Welt ein und muss so manche Abenteuer bestehen.

Der sechseinhalbjährige Spross der Rezensentin sollte als kritisches Vorlesepublikum dienen. Schon beim ersten Kapitel werden interessierte Nachfragen gestellt: „Warum sagt die Hexe das? Das erfindet die doch nur!“ Stein des Anstoßes: Die Hexe Walburga teilt dem Kobold ihre Meinung über Schneewittchen mit, die dumme Schnepfe: Schön blöd sei sie gewesen, dass sie sich von sieben kleinen Männern als ehrenamtliche Hausangestellte habe ausnutzen lassen. Die Zwerge hätten sich jetzt mit sieben Zwerginnen zusammengetan, die ihren besseren Hälften paritätische Hausarbeitsteilung abgetrotzt hätten. Und Schneewittchen langweile sich, weil ihr Prinz sie im Schloss einsperre. Irritierte Blicke beim Publikum. Das kann nicht sein, die Hexe Walburga wurde ja am Anfang als „sehr sehr böse“ charakterisiert. Und den sehr Bösen kann man ja nicht glauben.

Doch die Protagonistin durchläuft eine wundersame Wandlung (die auch vom Vorlesepublikum erfasst und für glaubwürdig befunden wird), und zwar im Zuge einiger interkultureller Begegnungen: Walburga trifft u.a. auf die Kleine Witwe, die denjenigen Männern den Kopf wäscht, die zu viel Chicha in der Kneipe trinken und ihre Familie terrorisieren; den Huasa Mallku, der für das Gleichgewicht der Natur in den Anden sorgt; auf den verliebten Inka, der in einer Flöte haust und seiner Ñusta, der Prinzessin von der Sonneninsel auf dem Titicacasee, nachtrauert; oder den magischen Yatiri, der mit Koka-Blättern das Schicksal der Menschen liest. Das folgenreichste Aufeinandertreffen ist jedoch jenes mit einer Gruppe von Kindern, die vor dem grausamen Regiment einer Nonne, einer echten „Hexenhexe“ im Kinderheim abgehauen sind. 

Die vorhergehenden, eher anekdotischen Begegnungen weichen nun in der zweiten Hälfte des Romans einer wirklichen Annäherung zwischen den geflohenen Kindern und der gestrandeten Hexe. Alle sind sie auf der Suche. Dabei kommen universelle Themen zur Sprache: die Suche nach Geborgenheit, der Kampf gegen Ungerechtigkeit, der tröstende Beweis, dass Solidarität nötig und möglich ist. Und das Publikum geht mit. Langsam wird Walburga zu einem Mensch, weil sie menschliche Empfindungen und Regungen kennen lernt und teilt. Nach jeder Rettungsaktion, an der sie beteiligt ist, bekommt sie einen Schatz: eine zartrosa Liebkosung, die weißglühende Tapferkeit, die grüne Hoffnung. Und hübsche neue Zähne. „Bald kann sie wieder zaubern, weil sie ja dann alle Zutaten hat“, ist die kleine Zuhörerin überzeugt.

Trotz unterschiedlicher Lebenswelten birgt die Geschichte ein hohes Identifikationspotenzial, denn es geht nun mal um Kinder, ihre Eltern und die diversen Probleme zwischen ihnen. Die Autorin schöpft dafür aus ihrem eigenen prallen Erfahrungsschatz, schließlich hat Rosalba Guzmán Soriano – übrigens eine der bekanntesten Kinderbuchautorinnen Boliviens – auch als Lehrerin und Psychologin gearbeitet. Im Anhang des Buches werden Hintergrundinformationen zu Bolivien geliefert, sowohl zur aktuellen Politik als auch zu familiären Strukturen. Dort sagt die Autorin auch diesen klugen Satz: „Eigentlich sind alle Kinder, die geliebt werden, Adoptivkinder. Denn dass ein Kind gezeugt wird, kann auch ein Versehen sein, aber das Kind als das eigene anzunehmen und sich um es zu kümmern, das ist immer eine eigene Entscheidung. Adoptieren heißt nämlich Annehmen.“

Auch wenn die meisten Kinderschicksale der Geschichte tieftraurig sind, bereiten die Vorlesestunden ebenso Vergnügen: Durch das clowneske, mitunter ungeschickte Verhalten der Hexe Walburga gibt es viele Kicheranlässe. Ganz nebenbei werden so große und wichtige Themen wie Kinderrechte, Kolonialgeschichte sowie hochaktuelle Konflikte und Kämpfe aus Bolivien, etwa um den Straßenbau durch das TIPNIS-Gebiet, behandelt.

Das empfohlene Alter für dieses Buch wird mit acht Jahren angegeben, etwas früher geht in der Tat auch, wobei in dem Fall einige ironische Anspielungen verloren gehen. Das kindliche Zielpublikum muss jedenfalls firm im westlichen Märchenkosmos und offen für andere Welten sein.

Einziger kleiner Wermutstropfen: Leider ist der Satz des Buches nicht hundertprozentig präzise, mitunter sind Anführungszeichen verschludert worden, was – vor allem – beim Vorlesen mit verstellter Stimme ein kleines Problem ist; für souveräne VorleserInnen allerdings ein vernachlässigenswertes. 

Rosalba Guzmán, Die Märchenhexe, Osnabrück 2012, 197 Seiten, farbig illustriert von Jorge Dávalos, übersetzt von Gertrud Schwarzenbarth, ab 8 Jahre. Für 10,90 Euro zusätzlich Versandkosten zu bestellen unter http://tdh.info/xt_shop/index.php?page=product&info=832 im terre des hommes-Shop