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Krimiautorin?

Patrícia Melo wehrt sich gegen einfache Etikettierung
Wolfgang Kaleck

Im Nachwort zu dem Roman Bufo & Spallanzani des von ihr hoch geschätzten Autors und langjährigen Freundes Rubem Fonseca schreibt Patrícia Melo etwas, das auch für das Verständnis ihres eigenen Werkes von großer Bedeutung ist: „Was in der Wirklichkeit schrecklich ist, sagt Aristoteles irgendwo in seiner Poetik, kann in der Kunst bezaubern. Genau das hat Rubem getan, indem er Einsame, Mörder, Arbeiter, gewöhnliche Leute und verrückte Millionäre, Prostituierte und Hausfrauen, eben all die Geschöpfe der Stadt mit ihren Ängsten und ihren pathologischen Zügen, ihren Frustrationen und ihren Wünschen zu den Figuren seiner Prosa gemacht hat.“

Patrícia Melo, geboren 1962, gehört einer anderen Generation an als der 1925 geborene Fonseca. Wie für viele andere lateinamerikanische SchriftstellerInnen ist die Realität für sie, insbesondere die urbane Realität der Millionenstädte Brasiliens, Argentiniens, Kolumbiens oder Mexikos, das Material, der schier unerschöpfliche Rohstoff, aus dem sie ihre beeindruckende (Kriminal-)Literatur formen und uns so mit der dunklen Seite des Kontinents vertraut machen. Sie will weder als Populärschriftstellerin noch als Krimiautorin gesehen werden. Die Literaturkritiker irrten sich in ihrem Fall, sagt sie, denn der Kriminalroman brauche für seine Existenz ein Stadtmilieu. Da es in Brasilien keine Krimitradition gebe, werde „jeder Schriftsteller, der sich mit großstädtischen Pathologien beschäftigt und sich dem Thema der Gewalt annähert, automatisch als Kriminalautor etikettiert“. 

Obwohl Patrícia Melo in zwölf Sprachen übersetzt und weltweit rezipiert wird, war mit „Wer lügt gewinnt“ (Wagenbach-TB) zuletzt nur eines ihrer Bücher in deutscher Übersetzung erhältlich. Entweder sie sind vergriffen oder gar nicht erst übersetzt. 

„Wer lügt gewinnt“ ist ein programmatischer Titel. Dem Buch ist folgendes Motto von Erasmus vorangestellt: „Der menschliche Geist ist empfänglicher für die Lüge als für die Wahrheit.“ In einem Interview bezeichnet Melo die Lüge als Teil des brasilianischen Geistes. Diesem Credo folgend lügen in ihren Geschichten nicht nur die, die man gemeinhin als Kriminelle kategorisiert, diejenigen also, die offen Geld mit Drogenhandel oder Auftragsmord verdienen. Auch diejenigen, die für sich in Anspruch nehmen, für Sicherheit und Ordnung verantwortlich zu sein, Polizisten oder private Sicherheitsdienste, beschreibt Melo – ohne größeren moralischen Impetus – als verlogen und korrupt. In „Wer lügt gewinnt“ zeigt sie dieselben Mechanismen in der brasilianischen Kultur- und Medienindustrie auf. Und wie um die herrschende verlogene Moral endgültig zu demaskieren, lässt sie in ihren Parabeln die Lügner und Betrüger auch noch gewinnen.

So auch im „Leichendieb“, ihrem soeben auf Deutsch erschienenen Roman, 2010 in Brasilien veröffentlicht. Von ihren vorherigen Projekten weiß man, dass sie selbst umfangreich recherchiert. In der Vorbereitung für ihr bekanntestes Buch O Matador sprach sie mit Dutzenden von Mördern und kam zu der Erkenntnis, dass sie alle ihr Tun, auf welche Weise auch immer, rechtfertigen. Die teilweise absurden Argumentationsmuster findet man dann in ihren Romanen wieder, auch im „Leichendieb“. Man hat das Gefühl, dass man diese Geschichte schon kennt, dass man sie schon Dutzende von Malen gelesen hat: eine schier unabwendbare Kette von Zufällen und Unglücken, die einen bisher unbescholtenen Menschen in Ereignisse verwickeln, an deren Ende er entweder stirbt oder im Gefängnis landet. Gleichzeitig redet sich der Protagonist in jedem Moment dieser Geschichte ein: „Genau deswegen versaut man sich sein Leben. Man glaubt immer, dass man rechtzeitig aussteigen kann.“

Es kommt also auch hier, wie es kommen muss. Der traurige Held, ein von seiner Heimatstadt São Paulo so gestresster junger Mann, Geschäftsführer eines Callcenters, gibt im Affekt einer seiner Angestellten eine Ohrfeige, ist darüber geschockt, erst recht, als diese sich wenige Tage später umbringt. Er verlässt die Metropole, zieht in eine Kleinstadt an der bolivianischen Grenze. Dort unternimmt er alles, um aus einem ruhigen provinziellen Alltag, als Gegenpol zu São Paulo gedacht, ein denkbar chaotisches und getriebenes Leben zu machen.

Melo bezieht keine eigene Position, wenn ihr Protagonist seine eigene Verlobte und seinen Cousin mit dessen Freundin betrügt, der wiederum seine Ehefrau wegen dieser verlassen hat. Von der Lüge zum Betrug gegenüber einer trauernden Mutter bis zum Drogenhandel rechtfertigt er alles, erst vor sich selbst und dann vor den anderen. Doch mehr noch: Er zieht andere mit in diesen Strudel, sein Nachbar kommt dabei um, seine Verlobte wird ebenfalls zur Kriminellen und fühlt sich bestätigt, als sie von der Korruption ihres geschätzten Vorgesetzten bei der Polizei erfährt. Erneut also ein profunder Blick in brasilianische Realitäten, den uns Melo mit ihrem neuesten Rom liefert. 

Patrícia Melo: Wer lügt gewinnt, Übersetzung: Barbara Mesquita, Wagenbach-Taschenbuch, Mai 2012, 240 Seiten, 11,90 Euro
dies.: Leichendieb, Übersetzung: Barbara Mesquita, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, April 2013, 208 Seiten (geb.), 18,95 Euro