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Das Ökosystem der Biographie

Über den Gedichtband „Mangroven“ von Tomás González
Esther Andradi

Mangrove heißt der Baum, der mit seinen krummen Ästen in den Küstenzonen der Tropen wächst. Das Wort mangle (Mangrove) stammt aus dem Guaraní, der Sprache der südamerikanischen Bevölkerungsgruppen, die die großen Ströme zu ihrem Wanderweg und die Dichtung zu ihrem Vermächtnis gemacht haben. Und Mangrovenwälder sind die sumpfigen Wälder, die die Flussmündungen, die großen und kleinen Buchten, die Lagunen und Kanäle beleben, Orte, an denen Wasser und Land, Meer und Flüsse, Luftwurzeln und schwimmendes Blattwerk sich treffen, wo mehrere Schichten eines Ökosystems aus Leben und Nährstoffen zusammenleben. Fische, Pflanzen, Moose existieren hier eng miteinander verwoben auf engstem Raum und schützen sich so vor Orkanen und Erosionen jeder Art und Dauer.

So scheint es mir kein Zufall, dass der kolumbianische Erzähler Tomás González (1950 in Medellín geboren) seinem Gedichtband ausgerechnet den Titel „Mangroven“ gegeben hat. González, der in Deutschland durch einige seiner Romane bekannt ist (u.a. „Am Anfang war das Meer“, 2010; „Die Teufelspferdchen, 2008 und „Das spröde Licht“, 2012), schreibt auch Essays und Gedichte. Er hat 19 Jahre in den Vereinigten Staaten verbracht, davon drei in Miami und 16 in New York; seit 2002 lebt er wieder in Kolumbien.

„Ich habe das Buch Manglares genannt“, schreibt Tomás González, „weil der Mangrovenwald ein dichter Lebensraum ist, der weder Meer noch Land ist und der Meer und Land ist, das heißt, der alles ist. Im Mangrovenwald ist alles vorhanden, sogar Abfall. Licht und Schatten erreichen ihre äußerste Intensität und zeigen sich in all ihren Nuancen. Diese Form strebe ich in meinem Buch an oder versuche ihr zumindest nahe zu kommen.“

„Mangroven“ ist González’ einziger Gedichtband, eine Art Autobiographie, an der er im Lauf der Jahre immer weiter schrieb, seine verschiedenen Fassungen berichtigte, modifizierte, neue Verse einfügte, so wie ein Biotop sich „berichtigt“ und immer neu erfindet, um den Sturmwellen der Natur widerstehen zu können. Die erste Fassung von Manglares ist 1997 erschienen, die zweite 2006, die dritte 2013. Wie in der Natur auch zeigt die Dichtung in Manglares/Mangroven den Verlauf seines Dichterlebens, aber es ist keine Autobiographie, kein Reisetagebuch, keine Poesie der Innerlichkeit und ist doch alles das sowie die Zivilisation, die Züge und die Fabriken, die städtischen Katastrophen und die ökologischen Zerstörungen. „Mangroven“ durchwandert Meer und Gebirge, Familienerinnerungen und Träume der Vögel und ihre Laute, die Tiere, die Insekten, die Heimatorte, die Genealogie und die Reisen und Mühen des Autors, seine Verluste und seinen Schmerz, die Außen- und seine Innenwelt. Wie Wasser sich verwandelt, vom Sturzregen in einen heiteren See, von tobenden Wellen hin zu einem besinnlich stimmenden Tautropfen, so treten der Schlamm, die Gewalt der Lawine, das Leichenfeld auf. Diese Gedichte sind Kolumbien und die Früchte und Fauna und Flora dieses Landes, zusammen mit den Plastiktüten, dem Industrieabfall, dem Müll, mit den Orten und den Klängen dieser Orte und sie sind auch Louisiana, New Orleans, Miami, New York, die Niagarafälle.

Worte, die das Gedächtnis besetzen wie eine unwiderstehliche Naturkraft, wie eine Horde von Überlebenden, im Kleinen wie im Erhabenen. Eine großartige Dichtung über das Winzige, das Verschiedene und das Mehrfache, in allen Formen des Wassers, welche Formen des Lebens, Poetik des Werdens sind.

Natürlich stellt die Übersetzung eines solchen poetischen Werks eine einzigartige Herausforderung dar, nicht allein weil Wörter vorkommen, die aus dem Lebensraum der kolumbianischen Küste stammen, sondern und vor allem wegen des Klangs dieser Dichtung. Klänge, die alle Formen der Materie evozieren, alle Gewalten der Natur und den Verschleiß und die Kontamination der Industrie. Eine Einfachheit des Ausdrucks, die Tiefe abbildet, Zeugnisse von Verlusten und bleibendem Schmerz. Drei ÜbersetzerInnen stellten sich der Herausforderung, diese machtvolle Energie ins Deutsche umzugießen: Karina Theurer, Gert Loschütz und Peter Schultze-Kraft.

„Jeder von uns hat nach der bewährten Mehrere-Augen-Methode an jedem einzelnen Gedicht gearbeitet“, erzählt Peter Schultze-Kraft, der ein scharfsinniger Kenner der Prosa von Tomás González ist, da er fast dessen ganzes erzählerisches Werk ins Deutsche übersetzt hat. Karina Theurer hat die erste Version gemacht, ich habe sie überarbeitet und dann an den Schriftsteller und Dichter Gert Loschütz weitergegeben. Die jeweils neuen Fassungen wurden von den anderen Mitübersetzern kommentiert; außerdem hat es laufend Konsultationen mit dem Autor gegeben. Zusammengenommen haben die drei Übersetzer etwa zehn Stunden für jedes Gedicht aufgewendet. Keiner von uns dreien hätte das jetzt vorliegende Ergebnis allein zustande gebracht.“

Übersetzung: Barbara Schuchard