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Das Buch der Erinnerungen

„Der Traum von Rückkehr“ von Horacio Castellanos Moya

„Kleine Länder wie El Salvador leben hauptsächlich von den Auslandsüberweisungen ihrer Intellektuellen. Und das, obwohl diese Gesellschaftsgruppe nicht gerade auf der Agenda der Regierung steht. Eigentlich interessiert sich die salvadorianische Regierung auch kaum für ihre Intellektuellen. Sie vertreibt sie eher aus dem Land, als etwas dafür zu tun, um sie zum Bleiben zu überzeugen. Auf ihrem Tagesplaner stehen vorrangig Kriminalität und Armut.“ Das waren die ersten Worte von Horacio Castellanos Moya über El Salvador, nachdem er dem Publikum, das zur Präsentation seines Romans „Der Traum von Rückkehr“ gekommen war, zunächst seine Freude darüber vermittelt hatte, nach so vielen Jahren wieder in Frankfurt am Main zu sein. 2004 war Castellanos Moya von der Stadt Frankfurt und der Frankfurter Buchmesse im Rahmen des Programms „Stadt der Zuflucht“ eingeladen worden: Mindestens ein Jahr lang sollte er dort seinen schriftstellerischen Tätigkeiten nachgehen können, lediglich unterbrochen durch seine legendären Streifzüge zu Fuß durch die Bankenmetropole am Main, die er noch heute gerne Revue passieren lässt.

Ute Evers

Man hatte tatsächlich den Eindruck, dass man einem großen Familientreffen beiwohnte, viele FreundInnen waren gekommen, die Horacio mit offenen Armen begrüßte. Der nüchtern anmutende Saal des „Haus des Buches“ füllte sich bis auf den letzten Stuhl mit fröhlichen und erwartungsvollen Gesichtern, obwohl doch die Literatur des 1957 in Honduras geborenen und in El Salvador aufgewachsenen Schriftstellers alles andere als heiter ist. Bis heute kreisen seine Bücher um die Gewalt in Zentralamerika (hier vor allem um den Bürgerkrieg in El Salvador) und ihre langfristigen Auswirkungen auf das Leben der Menschen.

In seinem jüngst auf Deutsch vorliegenden Roman „Der Traum von Rückkehr“ findet sich die Hauptfigur, der Ich-Erzähler Erasmo Aragón, in einer ziemlich verzwickten Situation wieder. Man schreibt das Jahr 1991. Neben seiner ernsthaften Ehekrise peinigen den Journalisten existenzbedrohende Leberschmerzen, die auch nach fünf Tagen Alkoholabstinenz nicht abgeklungen waren. Da sein Leib- und Seelenarzt Pico Molins in seine Heimat nach Katalonien zurückgekehrt ist, wendet er sich schließlich an Don Chente Alvarado, jenen Arzt, den ihm sein Onkel Alberto Aragón, El Muñecón genannt, empfohlen hat. Seine Vorurteile ihm gegenüber sind groß: „Ich rechnete mit einem Schulmediziner, der mich unnötigerweise mit Medikamenten vollpumpen und mir ein Vermögen abknöpfen würde, schließlich war dieser Don Chente... vor dem Bürgerkrieg in El Salvador sehr beliebt bei den Reichen gewesen und hatte ins Exil gehen müssen, weil er so unvorsichtig gewesen war, einen Verletzten zu behandeln, der sich im Nachhinein als Guerillakämpfer erwies.“

Aber Don Chente verschreibt ihm weder teure Medikamente, noch knöpft er ihm ein Vermögen ab. Wohlhabend ist er, das ja. Aber eigentlich praktiziert der 70-Jährige nicht mehr, nur noch für Freunde oder für Freunde von Freunden, erklärt er dem Ich-Erzähler zu Beginn. Und obwohl ihm dabei nicht besonders wohl ist, er war ja wegen seiner Leberschmerzen zu ihm gekommen, antwortet er schließlich auf alle Fragen seines neuen Arztes, der sich nach seiner Kindheit, insbesondere nach der Beziehung zu seinem Vater erkundigt. Bei jeder Sitzung macht sich der Arzt sorgfältig Notizen in einem kleinen Buch.

Zwischen den Sitzungen versucht Aragón, mit seinen Reisevorbereitungen weiterzukommen. In ein paar Wochen will er nach El Salvador zurückkehren. Auch der Journalist sah sich während des Bürgerkriegs dort schließlich gezwungen, ins mexikanische Exil zu gehen, andernfalls wäre er wegen seiner Aktivitäten in der Guerilla von seinen Landsleuten „durchsiebt“ worden. Nun hätte er die Möglichkeit, bei einer Zeitschrift zu arbeiten und ein neues Leben zu beginnen. Ein guter Zeitpunkt jetzt, wo die Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Guerilla voranschritten. Obwohl er noch ein Kind war, als er mit seinen Eltern nach El Salvador übersiedelte, empfindet er dieses Land als seine Heimat. Unter Hypnose, die der Arzt als unumgänglich zur psychischen Heilung verschreibt, wird er noch viel mehr erzählen. Doch weder er noch die LeserInnen werden je erfahren, was Don Chente ihm während der Hypnose entlockt. Denn auch Don Chente wird unerwartet verschwinden, und zwar nach El Salvador. Und mit ihm das Notizbüchlein.

Bis zu diesem Moment lauert die Spannung nur im Hintergrund. Sie ist seit der ersten Seite spürbar, war aber an nichts Konkretem festzumachen. Nun aber bekommt sie einen Namen: Wer war Don Chente eigentlich? Was würde er mit den Notizen anfangen, die er sich während der Therapiegespräche gemacht hatte? Was hat ihm Aragón während der Hypnose alles erzählt? Hatte der Journalist schon zuvor leise Bedenken, sich ein Ticket nach El Salvador zu kaufen, so werden diese jetzt lauter. Was wird aus seinem Traum von Rückkehr und Neuanfang? Angst und Paranoia machen sich bei ihm breit, Bilder von damals, aus dem Bürgerkrieg, kommen hoch. Die Leberschmerzen scheinen vergessen. Durch den Erinnerungsprozess, den die Fragen des verschwundenen Don Chente bei ihm auslösen, wird ihm zudem jäh bewusst, dass seine Großmutter seine frühesten Kindheitserinnerungen manipuliert hatte. „Wahrheit ist Erinnerung, durch die unser Leben erst einen Sinn erhält“, sagte Castellanos Moya auf der Veranstaltung, um das Ausmaß der Verzweiflung seines Protagonisten zu beschreiben, der nicht einmal mehr seiner eigenen Erinnerung trauen kann.

Erinnerung und Exil sind zwei zentrale Themen, die Castellanos Moya zum Gegenstand seines Romans macht. Kaum eine Figur tritt auf, die nicht direkt oder indirekt vom Exil betroffen ist. Zusehends kristallisiert sich dabei auch die Frage heraus, wie Menschen fühlen, die inmitten von Gewalt aufgewachsen sind. Er verbindet diese Elemente geschickt mit einer individuellen Geschichte, lässt dabei auch seiner nachvollziehbaren politischen Desillusion freien Lauf, etwa wenn es an mehreren Stellen um die menschliche und politische Einschätzung der KommunistInnen geht, an deren Seite er während der Guerilla kämpfte.

Die Themen und Stimmungsbilder, die er in eine teils humorvolle, teils distanziert harte Sprache bettet, gehen zweifelsohne auf eigene Erfahrungen zurück, nehmen mitunter autobiografische Züge an.

Castellanos Moya engagierte sich von 1981 bis 1984 im salvadorianischen Bürgerkrieg (1980-1992). 1989 noch für seinen ersten Roman La Diaspora mit dem nationalen Romanpreis der Universidad Centroamericana in San Salvador (UCA) ausgezeichnet, musste er 1997 die Entscheidung treffen, San Salvador den Rücken zu kehren. Castellanos Moya war zu jener Zeit in Guatemala als Journalist tätig. Anlass war die Publikation seines Romans El asco. Thomas Bernhard en San Salvador (1997), in dem er mit der von Korruption, Gewalt und Frustration geprägten Nachkriegsgesellschaft seines Landes gnadenlos ins Gericht ging. Bereits mit seinen ersten Erzählungen gewann er mehr Feinde als Freunde. Nun erreichten ihn Morddrohungen, die seine in El Salvador lebende Mutter für ihn erhielt. Er ging daraufhin nach Mexiko ins Exil (mittlerweile lebt er, nach einigen Zwischenstationen in Europa, in den USA).

Castellanos Moya zeichnet sich neben seinem Talent, Geschichten zu kreieren und diese spannend miteinander zu verknüpfen, auch durch seine gelungene Erzählweise aus: Er nennt seine Literatur selbst literatura a secas, mit der er sicherlich zu den besten zeitgenössischen Erzählern der Region zählt. Seine Romane Donde no estén ustedes1, (2003), Desmoronamiento (2006), Tirana memoria (2008), La sirvienta y el luchador (2011) und El sueño del retorno (2013) können als Saga der Familie Aragón aus El Salvador gelesen werden, wobei jeder Titel einen abgeschlossenen Plot darstellt, so dass, erklärte Castellanos Moya, jeder Roman für sich alleine stünde und unabhängig von den anderen gelesen werden könne.

2014 erhielt er mit dem Premio Iberoamericano de Narrativa Manuel Rojas die höchste literarische Auszeichnung, die der chilenische Rat für Kultur und Kunst jährlich mit einer unabhängigen internationalen Jury verleiht. Es waren die Schriftsteller Ana María Shua (Argentinien), Santiago Roncagliolo (Peru), Edmundo Paz-Soldán (Bolivien) und die Chileninnen Chantal Signorio y Patricia Espinosa, die sich für die Auszeichnung des umfangreichen und in viele Sprachen übersetzten literarischen Werkes von Horacio Castellanos Moya entschieden. Erstmalig wurde dieser Preis 2012 verliehen, er ist mit 60.000 US-Dollar dotiert, was ihn zu dem wichtigsten Literaturpreis im iberischen und lusitanischen Sprachraum macht. 2012 erhielt ihn der Brasilianer Rubem Fonseca und 2013 der Argentinier Ricardo Piglia. Dieses Jahr wurde die mexikanische Schriftstellerin Margo Glantz mit dem Preis ausgezeichnet.