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Exkursionen in den Kontinent der Fülle

Salsa Rica, Tango Caliente. Eine musikalische Reise durch Lateinamerika
Britt Weyde

Der cubanische Schriftsteller Alejo Carpentier schrieb, dass die lateinamerikanische Musik ihre Identität von unten erhalten hat – von anonymen AmateurmusikerInnen vom Land und aus den Stadtvierteln der unteren Schichten. Die kontinuierliche Auseinandersetzung zwischen Eigenem und Fremdem während der Kolonialzeit hat einen unglaublichen Reichtum an Stilrichtungen, Liedern, Tänzen, Rhythmen und Instrumenten hervorgebracht. Trotz der ästhetischen Vielfalt gibt es aufgrund einer gemeinsamen „Geschichte von Anpassung und Widerstand“ viele Parallelen und Berührungspunkte in den musikalischen Welten Lateinamerikas. Der Musikwissenschaftler und Romanist Cornelius Schlicke erkundet in Salsa Rica, Tango Caliente diese historisch gewachsenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Wer sich von dem klischeehaften Titel nicht abschrecken lässt, kann auf den Exkursionen einiges entdecken. Der Autor weist darauf hin, dass sein Werk keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe, sondern vielmehr „einigen grundsätzlichen Fragestellungen exemplarisch“ nachgehe und als Einführung in die populäre Musik Lateinamerikas zu verstehen sei.

Ausgangs- und Endpunkt der Reise ist Cuba, eine der bevorzugten Regionen des Autors, über die er profundes Hintergrundmaterial und schöne Anekdoten bereitstellt. Ein ganzes Kapitel widmet sich den „alten Männern“ vom Buena Vista Social Club: Schlicke seziert gekonnt den Mythos von Unberührtheit, Authentizität und Verfall, den dieses musikalische Projekt umgibt – vor allem im Zuge seiner filmischen Inszenierung von Wim Wenders – und der so viele Sehnsüchte weckte, Klischees verstärkte und Kassen klingeln ließ.

Weiter geht's in die USA, genauer nach New York, wo in den 1970er-Jahren von lateinamerikanischen ImmigrantInnen, vor allem PuertoricanerInnen, die Salsa aus der Taufe gehoben wurde. Aus der Musikszene Mexikos greift sich der Autor die Narcocorridos heraus und stellt kenntnisreich dieses frappierende, kommerziell sehr erfolgreiche Kooperationsmodell zwischen Musikern und Drogenkartellen dar. Die nächste Station ist Guatemala, wo der Frage nachgegangen wird, ob das Nationalinstrument, die xylofonartige Marimba, von den Göttern der indigenen Bevölkerung noch vor Ankunft der Kolonisatoren oder von den aus Afrika verschleppten Sklaven mitgebracht wurde. Hundertprozentige Gewissheit gibt es nicht, eines jedoch wird klar: Die Vorstellungen davon, was „richtig“ oder „schief“ klingt, relativieren europäische Hörgewohnheiten (S. 115).

Die Kapitel zur Cumbia in Kolumbien und Chicha in Peru stellen das persönliche Steckenpferd der Rezensentin zufrieden (siehe auch ila Nr. 353 zu Cumbia). Bei der Exkursion in die Andenländer gerät der Autor ins Schwärmen. Offensichtlich hat es ihm der Huayno, eine in Bolivien und Peru weit verbreitete Lied- und Tanzform angetan: „Sie [die halbtonlosen Fünftonskalen] verleihen der Huayno-Musik (…) eine betörende Wirkung, voll träumerischer Wehmut und zugleich von positivem Charme, einer Attitüde offenherziger Geselligkeit.“ (S. 153).

Nüchterner, vor allem politischer wird es in dem umfangreichen Abschnitt zur Canción Protesta. Hier stellt Schlicke die gesellschaftlichen Hintergründe für die Entstehung dieses länderübergreifenden Phänomens dar und porträtiert die wichtigsten VertreterInnen der musikalischen Bewegung in Argentinien, Uruguay, Chile, Cuba, Nicaragua, Mexiko, Venezuela und Brasilien. Das animiert dazu, die alten Vinylplatten hervorzukramen und sich etwa „El arriero“ des argentinischen Sängers Atahualpa Yupanqui anzuhören: „Die Mühen und die Kühe, sie teilen denselben Weg. Die Mühen sind unsere, die Kühe gehören jemand anderem.“ (S. 178)

In Argentinien hält sich Schlicke länger auf, ein Kapitel widmet sich dem „Boom der Neofolklore“ in den 1950er- und 1960er-Jahren, was dankenswerterweise die Vorstellung von argentinischer Musik als auf den Tango begrenzt relativiert. Spätestens hier fällt jedoch auf, was auch für andere Kapitel gilt: Die Verbindungen zum aktuellen Musikgeschehen sind etwas spärlich bzw. praktisch inexistent. Der Autor konzentriert sich auf die historische Herleitung und bestimmte Hochphasen einzelner Genres im 20. Jahrhundert. Denn „Neofolk“ made in Argentina ist ja immer noch ein großes Ding, so hat z.B. „La Soledad“ um die Jahrtausendwende ein (Neo)neofolk-Fieber ausgelöst und wahnwitzig viele Alben verkauft. Aber gut, auch bei der Auswahl der dargestellten Zeitabschnitte ist Begrenzung vonnöten.

Für einige Genres hat der Autor Notenbeispiele zusammengestellt (z.B. auf S. 266 die rhythmischen Grundmuster der Capoeira, die Toques) oder erklärt, ganz Musikwissenschaftler, Harmoniefolgen. Diese sehr genauen Erläuterungen treten vereinzelt auf – besser so, denn wenn dies durchgehend passierte, wäre das Werk um einiges voluminöser und die Lektüre ermüdender. Erhellend sind die Beispiele allemal. Wer sich die Mühe macht, die verschiedenen Rhythmen z.B. nachzuklopfen, bekommt so ein sinnlicheres Verständnis von der erklärten Musik.

Zu den musikwissenschaftlichen gesellen sich die literaturwissenschaftlichen Qualitäten des Autors, der für die Leserschaft schockierende Originalquellen ausgegraben hat, die überheblich rassistische Werturteile entblößen. So sagte z.B. der Forscher Alexander von Humboldt : „Kein Pöbel schreit zur Gitarre so rabenartig durchdringend und kläglich als [der] span[ische] und creol[ische] Pöbel, und doch zieht eine Schar Menschen, dieser Töne lüstern, den Singenden nach“. (S. 299) Kurzum, Cornelius Schlickes Streifzüge durch die lateinamerikanische Musik sind für AnfängerInnen wie Fortgeschrittene gleichermaßen anschaulich und aufschlussreich.

Cornelius Schlicke, Salsa Rica, Tango Caliente. Eine musikalische Reise durch Lateinamerika, parthas Berlin, 2012, 368 Seiten, 19,90 Euro