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Brasilien ist einfach nicht mehr bezahlbar

Interview mit einem brasilianischen Aktivisten über die Massenproteste

Ich treffe Wladimir am Beet vor seinem Haus, für das er Pflanzen ausgesucht hat, die den Winter überstehen. Er lebt seit zehn Jahren in Deutschland. Fieberhaft verfolgt er die Proteste in Brasilien und beteiligt sich an Solidaritätsaktionen in Deutschland.

Anja Lenkeit

In vielen deutschen Medien wird darauf hingewiesen, dass die Demonstrierenden aus der Mittelschicht seien und dass in Brasilien doch Vollbeschäftigung herrsche. Wie schätzt du die Gründe für den Protest ein?

Diese Lügen machen mich so wütend! Wir haben eine Arbeitslosenquote von über 6 Prozent. Die Menschen, die in den Favelas leben, bekommen keine oder nur eine schlechte Schulausbildung und miserable Jobs. Der Mindestlohn beträgt 650 Euro pro Monat. Ein Grundschullehrer verdient 350 Euro. Er muss von morgens bis abends Unterricht geben. Nun sind die Lehrer auf der Straße und sagen: „Der Unterricht findet heute auf der Straße statt. Und die Hausaufgabe ist es, Brasilien zu verändern! Wir wollen so luxuriöse Einrichtungen wie die FIFA Stadien bekommen hat.“

In den Favelas werden täglich Menschen von der Polizei umgebracht. In Salvador da Bahia, wo ich aufgewachsen bin und meine Schwester heute noch lebt, ist es ebenso. Sie sagt: „Bleib in Deutschland! Hier ist es wie im Krieg.“ Für die WM wurden die Favelas um die Stadien herum geräumt, damit alles schön aussieht. In Rio de Janeiro wurde sogar ein Museum der Indigenen abgerissen, um auf dem Grundstück einen Parkplatz zu bauen. Die Indigenen haben mit der Bevölkerung demonstriert, aber die Polizei und das Militär haben die Demos mit Gummigeschossen und Tränengas aufgelöst. Oder der Bau des Staudamms Belo Monte, der in einem Reservat gebaut wurde und für den Indigene von ihrem Lebensraum vertrieben wurden. In dieser Region sollen noch vier oder fünf weitere Staudämme gebaut werden. Die Umwelt Brasiliens gehört nicht nur uns, sie gehört der ganzen Welt. Woher kommen die Turbinen für diesen Staudamm? Aus Deutschland! 

Die Aufgabe der Regierung wäre es, diese Abkommen zu überprüfen. Wer dieser Planung zugestimmt hat, ist offensichtlich korrupt. Dass die Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei dem Bau zugestimmt hat, kann ich nicht verstehen. Warum macht sie da mit, was bekommt sie dafür? Ihre Tochter war mittellos und jetzt ist sie eine erfolgreiche Geschäftsfrau mit über 20 Firmen. Wie ist das passiert? Auch der Sohn von Lula da Silva war früher Arbeiter und heute ist er ein erfolgreicher Unternehmer. Rousseff ist eine von uns, sie hat früher mit dem Gewehr in der Hand gegen die Militärdiktatur gekämpft. Wir sehen, dass die WM 11 Milliarden Euro kostet und wir gehen singend auf die Straße und bitten um eine Antwort: Warum sind unsere Schulen und Krankenhäuser unterversorgt, warum können Kaffeebauern von ihrer Ernte nicht leben? Als Antwort bekommen wir Tränengas und Gummigeschosse.

Wer ist verantwortlich für die Eskalation?

Auf Videos im Internet kann die Welt mit eigenen Augen sehen, wie Polizisten ihre Uniform ausziehen, sich in Zivilkleidung unter die Demonstranten mischen und mit der Gewalt anfangen. Sie zerschlagen Fenster, zünden Autos an. Daraufhin greift die Polizei die Demonstranten an. Die Bewegung ist friedlich, sie will keine Gewalt. Aber ich kann es niemandem verdenken, der aus der Peripherie kommt, der keine Schulbildung genießen durfte, der in Armut lebt, dass er dann von einer Masse mitgerissen wird, in der die Rechte Parolen gegen die Korruption ruft, dass er dann wütend ist, wenn er an einer Bank vorbeikommt, und meint, da haben manche zu Unrecht alles und ich nichts. Seit 500 Jahren werden die Armen unterdrückt. Wenn dann einer ruft: „Werft Steine!“, dann machen sie es.

Es ist ein Problem, dass viele Menschen nichts über Politik lernen konnten und sich von der Politik nur manipuliert und gelangweilt fühlen. Sie gehen auf die Straße und fordern direkt alles. Sie werden schnell müde. Man muss kleine Schritte machen, so wie jetzt die erfolgreiche Rücknahme der Erhöhung der Preise im öffentlichen Verkehr. Sie wollen einfach die Präsidentin stürzen, aber wer kommt danach? Das ist ein böser Plan der Rechten! Sie wollen wieder eine Militärdiktatur und damit wäre alles, wofür wir seit Jahrzehnten kämpfen, zunichte. Wenn ich jemanden sehe, der ein Schild hält und etwas Unrealistisches verlangt, wie z.B. die Abschaffung der Korruption, oder „Ich habe keine Partei, ich habe nur Liebe für mein Land“, weiß ich sofort: Da hat Rechte die Hand im Spiel, die Reaktionären, Rassisten, Nazis. Auch nach Brasilien sind viele ehemalige Nazis aus Deutschland gekommen. Viele waren im Militär aktiv, wir hatten sogar einen Militärpräsidenten mit deutschen Wurzeln. Aber mit dem Slogan der Rechten „Keine Parteien!“ sollen erneut NGOs und indigene Verbände ausgeschlossen werden.

Brasilien hatte 2011 ein Bruttoinlandsprodukt von 2,5 Billionen Dollar. Deutsche Firmen wie Siemens oder die Rüstungsindustrie profitieren von unseren Steuergeldern. Die Regierung denkt, dass sie die Bevölkerung mit Brot und Spielen ruhig stellen kann. Aber das reicht uns nicht! Bei der Bevölkerung hat es „klick“ gemacht. Eine Karte für die WM kostet 150 bis 200 Euro. Ein Normalverdiener, eine Angestellte oder junge Ärzte verdienen 340 Euro. Die Menschen haben gemerkt, diesmal gibt es nur Brot, die Spielarena wurde nicht für uns gebaut. Also: Feuer in die Arena!

Bekommt ihr Unterstützung von Nationalspielern?

Pelé hat sich vor die Demonstranten hingestellt und gesagt, sie sollten nach Hause gehen und für die brasilianische Mannschaft jubeln. Er lebt in den USA und hat da sein Geschäft aufgebaut. Er war Sportminister, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er kapiert hat, worum es geht. Wenn er nicht Pelé wäre, hätte die Polizei ihn ebenfalls geschlagen. Sie sieht die Hautfarbe und glaubt sofort, einenN SchwarzeN und damit eineN KriminelleN vor sich zu haben. Auch Ronaldo hat sich positiv über den Bau von Stadien geäußert. Die Leute müssen in den Krankenhäusern drei Stunden auf ihre Versorgung warten. Leute, die ein Rezept bekommen müssen, warten bis zu fünf Monate! Auf einer Babystation müssen die Neugeborenen in Pappkartons statt in Betten liegen. Es gibt zu wenige Krankenhäuser und Ärzte. Es müssen mehr Universitäten in Brasilien gebaut werden, um mehr Ärzte auszubilden. Die Menschen auf der Straße bitten um eine Ausbildung. Warum gibt es diese nicht für sie, wenn doch das Geld da ist. Wer steckt das Geld ein?

Es gibt auch Stimmen wie die von Ex-Fußballspieler Romário, der für die Sozialistische Partei im Bundesparlament sitzt. Er meinte, Pelé solle sich mit seinem Schuh den Mund stopfen. Er hat den Rücktritt des brasilianischen Verbandspräsidenten Marin gefordert, der unter der Militärdiktatur Gouverneur war! Kein Fußballspieler ist mit uns auf der Straße. Sie verpassen den Zug der Geschichte, genau wie die Präsidentin. Sie hätte keine leeren Worte über die Kameras senden, sondern mit uns kämpfen sollen. Wenn jetzt im deutschen Fernsehen Leute interviewt werden, die mit Dilmas Aussagen zufrieden sind, dann sind sie gekauft oder unpolitisch.

Wie siehst du die Rolle der Kirche?

Die katholische und die evangelikalen Kirchen beherrschen die Massen. Sie haben die Macht, Vorschriften zu machen, und drohen mit der Hölle. Die Kirche hat schon bei der Kolonisation Macht ausgeübt. Erst wurden Menschen erschossen, dann wurde eine große Messe gefeiert. Heute ist das genauso. Menschen wurden auf der Straße erschossen und die Kirche feiert Gottesdienst. Der Präsident der Menschenrechtskommission, Pastor Marcos Feliciano, ist ein christlicher Fundamentalist. Sein erstes Projekt war die Cura Gay. Dies bedeutet, dass Homosexuelle sich „heilen“ lassen sollen. Sie müssen ins Krankenhaus, als ob sie eine Krankheit hätten. Jemand, der so denkt, kann nicht die Menschenrechte verteidigen, er muss abgesetzt werden, sofort! Es ist das Recht jedes Menschen, zu entscheiden, wie er leben will, wen er liebt und welches Geschlecht er haben will.

Brasilien ist ein wunderbares Land, aber nicht mehr bezahlbar. Ich spreche von der Masse, die in der Peripherie lebt und stundenlang mit dem Bus in die Stadt zur Arbeit fahren muss. In ihren Orten gibt es kaum Infrastruktur, keine guten Schulen, kein Krankenhaus. Wenn die Menschen dort abends auf die Straße gehen, werden sie vielleicht von der Polizei erschossen. Bis heute werden die Schwarzen diskriminiert. Ein aktuelles Beispiel: Bei den Protesten ist die Bezeichnung „Vandalin“ für eine schwarze Demonstrantin gefallen, aber die weißen werden Demonstranten genannt. Auch die Inflation kommt langsam wieder und die Menschen haben eine furchtbare Angst. Wir wissen ganz genau, was Inflation bedeutet! Wir haben damals unseren Monatslohn erhalten und sofort mit dem kompletten Lohn Lebensmittel gekauft. Wir wussten, nur einen Tag später ist alles teurer. 

Kinder, sie zu einer Privatschule gehen, haben bereits eine Zulassung zur Uni sicher. Wer aber von einer öffentlichen Schule kommt, hat nicht das Wissen vermittelt bekommen, um den Eignungstest der Uni bestehen zu können. Heute ist es durch Lula da Silva und Fernando H. Cardoso besser geworden, die Armut wurde verringert, die Krankenversorgung verbessert, öffentliche Schulen auch für Schwarze geöffnet, aber das ist noch lange nicht genug. 

Wie wichtig ist das Internet für die Bewegung?

Sehr wichtig. Wenn ich bei Facebook bin, kann ich sehen, was in dieser Sekunde in Brasilien passiert. Meine Familie ist aktiv, ich bin gut vernetzt und so können wir unsere Ideen verbreiten. Es steht keine zentrale Planung hinter allem. Man schaut ins Internet, wo das nächste Treffen auf offener Straße stattfiundet. Für den 1. Juli ist ein Generalstreik geplant. 

Hast du Angst, dass sich die Bewegung ohne zentrale Planung verlieren wird?

Ich habe Angst, dass die Rechte, dass das Militär zurückkommt und Brasilien wieder in dunkle Zeiten führt, wie in den arabischen Ländern. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass sich der südamerikanische Frühling ausbreiten wird! Es hat in Brasilien begonnen, nun geht es weiter in Paraguay. Wir wollen gehört werden. Ein leises Lied, ein romantisches Gedicht ist schön, aber es stört nicht und wird nicht gehört. Wir wollen Freiheit und Gerechtigkeit. Wir sind genügend Leute und klug genug, dass wir das wissen und dafür kämpfen, dass Freiheit über allem steht.

Das Interview führte Anja Lenkeit im Juni 2013 in Köln.