ila

Unsere Liebe Jungfrau von Guadalupe

Wie eine katholische Heilige zum Nationalsymbol mexikanischer Einheit wurde

Die Jungfrau von Guadalupe ist überall in Mexiko präsent. Ihr Abbild wird in den Alltag integriert und ziert Markthallen, Autos und Büros. Ein mexikanisches Kinderlied erzählt: Era mexicana la guadalupana und viele MexikanerInnen bestätigen, dass Guadalupe eine Mexikanerin sei, obwohl sie zugleich die Mutter Jesu und somit Maria aus Nazareth darstellt. Nahezu alle Kirchen Mexikos beherbergen eine Statue oder ein Bild Guadalupes, das oft neben einer mexikanischen Nationalflagge steht. Woher kommt diese enge Verbindung zwischen Guadalupe, mexikanischer Identität und nationaler Rhetorik in einem Staat, der sich mehr als viele andere durch eine strikte Trennung von Kirche und Staat auszeichnet?

Caterina Nicolai

Als Mutter Jesu entstammt sie zweifellos dem christlichen Glauben und wurde von spanischen Eroberern Anfang des 16. Jahrhunderts nach Mexiko gebracht. Ein Großteil dieser Conquistadores stammt aus der spanischen Provinz Extremadura. Dort beherbergt ein Kloster ein Gnadenbild der spanischen Guadaluape, eine schwarze Madonna mit Kind, welches der Legende nach aus dem 8. Jahrhundert stammt. Im Zuge der geistigen Eroberung, der conquista espiritual durch spanische Missionare, wurden indigene Tempel zerstört und die Ausübung des alten Glaubens hart bestraft. Christliche Heilige ersetzten indigene Götter, wobei darauf geachtet wurde, dass Charakteristika und Funktionen der Heiligen in etwa mit denen der jeweiligen Götter übereinstimmten. Dadurch sollte die Missionierung beschleunigt werden.

So kam es aber zu einem Synkretismus zwischen indigener und christlicher Religion. Die Spanier konnten es nicht völlig vermeiden, dass unter dem Deckmantel christlicher Heiliger die alten Götter weiterhin angebetet wurden. Der Franziskanermissionar Bernardino de Sahagún erzählt 1576 in seinem Werk Historia general de las cosas de Nueva España von der indigenen Göttin Tonantzin (unser Mütterchen), welche die wichtigste Göttin der Azteken gewesen sei und als Trägerin der heiligen Prinzipien von Leben und Tod verschiedene Erdmütter repräsentierte. Sahagún berichtet weiter, dass am Berg Tepeyac im Norden Mexiko-Stadts der Kult der Tonantzin weiterlebe. Schon zu präkulumbianischer Zeit sei dieser Ort Wallfahrtsort der Azteken gewesen und heute spreche man Tonantzin mit Guadalupe an, eine Vermischung, die zu unterbinden sei. Dies ist eines der frühesten Zeugnisse der Guadalupe-Tradition. Derselbe Ort auf dem Berg Tepeyac ist heute einer der größten Wallfahrtsorte der Welt. Die 1975 eröffnete moderne Basílica de Guadalupe fasst bis zu 40 000 Menschen, die zumindest am Festtag der Guadalupe am 12. Dezember zur Basilika pilgern.

Soweit die historischen Hintergründe. Nun zum Kult der Guadalupe, der weder mit der spanischen Guadalupe noch mit Tonantzin in Verbindung steht. Schon längst ist die Erinnerung an die einst so wichtige Erdgöttin verschwunden und ringt als kulturelles Erbe neben vielen anderen in Museen um Aufmerksamkeit. Seit Jahrhunderten feiert man in Mexiko die indigen anmutende Guadalupe und das Guadalupe-Ereignis, auch Blumenwunder genannt. Auf diese religiöse Legende gründet die Guadalupeverehrung in Mexiko. Sie lautet wie folgt: Im Jahr 1531, als der missionierte Indigene Juan Diego den Berg Tepeyac passierte, vernahm er den Ruf seines Namens. Auf dem Berg erschien ihm Maria und rief ihn auf, den Erzbischof um die Errichtung eines Tempels zu bitten. Juan Diego wurde vom Erzbischof angehört und abgewiesen, worauf Maria erneut mit derselben Bitte vor Juan Diego erschien und dieser wieder bei der Anhörung abgewiesen wurde.

Diesmal forderte der Erzbischof aber einen Beweis der Erscheinung. Maria befahl Juan Diego, am darauffolgenden Tag erneut den Berg aufzusuchen, um den Beweis zu empfangen. Da aber Juan Diegos Onkel Juan Bernardino erkrankte, blieb er zu Hause und ging erst am 12. Dezember Richtung Hauptstadt, um einen Priester für die Letzte Ölung zu suchen. Maria erschien und beruhigte ihn, sein Onkel sei bereits geheilt. Auf dem Gipfel des Berges sollte er Rosen pflücken, die dem Erzbischof als Zeichen dienen sollten. Gleichzeitig erschien Maria vor Juan Bernardino, heilte ihn und gab sich als Guadalupe zu erkennen. Als Juan Diego vor dem Erzbischof seine Tilma1 öffnete, in der er die Rosen gesammelt hatte, erschien auf dieser das Bildnis der Jungfrau. Der Erzbischof Zumárraga kniete vor Juan Diego nieder, rahmte dann die tilma mit dem wundersamen Bild ein und überführte sie feierlich in die Kathedrale von Mexiko-Stadt. Sogleich errichtete er die Wallfahrtskapelle am Tepeyac, wo heute die Basílica de Guadalupe steht. In ihr wird noch immer der Umhang mit dem Bild der Guadalupe verehrt, der zur wertvollsten Reliquie Hispanoamerikas zählt und die Verbindung des mexikanischen Volkes zu Gott beweisen soll.

Wie kommt es aber zur engen Verflechtung Guadalupes mit dem mexikanischen Nationalstolz? Diese Erscheinungserzählung, die auf 1531 datiert wurde und die Grundlage der mexikanischen Guadalupe-Tradition bildet, wurde schriftlich erstmals 1648 in der Schrift des kreolischen Priesters Miguel Sánchez erwähnt. Für einige, die nicht an das Guadalupe-Wunder glauben, wird Sánchez deshalb als Erfinder der Guadalupe-Tradition angesehen, so auch von dem Historiker Jacques Lafaye, der sich intensiv mit Guadalupe als Gründerin des mexikanischen Nationalbewusstseins befasste. Andere Historiker gehen davon aus, dass die Erscheinungslegende in volkstümlicher, mündlicher Art schon lange existiert habe. Der wichtigste Text für alle Gläubigen der Guadalupe-Erscheinung wurde vom Vikar der Guadalupe-Kirche Lasso de la Vega 1649 veröffentlicht. Es beschreibt das Guadalupe-Ereignis in Náhuatl, der Sprache zahlreicher indigener Ethnien Mexikos, unter dem Titel Nican Mopohua. Auf ihm basieren die meisten Erscheinungserzählungen. Einige Historiker schreiben diesen Náhuatl-Text dem indigenen Antonio Valeriano um 1552 zu, der ZeitzeugInnen des Blumenwunders hätte kennen und interviewen können. Die Frage nach historischer Wahrheit eines Wunders stellt Religion an sich in Frage und kann in einer Debatte kein Ergebnis aufweisen.

Was Sánchez und alle darauffolgenden Schriften über das Guadalupe-Ereignis auszeichnet, ist eine patriotische Rhetorik. Sánchez führt erstmals die Evangelisierung Mexikos auf Maria und nicht auf die Missionare zurück. Guadalupe sei von Gott gesandt worden und habe den Spaniern bei der Eroberung beigestanden. Damit wird den Spaniern die Macht über das mexikanische Volk genommen. Gott selbst habe Mexiko durch Guadalupe evangelisiert und die Spanier hätten dies allein nicht schaffen können. Sánchez bezeichnet außerdem alle in Mexiko geborenen Menschen als Söhne Guadalupes, eine Ehre, die keinem Spanier innewohnen kann. Die Mexikaner werden von Sánchez auch als von Gott auserwähltes Volk beschrieben und Mexiko-Stadt als neues Jerusalem. Was Jesus für Israel sei, sei Guadalupe für Mexiko. Viele nachfolgende Autoren, Priester und Redner benutzten ähnliche Metaphern.

Diese Thesen bezeichnen das aufkommende mexikanische Nationalbewusstsein, was einen geistigen Wandel, beginnend im 17. Jahrhundert, beschreibt. In dieser Zeit lebten viele KreolInnen, Nachfahren von Spaniern, in Mexiko. Für sie stellte Spanien keine Heimat, sondern eine Fremdherrschaft dar. Auf amerikanischem Boden geboren, wendeten sie sich verstärkt ihrem Heimatland zu. Sie suchten ein Nationalgefühl, ein gemeinsames Bewusstsein und grenzten sich von den SpanierInnen ab. Zwar waren sie selbst als SpanierInnen geboren und genossen viele Vorteile gegenüber Indigenen und Mestizen, aber die obersten Ämter, wie das des Erzbischofs, des Vizekönigs oder des Gouverneurs, blieben ihnen verwehrt. In Spanien Geborene sollten absolute Loyalität gegenüber dem spanischen Königshaus sichern. Es entstand eine kreolische Oberschicht, die sich benachteiligt fühlte.

Viele Kreolen schlugen, wie Sánchez, den Weg der Geistlichkeit ein und machten den Großteil des Klerus aus. Diese Priester und Pfarrer der Städte und Dörfer hatten einen großen Einfluss auf eine breite, bildungsferne Bevölkerungsschicht von Mestizen und Indigenen. Auf der Suche nach einem eigenen Nationalbewusstsein in Abspaltung zu den spanischen Vorfahren schufen sie eine teilweise irreale Identität und begannen ihr Geburtsland Mexiko zu preisen. Aztekische Mythen wurden polemisch als „Antike Mexikos“ romantisiert und aztekische Krieger verehrt, manchmal sogar dem eigenen Stammbaum hinzugefügt. Die weiße kreolische Bevölkerung entdeckte die altmexikanische Hochkultur als ruhmvolle Antike ihrer Nationalgeschichte, womit eine Glorifizierung Altmexikos einsetzte. Auch verbreitete der kreolische Klerus die Guadalupe-Legende, in der ja Gott den Indigenen Juan Diego und nicht den spanischen Erzbischof ehrt. Anfang des 18. Jahrhunderts institutionalisierte sich die Guadalupe-Tradition und wurde durch den Vatikan anerkannt. Papst Benedikt XIV bestätigte die Jungfrau als Patronin des Landes und erkannte ihren Festtag am 12. Dezember an. Dies verlieh dem Guadalupe-Kult starken Auftrieb. Kapellen und Kirchen wurden erbaut und Bilder, in welchen Gott selbst die Guadalupe malte, wurden ausgestellt.

Zur Zeit der mexikanischen Unabhängigkeit, Anfang des 19. Jahrhunderts, konnten nach Macht strebende geistliche Kreolen die Rhetorik für sich nutzen. Wenn Guadalupe die „Indios“ ehrte und Mexiko nun eine direkte Verbindung zu Gott hatte, wurde die Herrschaft der Spanier obsolet. Ein autonomes geistliches Fundament war entstanden. Von hier war es ein kleiner Schritt zur politischen Instrumentalisierung Guadalupes als Schutzheilige der Unabhängigkeitskriege und Symbol eines durch religiösen Glauben vereinenden Nationalstolzes. Die indigene Tonantzin verwandelte sich endgültig in die mexikanische oder kreolische Maria. Guadalupe wurde zum Symbol des amerikanischen Patriotismus und des Aufstandes gegen die spanische Regierung. Die Kirche spielte eine große gesellschaftliche Rolle, da sie die gesamte heterogene Bevölkerung integrierte.

Die Priester beeinflussten in ihren Predigten das Denken und Handeln vieler Menschen und so kann die Kirche als eine Quelle des Unabhängigkeitskrieges angesehen werden. Der kreolische Priester Miguel Hidalgo y Costilla rief seine Gemeinde in Dolores, im heutigen Staat Guanajuato, im September 1810 zur Revolution auf und initiierte damit die erste Unabhängigkeitsphase. Das Bild der Guadalupe zierte die Fahne seiner Armee und mobilisierte damit die Menschen. Religiöses und Militärisches wurde eng miteinander verflochten, Priester wurden Offiziere. Hidalgo ernannte Guadalupe zum capitán general und sie wurde bei Besetzungen von Städten mit Zeremonien und Messen willkommen geheißen. Der Schlachtruf der Aufständischen ¡Viva la religión! ¡Viva nuestra Madre Santísima de Guadalupe! ¡Viva la América y muera el mal gobierno! (Es lebe die Religion! Es lebe unsere Heilige Mutter Guadelupe! Es lebe Amerika und es sterbe die schlechte (Kolonial-)Regierung!) verdeutlicht die Brücke zwischen Religion und Politik. Der Nachfolger Hidalgos, der Priester José Maria Morelos, forderte alle Aufständischen auf, das Emblem der Guadalupe zu tragen, während es die spanientreuen Royalisten symbolisch auf ihren Schuhsohle befestigten. Auch wenn ab Ende des 18. Jahrhunderts die Stimmen der Kritiker der Guadalupe-Legende laut wurden, die das Wunder negierten, verschmolz Guadalupe mit der mexikanischen Bevölkerung.

Obwohl alle kommenden Regierungen die Helden der Unabhängigkeit ehrten, herrschte im unabhängigen Staat vielleicht eine gewisse Angst vor einer wiederholten Massenmobilisierung durch idealistische Priester, die ganze Städte und Dörfer in ihren Predigten erreichen. Durch den mexikanischen Präsidenten Benito Juárez erfuhr das junge Mexiko seine erste grundlegende Reform, die vor allem die Trennung von Kirche und Staat durchsetzte und die Weichen für die auch heute noch stark laizistische Regierung legte. Mit der mexikanischen Revolution ab 1910 erlebte die Verbindung zwischen Patriotismus und Guadalupe aber noch einmal eine kurze Renaissance. Die rebellischen Armeen unter Emiliano Zapata und Pancho Villa kämpften unter der Fahne Guadalupes.

Mit dem Ende der mexikanischen Revolution und den Verfassunggebenden Versammlungen von 1916-1917 bekamen jedoch vor allem kirchenfeindliche Aktivisten die politischen Ämter. Der Katholizismus wurde aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen und der Einfluss auf das Erziehungswesen, die Wohlfahrt und die Wissenschaft bekämpft. Für die starke mexikanische Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) ist die Trennung von Kirche und Staat ein oberstes Anliegen. Dennoch sind fast 90 Prozent der MexikanerInnen katholischen Glaubens, der sonntägliche Gottesdienst ist vielerorts obligatorisch und religiöse Feste werden mit aufwendigen Prozessionen gefeiert. Viele glauben an den Schutz durch ihre Liebe Jungfrau von Guadalupe. Das Guadaluape-Ereignis wurde spätestens mit der Heiligsprechung Juan Diegos 2002 von oberster Stelle legitimiert, welcher übrigens der erste indigene Heilige war. Heute sieht man das Phänomen der Politisierung Guadalupes vor allem bei den Chicanos, den mexikanischen MigrantInnen in den Südstaaten der USA. Zum Festtag der Guadalupe finden sie sich in Straßenzügen zusammen und tragen Guadalupe-Abbilder ebenso wie mexikanische Flaggen als Symbole der gemeinsamen Identität. Auch heute noch schafft Guadalupe eine Einheit zwischen Menschen, die durch unterschiedlichste Vorfahren in Mexiko verwurzelt sind, und trägt zu einem kollektiven Bewusstsein bei.

  • 1. Eine Tilma ist ein Umhang aus Baumwolle, der von männlichen Indigenen der höheren Schichten getragen wurde. Die Unterschicht, so vermutlich auch Juan Diego, trug eine Tilma aus Magueyfasern, auch Ayate genannt.