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Zuflucht in einer unbekannten Welt

Manfred Eisners Roman „Cantata Bolivia“
Gert Eisenbürger

Mit dem jüngst erschienenen Roman „Cantata Bolivia“ hat Manfred Eisner den letzten Band seiner Trilogie um das Paar Clarissa und Heiko Keller aus dem fiktiven Ort Oldermoor im Süden Schleswig-Holsteins vorgelegt. Im vorangegangenen Buch „Von Crescendo bis Fortissimo“ (vgl. Besprechung in der ila 384), dessen Handlung in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts angesiedelt war, wurde über die ersten Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft berichtet und darüber, was diese für die Kellers und ihr Umfeld bedeuteten.

Diese Vorgeschichte geht folgendermaßen: Um seine berufliche Tätigkeit als Geschäftsführer einer Großbäckerei fortführen zu können, verlangten die Behörden von Heiko Keller die Vorlage eines „Ariernachweises“. Da sein aus Böhmen stammender Vater kurz nach der Geburt des Sohnes unter ungeklärten Umständen verschwunden war, konnte Heiko den nicht erbringen. Die Nationalsozialisten ihrerseits fanden aber auch keine Hinweise darauf, dass er kein „Arier“ gewesen war, weshalb ihm eine vorläufige Bescheinigung ausgestellt wurde.

Seine eigenen Nachforschungen über die Herkunft des Vaters brachten indessen zutage, dass dieser Jude gewesen war, er selbst nach der NS-Ideologie als „Halbjude“ galt. Mit der Besetzung der Tschechoslowakei durch Hitlerdeutschland im Jahr 1938 musste er damit rechnen, dass auch die deutschen Behörden über kurz oder lang seinen biographischen Hintergrund rekonstruieren würden.
Da somit das Damoklesschwert von Diskriminierung und Verfolgung über ihnen schwebte, entschieden sich die Kellers zur Emigration. Über Großbritannien kam zunächst Heiko nach Bolivien, Clarissa und die gemeinsamen Kinder konnten ihm einige Zeit später dorthin folgen.

Hier setzt der Roman „Cantata Bolivia“ ein, nämlich bei deren Überfahrt von Genua in die chilenische Hafenstadt Arica und der anschließenden mehrtägigen Zugfahrt nach La Paz.
In Bolivien fanden die Kellers eine Kultur und soziale Realität vor, die ihnen in jeder Hinsicht fremd war. Da der Autor Manfred Eisner – sicherlich zu Recht – davon ausging, dass das nicht nur für die deutschen Flüchtlinge im Jahre 1940 galt, sondern für viele seiner LeserInnen auch heute noch zutrifft, unterscheidet sich der letzte Band der Trilogie deutlich von den ersten beiden Büchern. „Leise Musik aus der Ferne“ und „Crescendo bis Fortissimo“ sind fiktionale Geschichten, auch wenn sie in einem realen zeitgeschichtlichen Kontext angesiedelt sind. Dagegen ist „Cantata Bolivia“ über weite Strecken ein dokumentarischer Roman, der die LeserInnen in das Bolivien der vierziger Jahre einführt, wichtige Persönlichkeiten und Institutionen des antifaschistischen Exils in diesem Land vorstellt und zudem einiges über die Historie des Andenstaates berichtet.
Ein literarisch durchaus schwieriges Unterfangen, denn schließlich ist ein Roman kein Sachbuch. In belletristischer Literatur kann die Darstellung historischer und sozialer Fakten, die sich nicht direkt aus der Handlung ergeben, schnell langweilig und aufgesetzt wirken. Dass die Kombination von Wissensvermittlung und literarischem Erzählen bei Manfred Eisner funktioniert, liegt daran, dass sich im Roman „Cantata Boliva“ die ProtagonistInnen in einer ähnlichen Situation befinden wie die LeserInnen. Beide müssen Bolivien erst einmal kennenlernen. Erstere, um die vielfältigen Herausforderungen dort zu meistern, letztere, um die Handlungen der Romanfiguren nachvollziehen zu können.

Um in ihrem Exilland einigermaßen zurechtzukommen, mussten die Flüchtlinge, die 1939/40 aus Europa dorthin kamen, schnell begreifen, wie sich die Beziehungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen und ethnischen Gruppen gestalten. So absolvieren die LeserInnen gemeinsam mit den Kellers und den anderen EmigrantInnen aus Deutschland, Österreich, Ungarn und Polen, deren Geschichte in dem Buch erzählt wird, sozusagen einen Crashkurs Bolivien.
Sie nehmen wahr, dass das Land in den 40er-Jahren de facto ein Apartheidstaat war, in dem die ethnischen Gruppen strikt getrennt waren, wobei die kleine weiße Oberschicht alle Macht in ihren Händen hielt, während die indigene Bevölkerungsmehrheit weitgehend rechtlos war. Erst die Revolution von 1952 brach diese Struktur erstmals etwas auf, indem sie die Indígenas, zumindest formal, zu gleichwertigen StaatsbürgerInnen machte. Dann brauchte es noch einmal mehr als 50 Jahre, bis sich eine Regierung ernsthaft daran macht, den rassistischen Charakter des bolivianischen Staates zu überwinden.
Schnell wurde den Neuankömmlingen klar, dass sie ganz andere Codes in den zwischenmenschlichen und ökonomischen Beziehungen oder auch im Verhältnis zu den Behörden lernen mussten, als diejenigen, die sie in Europa gewohnt waren. Vor allem erfuhren sie schmerzlich, was es heißt, fremd und nicht unbedingt erwünscht zu sein.

Um sich halbwegs zu integrieren und ökonomisch überleben zu können, mussten die europäischen Flüchtlinge erst einmal Spanisch lernen. Aber auch als sie das leidlich sprachen und verstanden, blieb ihnen die Welt der aymarasprachigen Bevölkerungsmehrheit weiterhin komplett verschlossen.

Für viele neu in ein Land kommende ImmigrantInnen sind oft eigene Landsleute, die vor ihnen dorthin ausgewandert waren, die ersten AnsprechpartnerInnen. Die neu Angekommenen erwarten von ihnen Tipps und Hilfestellungen, die das Einleben erleichtern. Für die eintreffenden Flüchtlinge aus Nazideutschland waren die bereits in Bolivien lebenden Deutschen dagegen in der Regel keine Hilfe, sympathisierte die deutsche Kolonie doch überwiegend mit Hitler. Nur ganz wenige verweigerten sich der NS-Ideologie. Im Roman begegnet uns einer von ihnen, der sich im bolivianischen Ableger der in Argentinien von sozialistischen Exilierten gegründeten Organisation „Das Andere Deutschland“ (DAD) engagierte.

Hilfe boten indessen jüdische Einrichtungen an, die ihrerseits von Glaubensbrüdern- und schwestern aus den USA großzügig unterstützt wurden. Da die deutsche Schule in La Paz völlig mit der NS-Ideologie gleichgeschaltet war (übrigens nicht gezwungenermaßen, sondern aus eigenem Antrieb!), findet Oliver, der Sohn der Kellers, Aufnahme in der Escuela Boliviano-Israelita, der jüdischen Schule, in der inzwischen zahlreiche Kinder von EmigrantInnen von LehrerInnen unterrichtet wurden, die ebenfalls aus Deutschland fliehen mussten.

Dabei nehmen die Kellers unter den Flüchtlingen in Bolivien eine Sonderrolle ein. Außer seinem Vater, den er nicht gekannt hat, gab es bei Heiko vor seiner Emigration keinerlei Verbindung zur jüdischen Gemeinschaft, bei Clarissa ebenso wenig, denn sie kam aus einer protestantischen Familie. Sie gehörten auch nicht zu der kleinen Gruppe politischer EmigrantInnen, die aus Nazideutschland beziehungsweise aus von der Wehrmacht besetzten Gebieten fliehen mussten, weil sie einer linken Organisation angehörten. Auch wenn sie das NS-Regime verabscheuten, fühlten sich die Kellers weiterhin als Deutsche, die gegenüber dem jüdischen Umfeld, in dem sie sich überwiegend bewegten, große Scham empfanden, je mehr über die Verbrechen des NS-Regimes bekannt wurde. Allerdings erfuhren sie seitens ihrer jüdischen Bekannten und der Einrichtungen der Gemeinde nie Ablehnung oder gar Hass. Die Kinder Lizzy und Oliver besuchten deren Kindergarten und Schule und engagierten sich bei den jüdischen PfadfinderInnen, bei denen sie FreundInnen und Halt fanden.

Bereits bei der Beschaffung der Einreisepapiere für Bolivien hatte Josef Rembowski, ein Jugendfreund aus Oldermoor, die Kellers unterstützt, wie wir aus dem vorherigen Roman wissen. Dieser hatte wegen seiner polnischen Abstammung bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Führung seiner Großbäckerei abgeben müssen. Er hatte sie seinem Geschäftsführer Heiko Keller übereignet, der ihn angemessen entschädigte.

Über Frankreich emigrierten Josef und Frauke Rembowski nach Polen. Durch den Verkaufserlös der Bäckerei und eine Erbschaft in Polen verfügten sie bei ihrer Ankunft in Polen über ein gewisses Startkapital, womit sie den Kauf einer Hacienda in den Yungas, einer 2000 Meter unterhalb von La Paz gelegenen fruchtbaren Gebirgsregion, finanzieren konnten. Außerdem konnten sie ein Haus in der Stadt erwerben und ein weiteres anmieten. In letzterem fanden sowohl die Kellers als auch weitere Ankömmlinge aus Europa eine erste Unterkunft. Auch auf der Hacienda bekamen mehrere Flüchtlinge Wohnung und Arbeit.

Nach einer schwierigen ersten Phase, in der die ankommenden Flüchtlinge auf Unterstützung angewiesen waren, konnten sich die meisten nach einiger Zeit eine Existenz in Bolivien aufbauen, meist in Form kleiner Handwerksbetriebe oder Geschäfte, in denen sie wiederum andere EmigrantInnen beschäftigten, in der damaligen Wirklichkeit wie im Roman.
Heiko fand zunächst Arbeit in einer Bäckerei, wo er den in die Jahre gekommenen Eigentümer bei der Geschäftsführung unterstützte. Später übernahm er den Betrieb auf Erbpachtbasis. Er erweiterte die Produktpalette um europäische Brotsorten, was ihm zahlreiche Kundschaft unter den EmigrantInnen sowie unter den MitarbeiterInnen europäischer Unternehmen und Botschaften sicherte.

Während einige schon aus den beiden vorherigen Romanen bekannte Personen wie die Kellers oder die Rembowskis oder auch einige neu Eingeführte fiktive Figuren sind (wobei einige reale Vorbilder haben mögen), begegnen uns diesmal auch historische Persönlichkeiten wie der Maler und Grafiker Walter Sanden, von dessen bolivianischen Farblithografien mehrere im Buch abgebildet sind, der Buchhändler und Verleger Werner Guttentag oder Erich Eisner, der Vater des Autors und Komponist der Cantata Bolivia für vier Solostimmen, Chor und Orchester, die dem Roman den Titel gab. Erich Eisner baute ab 1944/45 das Orquesta Sinfónica Nacional in La Paz auf und war bis zu seinem Tod im Jahr 1956 dessen Chefdirigent. Im Roman heißt er allerdings Erich Erck, das ist der Künstlername, den Erich Eisner in der Weimarer Republik benutzt hatte, während er in Bolivien unter seinem Geburtsnamen tätig war.

Ungewöhnlich für einen Roman, für die LeserInnen aber zweifellos interessant, sind die zahlreichen im Buch veröffentlichten Fotos aus den vierziger Jahren, die den oben erwähnten dokumentarischen Charakter des letzten Bandes der Trilogie unterstreichen.

Es gibt heute zahlreiche Menschen, die sich für Bolivien interessieren, es vielleicht schon einmal bereist oder im Rahmen eines Studiums, Praktikums oder Freiwilligeneinsatzes besucht haben. Die wenigsten von ihnen werden wissen, dass das damals ärmste Land Südamerikas 1939/40 Tausenden europäischen Juden, Jüdinnen und politischen AktivistInnen Zuflucht gewährte und sie vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Bolivien war eines der ganz wenigen Länder, das 1938, als der jüdische Massenexodus aus Europa einsetzte, seine Grenzen nicht schloss. Daran zu erinnern und zu erzählen, wie diese Flüchtlinge lebten und wie sie Land und Leute wahrnahmen, ist Manfred Eisner, der selbst 1940 als Fünfjähriger nach Bolivien kam und dort bis 1957 blieb, überzeugend gelungen. Der Roman sei allen, die Bolivien kennen oder es besuchen möchten, nachdrücklich ans Herz gelegt.