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Allende gehört nicht ins Museum

Über die immer noch aktuellen Auswirkungen des Putschs

Als sich vor zwei Jahren die Studierenden in Chile erhoben, wurde erstmals seit Ende der Diktatur das herrschende Wirtschafts- und Politikmodell massenhaft in Frage gestellt. Indem die Studierenden und SchülerInnen gegen die totale Kommerzialisierung des Bildungssystems protestierten, zerstörten sie den von der Rechten und der christlich-sozialdemokratischen Concertación gleichermaßen gepflegten Mythos, nur der Neoliberalismus garantiere Chile Freiheit und Wohlstand. Stattdessen sei es notwendig, das Erbe der Diktatur abzutragen und eine wirklich demokratische Gesellschaft aufzubauen. Francisco Figueroa war einer der wichtigsten Sprecher der Studierendenbewegung im Jahr 2011.

Francisco Figueroa

Dass eine Bewegung von Studierenden, die in einer Demokratie oder gegen Ende der Diktatur geboren wurden, fast 40 Jahre nach dem Militärputsch von 1973 so viel über diesen Putsch und seine Konsequenzen spricht, ist der beste Beweis dafür, wie präsent sein Erbe noch ist und wie weit entfernt wir davon sind, es zu überwinden. Deshalb ist es auch dringend notwendig, unsere Vergangenheit zu analysieren, um unsere Gegenwart neu zu interpretieren und eine andere Zukunft zu schaffen.

Diese Aufgabe besteht größtenteils darin, zwei große Fragestellungen zu entmythologisieren. Erstens versuchte das diktatorische Regime, die Linke nicht mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, wie es die offizielle Geschichtsschreibung behauptet, sondern mithilfe des Terrors ein bestimmtes Staats- und Gesellschaftsmodell durchzusetzen, an dessen Grundpfeilern bis heute nicht gerüttelt werden konnte. Zweitens gehört das Erbe des Projektes des linken Wahlbündnisses Unidad Popular und Salvador Allendes nicht in die Museen, sondern hat im Gegenteil einen moralischen und politischen Beitrag zu leisten.

Die gegenwärtigen Studierendenproteste spielen sich vor dem Hintergrund eines zunehmend konfliktgeladenen sozialen Klimas innerhalb der chilenischen Gesellschaft ab. Dieses Phänomen steht im Gegensatz zu zwei Jahrzehnten demokratischen Wandels, der sich durch die Etablierung der bestehenden Ordnung und die Zerschlagung der sozialen Bewegungen auszeichnet. Die Protestbewegung hat zwar längst noch nicht den Weg für tiefgreifende Veränderungen freigemacht, jedoch endgültig den Mythos abgeschafft, dass Chile, von einem mächtigen Neoliberalismus und einem lupenreinen politischen System geleitet, dem Fortschritt entgegeneile.

Auch wenn die Studierendenbewegung als bestorganisierte soziale Kraft die Proteste anführt, macht sie einer Unzufriedenheit Luft, die weit über das Bildungsproblem hinausgeht und verschiedene Dimensionen der bestehenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Ordnung umfasst. Die organisierten Studierenden beobachten eine wachsende Kommerzialisierung des Lebens, die sich für sie vor allem dadurch bemerkbar macht, dass die chilenische Bildung zunehmend zum Geschäft verkommt.

Währenddessen dreht sich die Spirale der Diskreditierung und Sinnentleerung der vorherrschenden Politik weiter, die die Fähigkeit verloren hat, die sozialen Forderungen zu verstehen und auf sie einzugehen. Die Entpolitisierung der Gesellschaft, die durch den Wandel angestoßen wurde, rächt sich letztendlich an den führenden politischen Kräften, die der Gesellschaft hinterherhinken, unfähig, sie zu leiten und nur damit beschäftigt, sie zu unterdrücken.

Wir befinden uns vor einem Repräsentationsproblem, das zwar noch nicht in eine Krise mündete, aber die tiefe Erschöpfung des „Übergangspaktes“ offenbart. Jenes Einvernehmen, mit dem die AnhängerInnen Pinochets und das Mitte-Links-Bündnis Concertación die Grenzen des demokratischen Überganges festlegten, basiert auf dem uneingeschränkten Respekt gegenüber zwei Prinzipien: der Regierungsfähigkeit, was nichts anderes als die soziale Einschränkung der Demokratie bedeutet, sowie der Subsidiarität, mittels derer soziale Rechte aufgehoben und durch eine gezielte Sozialpolitik ersetzt werden. Genau hier setzt die vernichtende Kritik der Studierendenproteste an, um der lang angestauten sozialen Unzufriedenheit über die Kommerzialisierung des Lebens und den wachsenden Autoritarismus Rechnung zu tragen.

In den vergangenen 20 Jahren wurde das soziale und politische Vermächtnis der Diktatur noch nie so sehr in Frage gestellt wie gegenwärtig. Falls irgendjemand in Chile am 11. September den Putsch feiern sollte, wird es mit Sicherheit die armseligste Jubiläumsfeier sein. Die Politik der Diktatur, die, gestern noch selbstverständlich, kein Gegenstand demokratischer Diskussion war und vom Parteiensystem geschützt wurde, ist noch nicht vollständig überwunden. Allerdings müssen ihre Förderer und Förderinnen sie heutzutage vor den Zweifeln der Öffentlichkeit in Schutz nehmen.

Indem die Studierenden den Grad der Kommerzialisierung der Lebensbedingungen der Mehrheit in Frage stellen und dem Prinzip der Subsidiarität das Prinzip der Universalität gegenüberstellen, fordern sie das gegenwärtige Staats- und Gesellschaftsmodell heraus. Gleichzeitig kämpft die Bewegung auch dafür, dass die bisher ausgeschlossenen politischen Positionen berücksichtigt werden. Somit fordert sie eine vollständigere Demokratie ein, die die Partizipation jener sozialen Interessen ermöglicht, die während des Übergangs ausgeschlossen waren.

Die weitreichenden Forderungen der Studierenden, die Sympathie, die diese in der breiten Bevölkerung erzeugt haben, und die erzielte politische Wirkung haben die Möglichkeit geschaffen, ein neues Zeitalter einzuleiten, was jedoch noch lange nicht sichergestellt ist. Gerade die bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Chile zeigen deutlich, dass die politische Unzufriedenheit durch die konservativen und technokratischen Gesetze der herrschenden Politik niedergeschlagen werden kann.

Wenn die Vergangenheit sich jedoch weigert abzutreten und die Zukunft noch nicht zum Vorschein kommt, reicht dann die soziale und politische Mobilisierung, um das Wesen des schwer lastenden Erbes der Diktatur zu überwinden? Alles deutet darauf hin, dass dem nicht so ist. Nur dann scheint es möglich, den schäbigen Zustand der Demokratie zu überwinden, die im Pakt mit dem Pinochetismus entstanden ist, wenn die Grundlage für eine neue soziale und politische Allianz gelegt wird.

Die Niederlage, die der Linken und der chilenischen Volksbewegung durch den Neoliberalismus zugefügt wurde, beschränkte sich längst nicht auf die gewalttätige Zerschlagung des politischen und bewaffneten Apparates der Linken. Sie durchtrennte die Nabelschnur, die sie mit dem Volk verband, zerstörte ihre Grundlage, veränderte Bewusstsein und Mentalitäten und führte zu einer Entpolitisierung.

Die Vertretung der Volksbelange weiterhin durch Handlung oder Unterlassung zu delegieren, kann nicht die Antwort auf die aktuelle politische Situation sein. Um die Herausforderung anzunehmen, das Erbe der Diktatur zu begraben und ein neues historisches Zeitalter einzuleiten, ist es unumgänglich, die chilenische Linke neu zu denken und neu zu gründen. Wir sind darin geübt zu bitten, zu fordern und zu mobilisieren, aber eine politische Kraft aufzubauen, ist eine echte Herausforderung.

Genau hier wird die Notwendigkeit deutlich, auf die Vergangenheit zurückzublicken; nicht nur, um das Erbe der Diktatur über ihre Exzesse und Oberflächlichkeit hinaus zu verstehen, sich ihm zu stellen und es zu überwinden, sondern auch um das zu retten, was die Erfahrung der Unidad Popular und das Projekt Salvador Allendes uns angesichts der Herausforderungen der Gegenwart zu sagen haben.

Wir, die neuen Generationen, können keinen kollektiven Veränderungswillen aufbauen und leiten, wenn wir das Projekt, das Salvador Allende anführte, nicht analysieren, sein Potenzial herausarbeiten und aktualisieren. Jene Erfahrung war samt ihren Erfolgen, Fehlern und Unzulänglichkeiten das fortgeschrittenste politische Werk des chilenischen Volkes und seiner Linken. Es erlangte sogar eine Vorbildfunktion für Kämpfe in anderen Breitengraden.

Dies setzt jedoch voraus, die Tendenz zu bekämpfen, Allende auf eine harmlose kulturelle Referenz zu reduzieren und jeglichen politischen Vermächtnisses zu berauben. Dieses Vorhaben wird von jenen vorangetrieben, die behaupten, dass die Geschichte der Vergangenheit angehört und unsere eingeschränkte und schwache Demokratie das höchste Projekt ist, nach dem das chilenische Volk streben kann. Nein. Die soziale Unzufriedenheit, die in den Kämpfen unterschiedlichster Art in den letzten Jahren zum Ausdruck gekommen ist, beweist das genaue Gegenteil.

Allende lebt nicht in seinen Statuen weiter, die in die Museen verbannt wurden. Er lebt in dem Versuch weiter, einen Sozialismus aufzubauen, der nach „Empanadas und Rotwein schmeckt“, in seiner Weigerung, sich den Dogmen seiner Zeit zu beugen, um einen eigenen Weg Chiles zum Sozialismus zu finden. Heute ist es an uns, seine Kreativität, seine Weitsichtigkeit zu retten.

Die Erinnerung an Allende ist nützlich, solange sie nicht von einer paralysierenden Nostalgie getragen wird, sondern von der gemeinschaftlichen Mühe, sein Erbe zu aktualisieren und eine neue Politik angesichts der gegenwärtigen Situation ins Leben zu rufen. Dieser historische Moment verlangt die gleiche Kreativität und Originalität. Allende lebt nicht in einer Wachsfigur weiter, sondern in der Fähigkeit der neuen Bewegungen zu verstehen, was es heute bedeutet, einen Weg zum Sozialismus einzuschlagen, der nach „Empanadas und Rotwein schmeckt“.

Die gängigen Interpretationen der Vorgänge im heutigen Chile setzen alles daran, unseren Kampf zu entpolitisieren. Sie versuchen, unsere Forderungen denen der Empörten in Spanien gleichzusetzen, uns in einen Topf mit einer Vielzahl von Kämpfen zu werfen, die sie auf einen vermeintlichen, mystischen „Zeitwandel“ zurückführen. Diese Kämpfe sind in der Tat alle gerecht, aber nicht gleich. Die sozialen Bewegungen, die Chile derzeit erschüttern, zeugen von der Notwendigkeit, eine soziale und politische Kraft aufzubauen, die über Concertación und die politische Rechte hinausgeht.

Angesichts dieser Herausforderung sollten wir nur auf die Vergangenheit zurückschauen, um sie zu entmystifizieren. Wir müssen das Wesen des Erbes der Diktatur verstehen, um es zu überwinden und das Wesentliche des Projektes zu retten, gegen das sie sich stellte, weil Allende nicht nur eine zwingende Referenz für eine Fahne oder eine Erinnerung ist, sondern vor allem für eine neue Politik.

Francisco Figueroa ist Journalist. 2011 war er Vizepräsident der Studierenden der Universidad de Chile. Er leitet die Stiftung Nodo XXI und ist Mitglied des Kollektivs Autonome Linke. Derzeit kandidiert er für das Parlament.

Übersetzung: Viola Campos