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Misstrauen, Rassismus und Angst

Jugendliche Gangs sind nicht nur in Lateinamerika ein Thema
Gert Eisenbürger

Das einige Kilometer südlich des Bonner Zentrums gelegene Bad Godesberg gehört zu den edelsten Wohngegenden der Stadt. Um die Jahrhundertwende war es ein mondänes Kurbad, wo sich Industrielle und Kaufleute aus dem Rheinland oder dem Ruhrgebiet schicke Villen als Altersruhesitz bauen ließen. Nach dem Aufstieg Bonns zur zeitweiligen Bundeshauptstadt siedelten sich hier Ministerialbeamte und diplomatische Vertretungen an. Letztere gaben Godesberg ein internationales Flair. Die zahlreichen Menschen aus allen Weltregionen, die nun dort residierten, kamen im Unterschied zu den MigrantInnen in anderen Städten nicht auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, sondern waren von den Regierungen ihrer Heimatländer entsandt und wurden in der Regel gut bezahlt. Dazu kamen als weitere Gruppe temporärer MigrantInnen BürgerInnen der arabischen Golfstaaten, die mit ihren Familien vorübergehend in Bad Godesberg lebten, um sich als gut zahlende PrivatpatientInnen medizinisch behandeln zu lassen.

Ende der neunziger Jahre zogen die meisten Ministerien und Botschaften nach Berlin. Kurzfristig wurde in Godesberg Wohnraum frei. Nicht unbedingt die Häuser und Wohnungen der oberen Ministerialbürokratie, denn die leistete sich häufig – zumindest vorübergehend – zwei Wohnsitze. Über die Woche eine kleine Bleibe in der preußischen Metropole, fürs Wochenende und die Familie das hübsche Domizil im Rheintal. Solche doppelte Haushaltsführung konnten sich indessen niedrige Bundesbedienstete, wie SekretärInnen oder MitarbeiterInnen der Logistik, nicht leisten. In deren einstigen Wohnungen brachten städtische Ämter dann teilweise Familien von AsylbewerberInnen oder AussiedlerInnen aus Osteuropa unter.

Plötzlich lebten in Godesberg neben den weiterhin präsenten arabischen MedizintouristInnen zunehmend Familien von Zuwanderern, die häufig von staatlichen Transferleistungen abhängig waren. Darauf war man dort nicht eingestellt, und viele BürgerInnen zeigten auch wenig Bereitschaft, dies zu ändern. Obwohl in Godesberg weniger MigrantInnen als in manchen anderen Bonner Vierteln leben, wurde es seit der Jahrtausendwende zu dem Stadtteil, in dem es die meisten Probleme im Zusammenleben gibt.

In der Lokalpresse häuften sich Berichte über Gewalt und Kriminalität, als deren Urheber Jugendliche mit Migrationshintergrund galten. Gangs wie die BadGos gingen gezielt auf Raubzüge, um von anderen Jugendlichen Handys, Klamotten oder Geld zu erbeuten. Ziel der Angriffe wurden insbesondere SchülerInnen von zwei Elite-Gymnasien. Im bildungsbürgerlich geprägten Bad Godesberg, wo man sich in den siebziger Jahren rühmte, zwei Theater, aber kein Kino zu haben, entstand eine Gangsta-Rap-Szene, die durch gewaltverherrlichende und sexistische Texte auffällt.

2008 beauftragte das Bonner Stadttheater die Kölner Journalistin Ingrid Müller-Münch1, zu den Konflikten im Stadtteil zu recherchieren und das Material für die Bühne aufzubereiten. So entstand „Zwei Welten – Protokolle aus einer Stadt im Wandel“, das im Kölner Emons Verlag 2009 als Buch erschien und gleichzeitig von Frank Heuel, Bonns engagiertestem Theaterregisseur, in den Kammerspielen Bad Godesberg für die Bühne inszeniert wurde.

Die Autorin hat mit 60 GodesbergerInnen gesprochen: jugendlichen Gangmitgliedern, SchülerInnen der Elitegymnasien, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, Polizei- und Justizbeamten, BürgerInnen, die gegen „Ausländer“ Stimmung machen und solchen, die sich für Integration und Ausgleich engagieren, einem Sprecher des Marokkanischen Kulturvereins, jungen MigrantInnen und Deutschen, die die Konflikte eher aus der Distanz beobachten, Rappern (nur Männer), einem Richter, einem Kommunalpolitiker, Geschäftsleuten... Aus den Interviews hat die Autorin jeweils zentrale Passagen verdichtet und diese ohne ihre Fragen und jegliche Kommentare niedergeschrieben. So entstand eine aufschlussreiche Sammlung von Statements, in denen AkteurInnen und Betroffene ihre Sicht der Konflikte darlegen.

Exemplarisch wird in den Aussagen deutlich, warum gerade in Bad Godesberg die sozialen und ethnischen Widersprüche so stark zu Tage treten. Nirgendwo sonst in Bonn liegen die Lebensbereiche der Gutsituierten und der Armen so eng beieinander wie dort. Auf der einen Seite das (große) Villenviertel mit seinen imposanten Bauwerken aus dem frühen 20. Jahrhundert und nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt die Bonner Straße mit ihren Billigläden, Handyshops, von MigrantInnen betriebenen Einzelhandelsgeschäften und Discountern, wo sich die weniger Privilegierten bewegen. Dazwischen das Kinopolis, eines jener Multiplex-Kinos mit vielen Sälen, wo ein privater Sicherheitsdienst dafür sorgt, dass niemand Zutritt hat, der nicht bezahlen und konsumieren kann.

Unweit des Zentrums die zwei elitären Privatgymnasien, eines von Jesuiten geleitet, die zu den angesehensten Schulen in Deutschland gehören und deren SchülerInnen sich teilweise bereits im jugendlichen Alter als Teil der gesellschaftlichen Elite betrachten. Zudem verfügen gar nicht so wenige über erhebliches Taschengeld, mit dem sie sich Statussymbole wie teure Markenklamotten, die neuesten Smartphones oder Gelage in den angesagten Clubs leisten können. Ganz in der Nähe dieser Gymnasien liegen die Treffpunkte der Kids aus den Wohnblocks. Deren Eltern üben häufig niedrig bewertete und bezahlte Tätigkeiten wie Putzen, Hilfsarbeiten und Kurierdienste aus oder leben von Hartz IV. Viele dieser Jugendlichen schaffen wegen unzureichender Sprachkenntnisse und fehlender Motivation nicht einmal den Hauptschulabschluss, haben anders als die GymnasiastInnen kaum Perspektiven, einen auch nur einigermaßen gut bezahlten Job zu finden. Zudem sind die Freizeitangebote, die sich weniger Begüterte leisten können, begrenzt. Es gibt einige Jugendtreffs und -zentren, aber deren Angebote werden in Zeiten systematisch ausgetrockneter Kommunalfinanzen eher ab- als ausgebaut.

Zu dieser Konzentration extremer sozialer Unterschiede auf kleinstem Raum kommt bei weiten Teilen der bürgerlichen Bevölkerung eine oft unverhohlene Ablehnung der ArmutsmigrantInnen. Mit den DiplomatInnen in der Nachbarschaft konnte man sich schmücken, die heutigen ZuwandererInnen möchte man am liebsten weg haben.

Es ist das gleiche Phänomen wie in Lateinamerika, wo die Mittel- und Oberschichten häufig mit einer Mischung aus Verachtung, Misstrauen und letztlich auch Angst auf die Armutsbevölkerung blicken. Im Zentrum der Ängste stehen hüben und drüben die jungen dunkelhäutigen Männer, vor deren Wut man sich fürchtet. Deren Aussagen in „Zwei Welten“ zeigen, dass sie genau das spüren und sich dadurch in ihrem Handeln bestärkt fühlen. Ihnen ist klar, dass sie im Vergleich zu den GymnasiastInnen miserable Zukunftsaussichten haben, aber sie merken, dass viele sie fürchten, besonders wenn sie zu mehreren sind. Und wenn man bei Überfällen dann noch begehrte Statussymbole wie Handys, Taschen oder Gürtel einer sündhaft teuren Edelmarke klauen und diese anschließend zu Geld machen kann, ist klar, wofür sich viele dieser Kids entscheiden. Die Sozialstunden oder ein paar Wochen Jugendarrest, die ihnen drohen, wenn sie gefasst werden, beeindrucken sie nicht. Oftmals erhöht eine Haftstrafe das Ansehen in den Gangs und der Szene.

Ebenso schlicht wie das Weltbild der jugendlichen Gang-Mitglieder, die Deutsche in drei Kategorien einteilen (Nazis, Opfer und solche, die auch Freunde sein könnten) präsentiert sich auch die Sicht mancher der zu Wort kommenden Gymnasiasten. Diese ist geprägt von Ignoranz, Überheblichkeit, Rassismus und einer teilweise unerträglichen Arroganz. Wenn so ein Schnösel etwa erklärt, dass es Spaß mache, sich für 250 Euro Mindestverzehr einen Tisch im VIP-Bereich eines Clubs zu reservieren, weil man dann oberhalb der Tanzfläche sitze und sein Bier auf die Tanzenden schütten könne, kann man den drei Pädagogen nur beipflichten, die im Buch erklären, in Godesberg existiere sowohl Armuts- als auch Wohlstandsverwahrlosung.

Am spannendsten fand ich die Aussagen derer, die in gewisser Weise zwischen den Stühlen sitzen, etwa Gymnasiasten mit iranischen oder türkischen Wurzeln. Sie wissen um den latenten und offenen Rassismus der bundesdeutschen und speziell Godesberger Gesellschaft, reagieren darauf aber nicht mit Wut und Gewalt, sondern versuchen, durch Leistung zu überzeugen. Kinder von im Iran oder Kurdistan verfolgten Intellektuellen, die es trotz anfänglicher Widersprüche geschafft haben, sich hier zu etablieren, leiden natürlich auch unter dem Rassismus, können sich aber mitunter darüber lustig machen, wie ein junger Iraner über das Gesicht seiner Klassenlehrerin in der Grundschule, als er ihr erklärte, er müsse früher gehen, weil er zur Promotionsfeier seines Vaters wolle. Die gute Frau konnte es nicht glauben, dass ein Vater eines orientalischen Schülers einen höheren Bildungsabschluss erworben hatte als sie.

Wesentlich differenzierter als die Aussagen der Jungs sind durchweg die Wahrnehmungen der Mädchen und Frauen, egal ob sie aus einem bürgerlichen und sozial deklassierten Umfeld kommen. Sie sind in den seltensten Fällen an den Konflikten beteiligt, sondern ärgern sich über das Dominanzverhalten der Männer in ihren eigenen Gruppen. Viele sind aber nicht länger bereit, das hinzunehmen, und versuchen, ihre eigenen Wege zu finden.

Bei den AkteurInnen, die sich staatlicherseits mit den Problemen auseinandersetzen müssen und sie lösen bzw. entschärfen sollen, ist dagegen viel Hilflosigkeit zu spüren, egal ob es sich um SozialarbeiterInnen oder Polizeibeamte handelt. Es gibt keine Patentrezepte und einfachen Lösungen, erst recht keine, die sie mit ihren jeweils beschränkten Einflussbereichen und
-möglichkeiten realisieren könnten, denn an den sozialen Gegensätzen im Stadtteil können sie nichts ändern.
So bleibt die Sicherheit und vor allem das subjektive Sicherheitsempfinden in Bad Godesberg prekär, auch wenn man davon als BesucherIn auf den ersten Blick und tagsüber kaum etwas mitbekommt.

Sehr viel zugespitzter als soziologische Studien dies vermocht hätten, hat Ingrid Müller-Münch in dem Theaterprojekt herausgearbeitet, wo die Probleme liegen, und aufgezeigt oder zumindest angedeutet, wie es dazu kam. Dass das Ganze ein Auftragswerk des Bonner Stadttheaters ist, zeigt, dass dort einige Leute verstanden haben, dass öffentliche Bühnen zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung und Diskussion in der Stadt anregen sollen. Die Vorstellungen von „Zwei Welten“ waren durchgängig gut besucht und brachten viele Leute in die Kammerspiele, die sich dorthin normalerweise nicht verirren. So kamen auch viele junge Akteure der sozialen Konflikte. In den anschließenden Publikumsgesprächen ging es häufig richtig zur Sache. Als „Zwei Welten“ lief, wurde in Godesberg nicht nur von Kulturbeflissenen über das Stück diskutiert – während in den Feuilletonspalten periodisch beklagt wird, im deutschsprachigen Theater fehlten die politischen Themen.

  • 1. Älteren AktivistInnen der Solidaritätsbewegung ist Ingrid Müller-Münch vielleicht noch als Sprecherin des Haiti-Informationsbüros bekannt, in dem sich Anfang der achtziger Jahre HaitianerInnen und Deutsche zusammengeschlossen hatten, um das Schweigen über die Verbrechen der Duvalier-Diktatur zu beenden.