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Das betretene Schweigen der Handys

In Jennifer Clements Roman wird das Drama Mexikos zur Soap Opera
Gaby Küppers

Als Jennifer Clement die Arbeit an ihrem 2014 erschienenen Roman abschloss, konnte sie nicht ahnen, dass ihre Geschichte ausgerechnet dort ihren Ausgang nimmt, wo sich am 26. September desselben Jahres ein welterschütterndes Drama abspielte. Im Bundesstaat Guerrero nämlich wurden an dem Tag sechs Menschen ermordet und 43 Studierende der Landuniversität Ayotzinapa entführt und vermutlich ermordet.
Die in den USA geborene ehemalige Präsidentin des mexikanischen PEN wusste natürlich, dass Guerrero ein heißes Pflaster ist und zeichnet es auf eine Weise, die Schuldzuweisungen eindeutig austeilt und Vorurteile gegenüber Mexiko auf den Punkt bringt. Unfreiwillig allerdings.

Die Ich-Erzählerin Ladydi wächst in ärmlichsten Verhältnissen auf einem Berg in der Nähe von Chilpancingo auf. Mit dem nur fern von Lateinamerika ungewöhnlich klingenden, in den 80ern aufgekommenen Vornamen – bei der Schreibung Lady Di geht manchem/r sicher ein Licht auf – wollte die Mutter auf das Leid aufmerksam machen, das ihr Ehemann ihr bereitete, seines Zeichens Barkeeper in Acapulco, dem einstigen Nobelbadeort Guerreros, und natürlich Frauenheld. Dieser setzt sich irgendwann in die USA ab, was offenbar einfacher ist, als die illegalen MigrantInnen behaupten. Die Mutter verschmiert der Tochter das Gesicht mit Kohle, um sie hässlich zu machen, oder steckt sie wie alle ihresgleichen in ein extra gegrabenes Erdloch, wenn unmittelbar Gefahr in Gestalt von Drogenhändlern in Verzug ist, die die schönsten Mädchen der Gegend zu klauen pflegen.

So auch eines Tages. Die Vögel und Insekten verstummen vorausahnend, als ein SUV heranrauscht und schlafwandlerisch sicher genau über dem Erdloch zum Stehen kommt, in das Ladydi verschwunden ist. Er hätte ja auch reinfahren können. Nun kann Ladydi beobachten, wie die sonst eher versoffene Mutter die Drogenhändler mit der Knarre im Anschlag heroisch in die Schranken weist. Also ziehen sie ab und holen sich in einer anderen Hütte Paula, das schönste Mädchen vom Berg, das nicht rechtzeitig in das für sie gegrabene Erdloch springen konnte. Alle sind erschüttert, vermuten ihre baldige Ermordung, selbst die sonst munter klingelnden Handys in Mikes Hosentaschen schweigen.

Irgendwann taucht Paula völlig verstört und stumm wieder auf. Ihre Mutter muss sie mit der Flasche füttern, aber Ladydi kann der schwer traumatisierten und gefühllos auf ameisenübersätem Grund hockenden Paula eine klar strukturierte Reportage über ihr Leben bei den Drogenhändlern entlocken, wo sie die Gespielin des Chefs war. Nach dieser Analyse macht sich Paulas Mutter mit ihr von dannen und ward nicht mehr gesehen, ebenso wenig wie Ruth, eines von 40 Müllbabys, die eine US-Amerikanerin seit 30 Jahren rettet. Ruth machte vor 15 Jahren einen Schönheitssalon auf (der Roman ist bei chronologischen Angaben durchaus großzügig und das Lektorat schludrig).

Nach abgeschlossenem Schuljahr ist es an der Zeit, dass Ladydi eine Lohnarbeit aufnimmt. Mike hilft weiter. Er weiß, wer in Acapulco eine Hausangestellte sucht. Mike ist der Bruder von Ladydis gerade erst als solcher erkannten Halbschwester Maria, die mit einer Hasenscharte zur Welt kam als Strafe dafür, dass sie das Produkt einer Liaison ihres Vaters mit Nachbarin Concha ist. Mike, kahlrasiert, mit Lederbändern am Arm, dealt, das weiß jeder. Ladydi steigt in Mikes Auto Richtung Badeort und bleibt dort sitzen, während Mike bei einem Abstecher etwas erledigt, was mit Blut, einem Knall und einem Plastikpäckchen zu tun hat, das er Ladydi auf der Weiterfahrt zur Aufbewahrung anvertraut. Vor einer Villa in Acapulco setzt Mike Ladydi ab. Die Besitzer sind übers Wochenende verreist, aber eine alte Hausangestellte lässt das Mädchen ein. Bald verliebt sich Ladydi in den Gärtner, der eigentlich ein Polizistenmörder ist, den der Hausherr versteckt. Nach einer Woche sind die Vorräte von den dreien weitgehend aufgebraucht und es gibt nur noch Tortillas mit Kaviar und scharfer Soße. Da überrascht die alte Hausangestellte mit der Nachricht, sie habe soeben erfahren, dass die Besitzer vor Monaten (!) bei einem Autounfall ums Leben kamen. Nun haben die drei die Villa für sich, verlassen das Haus nicht mehr und essen vermutlich für die nächsten sechs Monate Tortillas mit dem restlichen Kaviar, bis dass Polizeibeamte höflich, aber bestimmt an der Tür klingeln. Der Mörder-Gärtner springt aus dem Hinterfenster; Ladydi wird als Besitzerin eines unter ihrer Matratze schnell gefundenen Päckchens Heroin und potentielle Mörderin eines Drogenbosses nebst seiner Tochter verhaftet; die Polizisten benehmen sich manierlich bis auf die Tatsache, dass sie die Hausangestellte mit der Frage erschießen, ob die alte Dame kugelsicher sei.

Ladydi wird im Hubschrauber in das Santa-Marta-Gefängnis im Süden von Mexico-Stadt geflogen, „der größte Schönheitssalon der Welt. Der bittere Zitrusgeruch von Haarfärbemitel, Haarspray und Nagellack durchdrang sämtliche Räume und Gänge“ (S. 163). Na dann! Ladydi teilt sich die Zelle mit der fürsorglichen Guatemaltekin Luna. Warum sie einsitzt, verrät sie nicht, jedenfalls nicht, weil sie ihre beiden Kinder umgebracht hat, was Ladydi intuitiv errät. Auf ihrer Fahrt Richtung USA ist sie vom Migrantenzug La Bestia gefallen und hat dabei einen Arm verloren. Luna hat sich noch nirgendwo so wohl gefühlt wie hier und will lieber im Gefängnis bleiben, rät Ladydi aber, ihre Mutter zu kontaktieren, damit sie die noch Minderjährige vor ihrem 18. Lebensjahr aus dem Gefängnis hole. Bevor die Mutter eben dieses tut, erfährt Ladydi von ihrer Mitgefangenen Aurora, dass diese wie auch Paula bei dem Drogenhändler McClane gelebt hatte. Paula hatte ein Kind von McClane, und wie es so kommt, war das Kind mit seinem Vater in einem Haus an der Landstraße nach Acapulco, als Mike mit Ladydi vorbeikam, beide erschoss und Ladydi ein Päckchen Heroin in den Schoß warf. Dass McClane der Hausherr war, bei dem sich Ladydi in Acapulco verdingen wollte, will man dann schon gar nicht mehr lesen. Es reicht, dass Ladydi das Gefängnis verlässt, nachdem ihre Mutter in der Verwaltung einigen „Papierkram“ erledigt hat. Auf der letzten Seite des Romans sitzt sie mit Mutter und Maria im Taxi zum Busbahnhof, von wo aus sie in die USA fahren. Maria ist von ihrer Hasenscharte per Operation guter Ärzte befreit und auch Ladydis Mutter nicht mehr dafür böse, dass sie sie als Ergebnis des Seitensprungs ihres Mannes aus Wut irgendwann angeschossen hatte. Und um das Happy End abzurunden, verkündet Ladydi zu guter Letzt: sie ist schwanger.

Wir rekapitulieren: alle Gewalt geht in Mexiko von den Drogenhändlern aus. Diese klauen zwar Frauen, aber bringen sie offenbar nicht unbedingt um. Die Staatsgewalt bekämpft die Drogenbanden entschlossen und ist selbst integer, schlimmstenfalls überfordert, wenn die Armee Pestizide am falschen Ort statt auf Mohnfeldern versprüht, um den Repressalien der Drogenhändler zu entgehen; wenn Ladydi nach Erledigung einigen Papierkrams als unschuldige Minderjährige das Gefängnis verlassen kann, oder wenn Lehrer auf dem Lande fehlen und die wenigen Freiwilligen aus der Stadt die an sich guten Lehrpläne nicht erfüllen.
Das Drama von Ayotzinapa hat in den letzten Monaten vor internationaler Öffentlichkeit anderes zu Tage gefördert, angefangen von den im Roman unerwähnten Landuniversitäten selbst, die den Behörden als Hort der Aufmüpfigkeit ein Dorn im Auge sind und bekämpft werden. Dass Polizisten und Soldaten den Rechtsstaat verteidigen, lässt sich so in Guerrero auch nicht behaupten. Ebenso wenig, dass wer will in den USA Geld verdienen kann. Dass vermisste Frauen zurückkehren und nicht massenhaft Opfer von Feminicidios werden, ist zu schön, um wahr zu sein. Und von einem Schönheitssalon namens Frauengefängnis weiß man sonst auch nichts.

Ein Roman, der dies verkündet, wurde aber soeben in 30 Ländern veröffentlicht, besagt der Klappentext. Der mexikanischen Regierung ist das sicher nicht unrecht, bestätigt er doch die offizielle Geschichte von der bösen Drogenmacht im guten Staat. Im mexikanischen PEN wird diese Version offenbar ebenfalls vertreten. Das ist bedenklich.